Chile | Nummer 270 - Dezember 1996

Guanacos und jaguares

Kommunalwahlen in Chile

Vor dem Hintergrund wachsender sozialer Konflikte wurden am 27. Oktober rund 9 Millionen ChilenInnen an die Wahlurnen gebeten. Die zweiten Kommunalwahlen seit der Rückkehr zur Demokratie ergaben erwartungsgemäß keine spektakulären Veränderungen. Dennoch kam es zu einigen möglicherweise folgenreichen Verschiebungen in den politischen Lagern.

Claudius Prößer

Selbst Kommunalwahlen versetzen Chile in eine Art Ausnahmezustand: Wenn sich das Volk in Sachen Demokratie übt, werden Selbstverständlichkeiten des neoliberalen Alltags außer Kraft gesetzt. Supermärkte und Läden, die gewöhnlich an 365 Tagen im Jahr bis in den späten Abend hinein zum Kaufrausch einladen, bleiben diesmal geschlossen; bereits am Abend zuvor werden Gesetze aktiviert, die von einem tiefen Mißtrauen in die Einhaltung der ersten Bürgerpflicht sprechen: Einer im Volksmund ley seca genannten Regelung zufolge wird jeglicher Alkoholausschank und -verkauf streng geahndet, Versammlungen von mehr als fünf Personen sind unzulässig. Der den feierlustigen ChilenInnen heilige Samstag-abend fällt der “staatsbürgerlichen Verantwortlichkeit” zum Opfer.

Wahlkampf nach allen Regeln des Marktes

Auch im Jahre 6 nach der Machtübergabe an eine wieder demokratisch gewählte Regierung ist ein Urnengang auf nationaler Ebene noch keine Routinehandlung für die beinahe neun Millionen stimmberechtigten ChilenInnen. Und dennoch ordnete sich der Aktionismus des demokratischen Machtkampfes den weitgehend verinnerlichten Marktgesetzen unter. Uneingeweihten BetrachterInnen mochten die schier allgegenwärtige KandidatInnenwerbung auf allen Mauern und Straßen und die lautstarken Autokarawanen als Ausdruck eines überbordenden politischen Idealismus erscheinen, zu dem Chile nach zwei Jahrzehnten der Apathie zurückgefunden hat. Tatsächlich ist es lediglich eine Frage der Parteikassen und der persönlichen Investitionsfähigkeit und -bereitschaft der KandidatInnen, ob für Stimmung gesorgt wird.

Die heimlichen Kandidaten: Foxley und Lagos

Im Vorfeld des 27. Oktobers mangelte es an Stimmung nicht. Schließlich hatten sich Regierung und Opposition tatkräftig darum bemüht, die Ergebnisse der in den 341 Gemeinden des Landes abgehaltenen Wahlen zu einem politischen Stimmungsbarometer von überregionaler Tragweite aufzuwerten: Politische Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich auf Gemeindeebene in einem weiterhin stark zentralistischen Chile kaum. In der Tat markierte das Datum die Halbzeit der aktuellen Regierungsperiode und den Auftakt zu den 1997 anstehenden Parlamentswahlen, bei denen über die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und eines Teils der Senatorenämter entschieden wird.
Mit besonderer Nervosität – oder Zuversicht – erwarteten die Führungsriegen zweier am Regierungsbündnis Concertación beteiligten Parteien den Wahlabend: Innerhalb der nächsten Monate steht die Bestätigung des Vorsitzenden der Christdemokraten (PDC), Alejandro Foxley und seines Amtskollegen Jorge Schaulsohn von der sozialdemokratischen Sammelpartei Partido por la Democracia (PPD) auf der Tagesordnung. Foxley, der sich mit seiner wenig populistischen Amtsführung des Finanzministeriums in der ersten Regierung der Concertación kaum Anhänger in der chilenischen Bevölkerung geschaffen hat, gilt in der PDC immer noch als sicherer Kandidat der Koalition bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. Daß ihm der PPD-Sozialist Ricardo Lagos, zur Zeit Minister für öffentliche Infrastrukturmaßnahmen, den Sessel in der Moneda abspenstig machen möchte, ist ein offenes Geheimnis. Auf seiner Haben-Seite kann Lagos, dessen Partei nicht einmal an die Hälfte christdemokratischer Wahlergebnisse herankommt, eine enorme Popularität verbuchen. Noch bewahrt er sich bei vielen ChilenInnen das Image des Mannes, der es 1988 als einer der ersten wagte, Pinochet öffentlich und live im Fernsehen anzuklagen.

Christdemokratische Schlappe

Die politische Landkarte, die sich am Abend des 27. Oktobers geformt hat, mißfällt der PDC am meisten. Entgegen allen Erwartungen steht sie als die Verliererin inmitten einer erfolgreichen Concertación da: Von den beinahe drei Prozentpunkten, die die Regierungsallianz im Vergleich zu den letzten Kommunalwahlen 1992 zulegen konnte (von 53,3 auf 56,02 Prozent), fiel nicht der geringste Teil auf die Partei von Präsident Eduardo Frei ab – im Gegenteil. Um annähernd drei Prozente schrumpfte sie zugunsten ihrer tendenziell sozialdemokratischen Bündnispartner zusammen. Sozialisten (PS), PPD und Radikale konnten jeweils zwischen 3 und 1,5 Prozent wachsen. Spektakulär erscheint diese Gewichtsverschiebung vor allem im Hinblick auf die Rolle, die nun der kürzlich aus der Wiedervereinigung von Partido Radical und Socialdemocracia hervorgegangenen PRSD zukommen wird. Als Zünglein an der Waage kann die älteste Partei Chiles, die im vergangenen Jahrhundert als bürgerlich-liberale und laizistische Bewegung entstanden war und nach ihrer Spaltung 1971 zumindest teilweise an der sozialistischen Regierung Allendes teilhatte, sich nach Belieben auf die “linke” oder “rechte” Seite der Concertación schlagen. Ob sie zusammen mit dem Block PS/PPD die Christdemokraten zur Minderheit macht oder den entgegengesetzten Weg wählt, hängt im weiteren von der innerkoalitionären Diplomatie ab.

UDI im Aufwind

Strahlende Gesichter auch bei der Rechten: Sie hat zwar um ein Haar das “historische Drittel” von 33 Prozent verfehlt, befindet sich jedoch weiterhin im Aufwind. Profitieren konnten die beiden untereinander in stetem Clinch liegenden Parteien – die seit Jahr und Tag pinochettreue Unión Democrática Independiente (UDI) und die gemäßigtere Renovación Nacional (RN) unter ihrem jungcharismatischen líder Andrés Allamand – vom Absturz des Errazurismo, der rechtspopulistischen Sammlungsbewegung von Großunternehmer und Allround-Talent Francisco-Javier Errázuriz. Die Quittung für deren Uneinigkeit bei der Kandidatenauslese und die programmatische Leere jenseits der Person ihres Caudillos war ein Einbruch von über 5 Prozent der Stimmen.
Auch die Rechte hat spätestens seit dem 27. Oktober einen handfesten Führungsstreit. Ungeachtet der Tatsache, daß RN mit gut 18 Prozent das rechte Lager eindeutig dominiert und ihre Position als landesweit zweitstärkste Partei ausgebaut hat, setzte der Erdrutschsieg des UDI-Kandidaten Joaquín Lavín im Stadtteil der Hauptstadt Las Condes, Wohnort der oberen Zehntausend, neue Akzente. Die Amtsführung des Chicago-Boy, der es sich nicht nehmen ließ, zu wichtigen Fragen der Gemeindepolitik plebiszitäre Abstimmungen durchzuführen, wurde jenseits aller Parteiloyalitäten mit einem Ergebnis von knapp 80 Prozent belohnt. Der Bürgermeister von Las Condes als künftiger Präsident? Las Condes ist nicht Chile, lautet die Devise bei RN, der kein spektakulärer Einzelsieg gelang.
An Erfolgen wie dem Lavíns läßt sich freilich auch die fehlende Aussagekraft landesweit kumulierter Stimmenanteile für einzelne Parteien ablesen. Die ChilenInnen haben in den meisten Gemeinden mehr Wert auf eine glaubwürdige Administration und auf herausragende Persönlichkeiten, denn auf Parteiprogrammatik und Ideologie gelegt. In der Ersten Region, in der die PDC mehrere Parlamentarier stellt, kam sie angesichts populärer sozialistischer Bürgermeister nicht einmal auf 8 Prozent; ihr Kandidat für Santiago-Centro, Jaime Ravinet, steht mit über 45 Prozent Zustimmug auf der Liste der besten Ergebnisse im Land, obwohl sein Wahlkreis 1993 keinen einzigen christdemokratischen Abgeordneten oder Senator in den Kongreß von Valparaíso entsenden konnte.
Schlechte Karten hatte bei den Kommunalwahlen die linke Opposition, die dank der “binominalen Mehrheitswahl” auf nationaler Ebene auch eine außerparlamentarische ist. Zwar fielen die Kommunisten (PC) nicht unter die Schmerzgrenze von fünf Prozent, in ganz Chile sind sie jedoch nicht einmal mit einer Handvoll ihrer Politiker in den Gemeinderäten vertreten. Dabei hatten einige KandidatInnen der PC beachtliche Erfolge erzielt. Die Unterrepräsentierung ist auch in diesem Fall dem komplizierten System der Sitzverteilung geschuldet, das qua subpacto vielen Verlierern im Schlepptau erfolgreicher Bündnispartner den Weg in die concejos municipales eröffnete.
Keinen Profit konnte die PC aus dem zunehmend aufgeheizten sozialen Klima im Land ziehen. Seit mehreren Monaten meldet sich die Arbeitnehmergruppe, die eine reale Möglichkeit zu breitem gewerkschaftlichen Zusammenschluß – und zum Streik – besitzt, zu Wort: der öffentliche Dienst. Ist es der einst durch die Militärs zerschlagenen und in der Demokratie nur mühsam wiedererweckten Gewerkschaftszentrale CUT durch die höchst unternehmerfreundliche Arbeitsgesetzgebung kaum möglich, betriebsübergreifende Arbeitsniederlegungen zu organisieren, so protestieren Lehrer, Verwaltungsangestellte und Krankenschwestern mit wachsendem Unmut gegen miserable Löhne und inhumane Wochenarbeitszeiten. Anfang Oktober waren die LehrerInnen an der Reihe, die unter der Führung des Kommunisten Jorge Pavez auf die Straße gingen. Trotz anhaltenden Beteuerungen, das Haushaltsgleichgewicht vertrage keine Gehaltsangleichungen, und trotz der Auswechslung des Erziehungsministers (neben vier anderen Kollegen in politisch strapaziösen Ministerien) erreichte die Lehrerschaft teilweise ihre Ziele. Keine einschneidenden Verbesserungen, wenig Aussicht auf eine Verringerung der bis zu 70 Wochenstunden, aber immerhin merkliche Erhöhungen ihrer Bezüge.

Der öffentliche Dienst geht auf die Straße

Nach diesem relativen Erfolg ließen sich die Gemeindeangestellten nicht zweimal bitten und traten in den Ausstand, mit der zusätzlichen Drohung, die Durchführung der Wahlen zu boykottieren. Aus den staatlichen Krankenhäusern, die für die Versorgung des nicht vom privatisierten Gesundheitssektor abgesicherten Teils der Bevölkerung zuständig sind, drangen ähnliche Botschaften, mit dem Hinweis auf die katastrophale Ausstattung und den drohenden Bankrott.
Daß sich die zunehmende soziale Mobilisierung nicht stärker in den Wahlergebnissen niederschlug, hat auch mit dem instrumentellen, eher unpolitischen Charakter der erhobenen Forderungen zu tun. Nicht lange auf sich warten ließen auch kritische Stimmen, die gerade im Arbeitskampf der – meist noch zu Pinochets Zeiten eingestellten – Gemeindeangestellten einen von reaktionären Kräften angestoßenen Versuch der Destabilisierung von Freis Regierung erkennen wollen. Wie dem auch sei, die chilenische Demokratie bedient sich gerne einmal althergebrachter Rezepte zur Befriedung: Als die Streikenden zusammen mit der CUT am 23. Oktober zu einer nicht genehmigten Demonstration in unittelbarer Nähe des Präsidentenpalastes aufriefen, wurden die in letzter Zeit seltener in Erscheinung getretenen Wasserwerfer und Tränengaskanonen von Spezialeinheiten der Polizei ohne weitere Rücksichtnahme eingesetzt. Das erneute Auftauchen der im Volksmund guanacos genannten Wasserwerfer stellte für die Kolumnisten der Zeitschrift Hoy eine Rückkehr zur landesüblichen Fauna dar: Seit geraumer Zeit bedenken selbstbewußte chilenische Politiker ihr prosperierendes Land mit dem Ehrentitel jaguar – eine Art südamerikanische Variante der ostasiatischen “Tiger”.
Das repressive Erbe der Diktatur kam auch zwei Tage nach dem Wahltag zum Vorschein, als Gladys Marín, die Generalsekretärin der PC auf offener Straße von einem Sonderkommando der Kriminalpolizei verhaftet wurde. Grundlage dafür war eine Verleumdungsklage des Heeres, nachdem die Politikerin am 11. September, dem Jahrestag des Putsches, in einer Rede vor dem zentralen Denkmal für die unter dem Militärregime Verschwundenen Pinochet mit deutlichen Worten zur Rechenschaft gezogen hatte. Freilich wurde die Klage etwas kleinlaut zurückgezogen, als die Vorsitzenden aller Regierungsparteien geschlossen Solidarität mit der sonst eher ungeliebten Kollegin bewiesen und ihr noch am selben Tag eine Visite in der Untersuchungshaft abstatteten.

Politikverdrossenheit jenseits der Anden

Spätestens bei den Kongreßwahlen im kommenden Jahr wird sich klären, wieviel Engagement die eigentlichen Parteien mit ihrer Programmatik bei der Bevölkerung auslösen können, und ob die große Masse der Zukurzgekommenen weiterhin die Administration der concertacionistas belohnt. Ein deutliches Zeichen ihres Desinteresses an einer von Technokraten gestalteten Politik ohne nennenswerte Alternative haben die beinahe zwei Millionen Wahlberechtigten gesetzt, die sich auf unterschiedliche Art und Weise enthielten. Über eine Million – vor allem NeuwählerInnen – verzichteten auf den Eintrag in die Wahlregister, knapp 500.000 Wahlpflichtige ließen sich unter Hinweis auf Krankheit oder zu große geographische Entfernung von ihrem Wahlort freistellen. Etwa ebensoviele sahen zwar keine Möglichkeit, ihrer Verpflichtung nicht nachzukommen – Wahlverweigerung wird mit empfindlichen Geldstrafen sanktioniert -, brachten aber ihren Verdruß zum Ausdruck, indem sie ungültige Stimmzettel abgaben.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren