Nummer 383 - Mai 2006 | Peru

Harte Strafen für die Rebellion

Die Führungsspitze der MRTA bezahlt den Traum von der sozialen Revolution mit langjährigen Haftstrafen

In ihren ersten Aktionen überfielen sie Supermärkte und verteilten die erbeuteten Lebensmittel in Armenvierteln. Dann kämpften sie mit Waffen für eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft. Am Ende zahlten sie einen hohen Preis: Hunderte von Guerriller@s der MRTA starben mit den Opfern der anderen Seite für eine Revolution, die es nie gab. Und die ehemaligen Führungskader werden vermutlich bis ins hohe Alter im Gefängnis sitzen.

Rolf Schröder

Der Taxifahrer stutzt, als er hört, wohin die Fahrt gehen soll. Zur Marinebasis in Callao? Wirklich dorthin? In Lima ist bekannt, dass die Tore in den hohen weißen Mauern, die diesen Stützpunkt umgeben, sich nur selten für Gäste öffnen. Denn die Marinebasis beherbergt ein berüchtigtes Hochsicherheitsgefängnis mit den wohl prominentesten Häftlingen Perus. Bereits seit über zehn Jahren sitzen dort Abímael Guzmán, der ehemalige Kopf der maoistischen Organisation Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso), und Víctor Polay, einst Gründer der revolutionären Bewegung Tupác Amaru (MRTA). Später kam mit Vladimiro Montesinos der Planer dieses Gefängnisses selbst hinzu, ein Mann, der als Geheimdienstchef der Fujimori-Diktatur einst das ganze Land kontrollierte. Zumindest die ersten beiden Gefangenen dürfen lediglich Besuch von ihren engsten Familienangehörigen empfangen. An diesem Tag – es ist Ende März – wird in der Marinebasis jedoch das Urteil in zweiter Instanz gegen Víctor Polay und die ehemalige Führungsspitze der MRTA verkündet. Und deswegen sind auch ZuschauerInnen zugelassen.
Am Eingangstor werden die Besucher nach Waffen abgetastet. Sie müssen alle Taschen und Aufnahmegeräte abgeben und ihren Namen registrieren lassen. Bis zum Gerichtsgebäude, einem flachen, unansehnlichen Betonkasten, sind es nur ein paar Schritte. Etwa 75 BesucherInnen sammeln sich in einem engen Warteraum: Familienangehörige der Gefangenen, SympathisantInnen und ein paar wenige JournalistInnen. Doch die Mühlen der peruanischen Justiz mahlen langsam. Pünktlich erschienene ProzessbeobachterInnen müssen sich zwei Stunden gedulden. Derweil haben es sich einige ältere Damen, die Mütter der Angeklagten, auf den wenigen Bänken bequem gemacht. Otilia Campos, die Mutter Víctor Polays, sitzt, Zufall oder Absicht, ganz rechts in der ersten Reihe. Neben ihr hat die Mutter Miguel Rincóns, des ehemaligen Propagandachefs der MRTA, Platz genommen.

Steinerne Gräber

Vor allem Otilia Campos kämpft seit Jahren um bessere Haftbedingungen für die Gefangenen der MRTA. Ihr Sohn wurde bereits 1989 zum ersten Mal verhaftet. Ein Jahr später gelang ihm mit einigen Genossen eine spektakuläre Flucht durch einen selbst gebauten Tunnel. Doch 1992 – mittlerweile wurde das Land vom Diktator Alberto Fujimori und Vladimiro Montesinos regiert – fiel Polay erneut der Polizei in die Hände. Ein militärisches Schnellgericht verurteilte ihn damals wegen schweren Terrorismus zu einer lebenslänglichen Haftstrafe. Seine Richter hatten sich während der Verhandlung Tarnmützen über den Kopf gestreift, um unerkannt zu bleiben. Das Urteil stand von vornherein fest, und die Verteidigung bekam nur unzureichend Einsicht in die Prozessakten. Seitdem sitzt Polay in der Marinebasis Callao. Miguel Rincón und Peter Cárdenas, ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der MRTA, wurden ebenfalls dort eingesperrt, um lebenslange Haftstrafen abzusitzen.
Otilia Campos erinnert sich noch genau an die Abmessungen der Zelle, die ihr Sohn damals bezog: drei Meter Höhe, 1,80 mal zwei Meter Grundfläche, in der Decke ein kleiner, quadratischer Lichtschacht. Die Wände bestanden aus einer 70 Zentimeter dicken Betonschicht. Eine Latrine und eine extrem schmale Pritsche gehörten zur Ausstattung. Für Otilia Campos war das ein steinernes Grab. Die Mütter durften ihre Söhne während der Fujimori-Diktatur nur einmal im Monat für eine halbe Stunde besuchen und durch eine dicke Glasscheibe mit ihnen sprechen. Pro Tag kamen die drei MRTA-Gefangenen nur eine halbe Stunde an die frische Luft. Zu unterschiedlichen Zeiten. Weder Anwälte oder Priester, noch Gefängniswärter wurden zu ihnen vorgelassen. Die Hände eines Unbekannten servierten das Essen durch eine schmale Luke. Doch Polay litt nicht nur in der Isolationshaft: Als er 1993 mit einem Hubschrauber zur Marinebasis Callao geflogen wurde, stellten ihn seine Bewacher mit verbundenen Augen vor die geöffnete Ausstiegsluke und kündigten an, ihn hinauszuwerfen. Fujimori selbst prahlte später im Fernsehen damit, Polay habe sich dabei in die Hose gemacht.
Nachdem das Fujimori-Regime im Dezember 2000 zusammengebrochen war, verbesserten sich die Haftbedingungen für die MRTA-Gefangenen. Sie wurden in größere Zellen verlegt und bekamen gemeinsamen Hofgang. Nach wie vor durften sie jedoch nur Besuch von ihren engsten Familienangehörigen empfangen. Nun wurde auch eine Revision der Urteile zugelassen. Doch der erste Berufungsprozess, der gegen eine Angeklagte der MRTA geführt wurde, gab keinen Anlass zur Hoffnung. Die US-Amerikanerin Lori Berenson wurde zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl sie nie mit der Waffe gekämpft oder gar jemanden getötet hatte. Dennoch sind die Mütter Polays und Rincóns an diesem Tag zuversichtlich, dass ihre Söhne nur 20 Jahre bekommen und in fünf, sechs Jahren entlassen werden.

Stoff für einen Abenteuerroman

Der Zuschauersaal wird endlich geöffnet. Er ist durch Beton und eine dicke Glasscheibe vom Verhandlungsraum getrennt, in dem die Angeklagten bereits mit dem Rücken zu den Zuschauern in zwei Reihen Platz genommen haben. Neben Polay, Rincón und Cárdenas sind das aus dem früheren Zentralkomitee der MRTA Alberto Gálvez und Lucero Cumpa sowie zehn weitere ehemalige Aktivisten. Sie drehen sich auf ihren Plätzen um und begrüßen ihre Verwandten und Freunde mit Winken und Handzeichen. Ihnen gegenüber sitzen die drei Richter, an den Wänden stehen schwer bewaffnete Sicherheitskräfte mit kugelsicheren Westen. Eine Justizangestellte beginnt an einem Rednerpult mit der Lektüre des Urteils. Detailliert listet sie alle Untaten der MRTA auf. Sie bieten Stoff für einen Abenteuerroman: Überfälle auf Banken, Polizeistationen, Supermärkte und Waffengeschäfte; Entführung von Unternehmern, Generälen und Abgeordneten mit Lösegeld-Erpressung; ein Raketenangriff auf den Regierungspalast; Besetzung von Radiostationen; Brandstiftung; Explosion von Autobomben vor Kasernen und Ministerien; Angriffe auf Polizei- und Armeeeinheiten; Ermordung eines Generals, eines Richters und eines Polizisten; Hinrichtung von drei MRTA-Mitgliedern; Dorfbesetzungen bewaffneter MRTA-Einheiten im Landesinneren. Und so weiter und so weiter.
Die Justizangestellte legt dar, wer nach Erkenntnissen des Gerichts wann in der MRTA welche Aktionen plante und vorbereitete, wie viele Tote oder Verletzte es dabei gab und welchen Sachschaden. Schließlich zählt sie die Delikte auf, die den einzelnen Angeklagten konkret angelastet werden, angefangen bei Víctor Polay. Sie begründet, warum das Gericht den Tatbestand des Terrorismus für die Führungskader der MRTA erfüllt sieht und keinesfalls den der Rebellion, auf den eine wesentlich geringere Haftstrafe steht: Die MRTA habe schließlich mit Waffengewalt demokratisch gewählte Regierungen bekämpft und keineswegs eine Diktatur. Im Zuschauersaal macht sich Entsetzen breit, denn damit ist die Strategie der Verteidigung zerschlagen. Dann werden die Urteile verlesen, und es geht Schlag auf Schlag. Als erster ist der ehemalige Comandante general der MRTA an der Reihe, früher auch als Comandante Rolando bekannt: Víctor Polay wird wegen schwerem Terrorismus zu 32 Jahren Gefängnis verurteilt. Miguel Rincón bekommt ebenfalls 32 Jahre; Lucero Cumpa, Peter Cárdenas und Alberto Gálvez sind mit Strafmaßen zwischen 23 und 28 Jahren etwas besser dran. Drei Angeklagte werden aufgrund mangelnder Beweise einer Mitgliedschaft in der MRTA freigesprochen.
Die Angehörigen können ihre Emotionen im Zuschauersaal nicht mehr zurückhalten, viele von ihnen brechen in Tränen aus. Für Víctor Polay bedeutet das Urteil, dass er erst im Jahre 2023, im Alter von 72 Jahren, aus dem Gefängnis kommen wird. Die Angeklagten werden gefragt, ob sie das Urteil annehmen. Sie erheben sich nacheinander und erklären, dass sie sich für Rebellen halten und nicht für Terroristen. Fast alle von ihnen wollen in die Revision gehen, und jeder der Angeklagten bekommt für seine Stellungnahme anhaltenden Beifall aus dem Zuschauerraum. Doch die Verurteilten sind nicht die einzigen, die in die Berufung gehen. Auch die Staatsanwaltschaft ist mit dem Urteil nicht einverstanden und fordert lebenslängliche Strafen für das Quintett der MRTA-Anführer.

Lebensmittel für die Armen

César Oyola, der Anwalt Víctor Polays, erläutert später, warum er die Urteilbegründung für falsch hält. Denn laut Strafgesetz dürfe auch dann eine Verurteilung wegen Rebellion – mit einer maximalen Strafe von 20 Jahren – erfolgen, wenn es sich um eine Erhebung gegen eine demokratisch gewählte Regierung handele. Terrorismus hingegen bedeute, dass sich bewaffnete Aktionen gegen die Bevölkerung richteten. Das sei bei der MRTA jedoch niemals der Fall gewesen. Selbst das Gericht bescheinigt der Organisation zum Zeitpunkt ihrer Gründung im Jahre 1984 altruistische und idealistische Motive. In der Tat: In den ersten Aktionen überfiel die MRTA Supermärkte und Banken und verteilte anschließend die Beute in den Armenvierteln. Bei allen bewaffneten Aktionen wurde darauf geachtet, dass möglichst keine Zivilisten zu Schaden kamen. Nach und nach konzentrierte sich die Organisation – auch mit dem Lösegeld aus Entführungen – jedoch immer mehr auf den Aufbau einer Guerrilla. In ihrer besten Phase, Ende der 80er Jahre, kämpften in ihren Reihen nach eigenen Angaben etwa 1.500 Guerriller@s. Sie waren vor allem in der urwaldreichen nördlichen Region San Martín aktiv.
Die MRTA kämpfte für eine sozialistische Revolution, in der die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Menschenrechte garantiert werden sollten. Und das schnelle Wachstum der MRTA zeigte: die Bedingungen für den bewaffneten Kampf waren damals günstig. Das Pech war nur, dass die AnhängerInnen ihrer Konkurrenzorganisation Sendero Luminoso unter Führung Abímael Guzmán bereits 1980 einen Volkskrieg ausgerufen hatten. Und im Gegensatz zur MRTA und zu anderen subversiven Gruppen in Lateinamerika schreckten die Maoisten vor extremer Gewalt und bis dato unbekannter Grausamkeit nicht zurück: Folter, Misshandlungen oder exemplarische Hinrichtungen galten als strategische Maßnahmen zur Bestrafung und Einschüchterung der Zivilbevölkerung. Der Leuchtende Pfad sprach von einem „Blutzoll“, der für die Revolution bezahlt werden müsse. In den Jahren von 1980 bis 1992 waren allein die Maoisten nach Zählungen der peruanischen Wahrheitskommission für mehr als 35.000 Tote verantwortlich. Exemplarische Fälle sind die Massaker von Lucanamarca und Los Cabitos im Jahre 1983, wo der Leuchtende Pfad jeweils die gesamte Dorfbevölkerung liquidierte, weil sie ihm die Unterstützung versagte. Bombenanschläge in Städten und unzählige Morde an PolitikerInnen und FunktionärInnen von Basisorganisationen kamen hinzu.

Das Massaker von Los Molinos

Die MRTA entschied sich auch deshalb für den bewaffneten Kampf, weil Armee und Polizei im Bürgerkrieg mit dem Leuchtenden Pfad gleichfalls systematisch die Menschenrechte verletzten. Die Wahrheitskommission bescheinigt den Militärs etwa 20.000 ZivilistInnen getötet zu haben. Ein traumatisches Ereignis für die MRTA war eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der Armee in Los Molinos, einem Ort im Hochland, im Jahre 1989. 58 Guerriller@s von der MRTA wurden erschossen. Der damalige Präsident Alan García stieg über die Leichen und übermittelte der Militärführung seine Glückwünsche. Später sagten ZeugInnen aus, dass die RebellInnen sich angesichts der Übermacht der Armee zuvor ergeben hatten. Die MRTA ermordete daraufhin in einem Racheakt den Oberkommandierenden der Streitkräfte.
Es war ein Klima entstanden, in dem es auch auf Seiten der MRTA zu Übergriffen kam. In drei Fällen wurden im Einklang mit den Statuten der Organisation vermeintliche VerräterInnen aus den eigenen Reihen hingerichtet. Doch die Wahrheitskommission bescheinigt der MRTA, dass sie im Gegensatz zum Leuchtenden Pfad in der Tradition anderer lateinamerikanische Guerrillagruppen steht: Denn die MRTA begründete alle ihre Aktionen politisch und sie trug Uniformen, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Überdies war sie offen für Friedensverhandlungen und griff nach Möglichkeit keine unbewaffneten ZivilistInnen an. Das Ende für die MRTA kam 1997. Damals hatte ein Kommando unter Führung von Néstor Cerpa die Residenz des japanischen Botschafters besetzt und über hundert Geiseln genommen, um die Freiheit für Víctor Polay und die anderen Gefangenen zu erzwingen. Alle Geiseln überlebten, doch die 14 Mitglieder des MRTA-Kommandos wurden nach einem Angriff der Armee auf das Gebäude erschossen. Zeugenberichten zufolge wurden mehrere Militante der MRTA hingerichtet, nachdem sie sich ergeben hatten.
In der peruanischen Öffentlichkeit wird seitdem wenig zwischen der MRTA und dem Leuchtenden Pfad differenziert. Die Angehörigen beider Organisationen werden in den Medien durchweg als TerroristInnen bezeichnet. Entsprechend war das Echo auf die Urteilsverkündung. Die Haftstrafen wurden in der Presse und im Fernsehen fast einhellig als zu mild befunden. Auch Lourdes Flores, der Präsidentschaftskandidatin des rechtskonservativen Bündnisses Unidad Nacional, waren die Urteile nicht streng genug. Dafür fordert ihr designierter Kandidat für die Vizepräsidentschaft, Arturo Woodman, Straffreiheit für alle Mörder, Folterer und Vergewaltiger aus den Reihen der Armee. Es scheint, als hätte der Bericht der peruanischen Wahrheitskommission in der Öffentlichkeit wenig bewirkt.

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