Kunst | Nummer 493/494 - Juli/August 2015

Graffiti in Zeiten der Legalität

Bogotás tolerante Stadtpolitik eröffnete Streetart-Künstler*innen aus aller Welt neue Möglichkeiten

Die kolumbianische Hauptstadt Bogotá gilt aktuell als eines der weltweiten Zentren für Graffiti und Streetart. Die strategisch günstige Lage und eine tolerante Politik gegenüber Straßenkunst haben die Stadt in den letzten Jahren in ein regelrechtes Graffiti-Mekka verwandelt, in dem Graffiti-Künstler*innen aus aller Welt aufeinander treffen. Ganze Straßenzüge wurden, auf Kosten der Stadt, in urbane Galerien verwandelt. Gleichzeitig entstehen neue Kunstkollektive, die mit der traditionellen Vergänglichkeit von Streetart spielen und neue Kunstkonzepte entwerfen.

Madlen Haarbach

Bogotá im August 2011. Der junge Graffiti-Künstler Diego Felipe Becerra ist gerade dabei, sein Emblem Felix the Cat auf eine Hauswand im Norden der Stadt zu sprayen, als sich ihm zwei Polizisten nähern. Panisch ergreift er die Flucht. Ein fataler Fehler. Mit zwei Kugeln im Rücken verstirbt der 16jährige noch am Tatort. Der darauf folgende Gerichtsprozess hätte das Ende der gerade erblühenden Streetart-Szene Bogotás bedeuten können. Während die Polizisten zunächst behaupteten, der Schüler hätte zuerst auf sie gefeuert, entwickelte sich ein Proteststurm gegen die Kriminalisierung der zu diesem Zeitpunkt bereits sehr aktiven Streetart-Szene und gegen die Praktiken der Polizei. Im Zuge der Proteste wurden so nicht nur die beiden Polizisten verurteilt. Auch die Stadtverwaltung unter dem linken Bürgermeister Gustavo Petro sah sich gezwungen, ihre Politik zu ändern – so trat im Februar 2012 ein Gesetz in Kraft, wonach „Graffiti als Form künstlerischer und artistischer Ausdrucksweise“ anzusehen und zu fördern sei. Außerdem stellte die Stadt unzählige Gebäude zur freien Bemalung zur Verfügung und begann, Konzessionen für die Bemalung ganzer Straßenzüge zu vergeben. So wurde ein regelrechter Graffiti-Boom ausgelöst, der Künstler*innen aus aller Welt in die kolumbianische Hauptstadt lockte.

Mitte der 1990er Jahre entstand in Bogotá eine rege Graffiti-Szene. Nachdem die Anfänge vor allem vom New Yorker Stil beeinflusst waren und die Künstler*innen sich vorwiegend auf Tags und Buchstaben bzw. Wörter konzentrierten, begannen sie schon bald, eigene Stile zu entwickeln. „Ab einem bestimmten Punkt fingen die Sprayer an, mehr mit nationalen Motiven zu experimentieren. Die Buchstaben begannen, sich mit dem Stil der indigenen Piktogramme und anderen Designrichtungen etwa aus Videospielen zu vermischen“, berichtet der Grafitero Nice Naranja, „Irgendwann fingen die Leute auch an, Kunst und Design zu studieren – was natürlich einen großen Einfluss auf die Qualität der Graffiti hatte.“ Gleichzeitig begannen die Künstler*innen sich zu professionalisieren. Aus der noch relativ kleinen Bewegung entsprangen zum Beispiel Grafikdesigner*innen, die Graffiti auch zur Vermarktung ihrer Produkte nutzten. Auch nationale Unternehmen erkannten zunehmend das Potential der neuen Kunsttendenzen. So ließ beispielsweise die 2002 gegründete Privatbrauerei Bogotá Beer Company ihre gesamte Design- und Marketingkampagne in den Händen erfahrener Grafiter@s. Künstler*innen wie die Schmuckdesignerin Lik Me nutzen Streetart , um ihre Produkte zu vermarkten und auf sich aufmerksam zu machen.

Mit der allmählichen Änderung der Sicherheitslage Anfang der 2000er Jahre begann auch der Austausch zwischen nationalen und internationalen Graffiti-Künstler*innen anzuwachsen. Kollektive wie die A.P.C. (Animal Power Culture) fingen an, international zu agieren – aus dem einst rein kolumbianischen Graffiti-Kollektiv, gegründet Ende der 1990er Jahre von dem kolumbianisch-mexikanischen Künstler StinkFish, wurde eine internationale Gruppierung mit mittlerweile über 50 Mitgliedern auf verschiedenen Kontinenten. Die Internationalisierung führte natürlich zu weiteren Stilmischungen: „Bogotá entwickelte sich irgendwie automatisch zu einem der Zentren der internationalen Graffiti-Szene. Alle Künstler, die von Nord- nach Südamerika und umgedreht reisen, kommen automatisch hier vorbei. Auch für europäische und asiatische Künstler ist Bogotá ein idealer Ausgangspunkt für Projektreisen, alleine schon wegen der guten Flugverbindungen. Und natürlich lassen alle Künstler einige Werke hier“, fährt Nice Naranja fort. Viele internationale Künstler*innen bleiben auch einfach hängen – wie der australische Grafitero CRISP, der seit 2009 in Bogotá lebt und mittlerweile geführte Streetart-Touren durch die Stadt anbietet: „Kolumbien bietet einfach großartige Inspiration für Künstler. Das Essen, die Natur, die vielfältigen Kulturen, die alle in dem großen Melting-Pot Bogotá aufeinander treffen. Dazu kommen die internationalen Einflüsse und die (mittlerweile) sehr tolerante Kunstpolitik der Stadt. All das macht die Kunstszene in Bogotá einfach weltweit einzigartig und hat dafür gesorgt, dass Graffiti hier seit 2001 förmlich explodiert ist“, berichtet er auf einer seiner Touren.

Der wahre Boom der Graffiti-Szene begann mit der Ermordung von Diego Felipe Becerra. Nach seinem Tod begannen Street-Artists die gesamte Stadt mit Protestgraffiti zu bedecken: „Der Tod von Becerra war ein wichtiger Wendepunkt innerhalb der Szene in Bogotá“, betonte DJ Lu regelmäßig in Interviews. Berühmt für seine Piktogramme und Stencils, die Obdachlose porträtieren und die alltägliche Gewalt anprangern, ist DJ Lu einer der bekanntesten Akteure innerhalb der politischen Graffiti-Szene Bogotás. Als Teil des Kollektivs Bogotá Streetart, zu dem unter anderem auch das international agierende Polit-Punk-Graffitiduo Toxicómano sowie Lesivo gehören, schmückt sein Emblem Juegasiempre (spiele immer) mittlerweile auch viele Auftragsarbeiten innerhalb der Stadt.

Teil der neuen toleranten Stadtpolitik ab 2012 war neben der weitestgehenden Akzeptanz von Straßenkunst, von der hauptsächlich Statuen und öffentliche Gebäude ausgenommen sind, auch die großflächige Ausschreibung von Konzessionsarbeiten. Wohl bekanntestes Beispiel ist die Straße Calle 26, die vom Flughafen El Dorado ins historische Stadtzentrum führt. Zum 475. Gründungstag Bogotás im Jahr 2013 schrieb die Stadtverwaltung das Projekt „Corredor de la Memoria“ (Korridor des Gedenkens) aus, bei dem fünf Kollektive (darunter die A.P.C. und Bogotá Streetart) mit internationaler Unterstützung die gesamte Straße in Farbe tauchten. Die vorwiegend politisch orientierten Arbeiten, die an einschneidende historische Ereignisse der Landesgeschichte, wie den Massenmord an Mitgliedern der linken Partei Patriotische Union (UP) Ende der 1980er oder die Ermordung des beliebten Comedians und Aktivisten Jaime Garzón 1998 erinnern, sind touristische Sehenswürdigkeit und Mahnmal in einem.

Diese und andere Projekte, wie das von der Verwaltung des als alternativ geltenden Stadtteiles Chapinero ausgerufene Projekt „Lourdes – Corredor de la Cultura“ (Lourdes – Korridor der Kultur) haben verschiedenartige Konsequenzen. Die farbliche Verschönerung der Stadt führte unter anderem zu einem neuen Tourismusboom. Neben der Graffiti-Tour des Sprayers CRISP haben mittlerweile fast alle Tourismusanbieter Streetart-Touren als festen Bestandteil ihres Programmes. Sprayer*innen aus aller Welt reisen bewusst an, um ihre Embleme in der Stadt zu hinterlassen und die Gelegenheit zu nutzen, legal bei Tageslicht großflächige Wände zu gestalten. So soll selbst der Sänger Justin Bieber 2013 nach einem Konzert in Bogotá die Gelegenheit genutzt haben, um unter Polizeischutz Tags an mehreren Wänden zu hinterlassen. Doch die tolerante Politik hat auch Schattenseiten. Während die Graffiti lange Jahre auf Grund knapper Ressourcen improvisiert werden mussten, werden nun spezielle Projekte mit enormen Geldzuwendungen gefördert. So haben die hohen Preise von Sprayfarben den Stil vieler Grafiter@s über die Jahre hinweg deutlich beeinflusst und zu kreativen Innovationen geführt – statt mit Aerosol fingen sie an, mit Acrylfarben und Vinyl zu experimentieren, Buchstaben mit billiger Baumarktfarbe zu hinterlassen und Techniken wie Scratching oder Keramik in ihre Arbeiten einfließen zu lassen. Auch die Inhalte der Graffiti und Murale werden bei Konzessionsarbeiten nicht unwesentlich beeinflusst. Nach wie vor dominieren politische Motive, die den fünfzigjährigen Konflikt und die im Zuge dessen begangenen Verbrechen anklagen. Im Zuge der Stadtpolitik der Bogotá Humana (menschliches Bogotá) und der andauernden Friedensverhandlungen sind solche Motive jedoch auch erwünscht – als Teil der kollektiven Erinnerung und zur Unterstützung des Friedensprozesses. Auch Kritik an multinationalen Unternehmen, den USA und vorherigen Präsidenten – vor allem Álvaro Uribe Vélez – sind häufige Motive, ebenso wie Murales, die verstorbenen Größen der kolumbianischen Kultur gewidmet sind. Kritik an aktuellen politischen Tendenzen und der Stadtpolitik sucht man meist vergebens – was jedoch teilweise auch der verbreiteten Dankbarkeit der Kulturszene gegenüber der Regierung Gustavo Petros zuzuschreiben ist.
Ein wesentlicher Faktor ist allerdings auch die Erklärung ganzer Wände zu Kulturdenkmälern. Während Graffiti und Streetart generell stark von einer gewissen Vergänglichkeit und Illegalität dominiert werden, untergräbt die Konzessionalisierung und Legalität in gewisser Weise den Reiz: „Das ist das ewige Paradox von Streetart. Dass dir jemand sagt, wo du malen sollst, untergräbt den Geist von Graffiti“, betont DJ Lu. Auch Nice Naranja sieht in gewisser Weise den Reiz der Straßenkunst bedroht: „Sagen wir, ich bemale eine Wand und die wird dann niedergerissen. Oder dem Nächsten gefällt das Motiv nicht und er malt es über. Die Straße ist stets feindselig gegenüber der Farbe, und genau das ist auch das Interessante. Das heißt, man will nicht, dass eine Arbeit für die nächsten hundert Jahre konserviert wird. Es reicht, wenn das Motiv zwei Tage erhalten bleibt und es zehn Leute sehen.“

In gewisser Weise fördert und bedroht die Kommerzialisierung von Graffiti also die Kreativität der Künstler*innen. Während Grafiter@s wie StinkFish mittlerweile ausschließlich von ihrer Kunst leben können, bedroht die Gentrifizierung vor allem des historischen Stadtzentrums Bogotás, La Candelaria, gleichzeitig die entstandene Vielfalt. Während Besucher*innen und auch Künstler*innen sich an der Größe und Qualität der Arbeiten erfreuen, die legal bei Tageslicht und oft unter Polizeischutz entstanden sind, sehen unbekanntere Grafiter@s kaum noch Möglichkeiten, in der Candelaria zu arbeiten. Natürlich spielt es eine Rolle für die Qualität einer Arbeit, ob an einem Mural entspannt während des Tages gearbeitet werden kann oder ob ein halbfertiges Mural am nächsten Tag beendet werden kann, ohne Sorge, dass es in der Nacht übergemalt oder entfernt werden könnte. Doch Nice Naranja berichtet auch von einem gewissen Kampf um bereits als quasi Eigentum angesehene Wände: „Neulich wollten wir in der Candelaria eine Wand bemalen, die seit fast zehn Jahren von unserem Kollegen Yurika gestaltet wird. Bis die Polizei kam und meinte, wir könnten dort nicht mehr malen – es müssen zunächst ein Aufruf für die Gestaltung der Wand sowie eine Erlaubnis beantragt werden,“ berichtet er, „Also Leute, die seit Jahren durch die Bemalung von Wänden Räume konstruiert haben und sich so auf gewisse Art und Weise die Stadt und vormals verlassene Orte angeeignet haben, werden nun an ihrer Arbeit gehindert. Nun kommt die Stadtverwaltung und will entscheiden, wer malen darf und wer nicht.“
Um Tendenzen wie diesen entgegenzuwirken, experimentieren Künstler*innenkollektive wie die neu gegründete tellurisch-künstlerische Bewegung (MTA) mit neuen Raumformen. Orientiert an Projekten wie La Tour Paris 13, bei dem 105 Streetartists mehrere Monate lang ein Pariser Hochhaus gestalteten, welches dann 30 Tage kostenlos besucht werden konnte und im Anschluss abgerissen wurde, verwandelte so beispielsweise das Projekt Lavamoatumbá (etwa: Waschen wir sie zum Abriss) der MTA eine ehemalige Villa in eine kurzlebige Streetart-Galerie. Im noblen Stadtteil Rosales im Nordosten Bogotás gestalteten über 70 Künstler*innen aus Kolumbien und Ländern wie Deutschland und Chile alle Räume eines leer stehenden Wohnhauses. Chucho Bedoya, Initiator des Projektes, bekam über Verwandte die Gelegenheit, das Haus mehrere Monate zu nutzen bevor es nun abgerissen werden soll. Neben Graffiti finden sich alle möglichen Formen von Installationen, Arbeiten in Metall und mit Schwarzlicht, Skulpturen und Fotografie verteilt auf das Haus und den Garten. „Das Projekt versucht, mit allen Formen der Malerei und Gestaltungskunst zu arbeiten. Gleichzeitig hatten die beteiligten Künstler*innen völlige Freiheit, ihren Bereich so zu gestalten wie sie wollten“, berichtet Chucho Bedoya. Aber das Projekt versuchte, mehr zu sein als das: „Wir waren und sind völlig offen für alle, die sich in irgendeiner Form beteiligen wollten und versuchen, auch einen Beitrag zur Inklusion zu leisten. An der Gestaltung waren neben Grafiteros auch Grundschullehrer, Schriftsteller, Ingenieure, Kinder und Obdachlose beteiligt. Also alle, die irgendwie Lust hatten, sich künstlerisch auszuleben und bis dato noch nie so richtig die Gelegenheit dazu hatten“, fährt er fort. So wollte das Projekt zum Beispiel mit der Aufnahme Obdachloser auch zeigen, dass „Kunst eine heilende Kraft hat“.

Denn dies ist auch einer der Gründe, warum Streetart und Graffiti solch einen Aufschwung in Kolumbien und speziell Bogotá erleben. Neben der Nutzung öffentlicher Flächen zur künstlerischen Aufarbeitung der konfliktreichen Vergangenheit dienen diverse Graffiti-Projekte, die unter anderem mit Kindern aus benachteiligten Wohnvierteln, Opfern des Konfliktes und (ehemaligen) Drogenabhängigen arbeiten, auch dazu, die Menschen aktiv an der Stadt zu beteiligen. In einer Metropole wie Bogotá, die durch Landflucht gekennzeichnet ist und Millionen Binnenflüchtlinge aus allen Teilen Kolumbiens beheimatet, hat Streetart so auch die Funktion, die Menschen teilhaben zu lassen und dafür zu sorgen, dass sie die Stadt als die ihre begreifen.

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