GROSSE NAMEN – STARKE FILME?
Lateinamerikanische Beiträge zur Berlinale prominent besetzt

© Iván Fund, Laura Mara Tablón, Gustavo Schiaffino / Rita Cine, Insomnia Films)
Politische Krisen weltweit könnten für ein Filmfestival wie die Berlinale als Ort der Kreativität, Diversität und freien Meinungsäußerung eine große Chance sein. Diese haben Stadt und Festival jedoch im Zuge der letztjährigen Diskussion um die Auszeichnung der äußerst sehenswerten palästinensisch-israelischen Dokumentation No other land verpasst, indem sie sich nicht geschlossen hinter die Filmemacher*innen stellten. So wird gemunkelt, dass es wohl einige Absagen von Künstler*innen gab, die um ihre Meinungsfreiheit auf dem Festival fürchten. Es gibt eine neue Leitung (Tricia Tuttle), die bisher allerdings eher den Charme des Abarbeitens versprüht als den Geist des Aufbruchs. Die Stimmung ist dementsprechend gedämpft.
Während des Festivals zwischen dem 13. und 23. Februar kann sich das aber natürlich noch ändern. Lateinamerika ist diesmal mit 26 Beiträgen, einige durchaus hochkarätig, vertreten. Davon starten drei im Berlinale-Wettbewerb, was über dem Durchschnitt der letzten Jahre liegt. Ein Glücksfall könnte der neue Film des hochdekorierten Cannes-Stammgasts Michel Franco (Mexiko) sein. Unterstützt von Schauspielstar Jessica Chastain (u.a. X-Men, Interstellar) erzählt der für seine kontroversen Drehbücher bekannte Regisseur in Dreams die Geschichte eines mexikanischen Balletttänzers, der in San Francisco seine Träume verwirklichen möchte. Auch der argentinische Film El Mensaje (Die Nachricht) des Regisseurs und Kameramanns Iván Fund wird mit Spannung erwartet. In dem Roadmovie aus der argentinischen Provinz versuchen die Pflegeeltern eines 9-jährigen Mädchens, das mit Tieren kommunizieren kann, aus seiner Gabe Profit zu schlagen. Schließlich entführt der brasilianische Regisseur Gabriel Mascara die Zuschauer*innen in der Dystopie O último azul (The Blue Trail) ins Amazonasgebiet. Dorthin flieht die 77-jährige Tereza aus einer Kolonie, in der „unproduktive“ ältere Menschen in der Zukunft untergebracht sind, um den Fortschritt nicht zu stören.
Diese vielversprechenden Bewerber um die begehrten Goldenen und Silbernen Bären werden ergänzt von vier interessanten lateinamerikanischen Filmen in der Sektion Panorama. Hier könnte 2024 der costa-ricanische Film Memorias de un cuerpo que arde (Memories of a Burning Body) gewinnen. Politisch wird es in der paraguayischen Dokumentation Bajo las banderas, el sol (Under the Flags, the Sun), die die 35-jährige Alleinherrschaft des Diktators Alfredo Stroessner aufarbeitet. Magic Farm lockt mit US-Star Chloë Sevigny in der Hauptrolle und der gefeierten argentinischen Künstlerin und Filmemacherin Amalia Ulman (El Planeta) auf dem Regiestuhl. In ihrer Science-Fiction-Komödie landet die Crew eines Medienteams im falschen Land und gerät in eine Gesundheitskrise. In Ato Noturno (Night Stage), dem neuesten Film der queeren brasilianischen Filmemacher Marcio Reolon und Filipe Matzembacher, beginnen ein Schauspieler und ein Politiker eine heimliche Affäre. Und Fernando Embckes mexikanischer Film Olmo beobachtet einen 14-jährigen, der sich zwischen der Pflege seines Vaters und der Einladung zur Party seiner Nachbarin entscheiden muss.
In der Sektion Berlinale Specialgeht der Film After this Death von Lucio Castro (Argentinien) an den Start. Darin muss eine Frau nach dem Ende der Affäre mit einem Musiker dessen besessene Fans abwehren. Außerdem darf man sich auf die Rückkehr von Regisseurin Anna Muylaert (Brasilien, bekannt durch The Second Mother) zur Berlinale freuen. In A melhor mãe do mundo (Die beste Mutter der Welt) flieht eine Frau mit ihren beiden kleinen Kindern und einem Müllwagen vor der Gewalt in ihrer Beziehung.
Stark vertreten ist Lateinamerika auch wie gewohnt in der Jugendfilm-Sektion Generation, wo es in den vergangenen Jahren Preise regnete (beispielsweise 2024 für den Film Reinas aus Peru). Ein echtes Schmuckstück könnte die Doku-Fiction Hora do recreio (Playtime) von Regie-Legende Lucia Murat (Brasilien) sein. Die Ex-Guerilla-Aktivistin ist unter anderem für die Dokumentation Que bom te ver viva (Wie schön, dich lebendig zu sehen) über während der Militärdiktatur gefolterte Frauen bekannt. Ihr aktueller Filmverhandelt kontroverse Themen wie Gewalt, Rassismus und Drogenhandel aus der Perspektive von Teenager*innen. Auch A Natureza das coisas invisíveis (Das Wesen unsichtbarer Dinge) kommt aus Brasilien. Hier treffen zwei 10-jährige Mädchen in den Sommerferien in einem Krankenhaus aufeinander und freunden sich an. De Menor (Minderjährig, ebenfalls Brasilien), eine Fernsehserie von Regisseurin Caru Alves (Generation-Gewinnerin 2020) thematisiert Ungerechtigkeiten in der Behandlung Jugendlicher durch das Justizsystem. In der Sektion Forumfinden sich die zwei Dokumentationen Colosal (Dominikanische Republik) und La memoria de las mariposas (The memory of butterflies, Peru), die Geschichten von politischen Aktivist*innen bzw. den Kautschukhandel im Amazonasgebiet untersuchen. Im fiktionalen Film Punku (Peru) wird der bewusstlos im Dschungel gefundene Iván wieder mit seiner Familie zusammengeführt. Außerdem gibt es in der SektionForumSpecialden Cinema Novo–Film Iracema (Brasilien) von 1975 in einer restaurierten Fassung zu sehen. Darin zieht eine junge Indigene Frau vom Land in die Stadt. Neu bei der Berlinale ist die Sektion Perspectives, die Debütfilme zeigt. Hier hat es der mexikanische Film El Diablo Fuma (The Devil Smokes) in die Auswahl geschafft, in dem fünf von ihren Eltern verlassene Geschwister mit ihrer schizophrenen Großmutter zusammenziehen. Abgerundet wird das lateinamerikanische Berlinale-Programm mit 9 Kurzfilmen aus Brasilien, Mexiko, Chile, Kuba und Kolumbien, die sich auf die Sektionen Berlinale Shorts, Generation und Forum Expandedverteilen.
Etwas überraschend ist die hohe Anzahl von Filmen aus Brasilien im diesjährigen Berlinale-Programm. Offensichtlich hatte der kulturelle Kahlschlag der Ära Bolsonaro doch nicht so große Auswirkungen auf die Produktivität der Filmemacher*innen des Landes, wie befürchtet. Bleibt zu hoffen, dass die Filme aus Lateinamerika auch diesmal wieder für Highlights auf der Leinwand sorgen. Die Vorfreude darauf ist aufgrund der vielen bekannten Namen und des hohen Niveaus der letzten Jahre schon jetzt groß.