Mexiko | Nummer 283 - Januar 1998

Hartnäckig flexibel

In den Maquila-Betrieben an Mexikos Nordgrenze bleibt der Niedriglohn stabil

Lange bevor sich der Begriff um den Globus legte, machte die mexikanische Regierung mit dem ‘Programm zur Industrialisierung des Grenzgebiets’ einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen. Seit dreißig Jahren produziert die Maquiladora-Industrie im Grenzgebiet zu den USA. Was von den reichen Nachbarn als nachhaltige Maßnahme gegen mexikanische Gastarbeiter gedacht war, wurde ein ökonomischer Volltreffer.

Jens Holst

Carmen Moreno spürt von makroökonomischen Erfolgsbilanzen wenig. Dennoch ist sie zufrieden, daß sie in ihrer nordmexikanischen Heimat Ciudad Juárez Arbeit beim US-amerikanischen Elektronikkonzern Honeywell bekam: „Ich bin froh, daß ich diese Stelle gefunden habe, auch wenn der Job ganz schön hart ist.“ Tag für Tag wickelt sie Isolierband um Kabelbündel für Autoarmaturen. Mit allen Extravergütungen kommt sie auf 300 Pesos in der Woche, knapp 60 DM. Das reicht gerade zum Überleben.
Wäre sie hundert Meter weiter nördlich zur Welt gekommen, brauchte sie dafür nur einen Tag zu schuften. In der texanischen Nachbarstadt El Paso gilt der US-Mindeststundenlohn von 4,50 Dollar, siebenmal mehr als in Mexiko. Das krasse Lohngefälle führt zu einem kleinen Grenzverkehr besonderer Art. Fast 40.000 Menschen überqueren täglich den gut gesicherten Grenzfluß Río Grande, um zu ihren Arbeitsstellen in Texas zu gelangen. US-Firmen wandern in umgekehrter Richtung und errichten ihre Fabrikhallen am Rand der staubigen 2-Millionen-Stadt Juárez. So wie Carmen Moreno arbeiten mehr als 150.000 ihrer MitbürgerInnen in den Weltmarktfabriken von Ciudad Juárez. 15 Kilometer ziehen sie sich am Río Grande entlang, der erbarmungslosen Demarkationslinie zwischen Erster und Dritter Welt. Nirgends sonst waren die Bedingungen für den Aufbau der Weltmarktfabriken so günstig wie hier.
Seit drei Jahrzehnten wirft Mexiko seine billige Arbeitskraft auf den Weltmarkt. Ein Arbeiter verdiente dort anfangs ganze 12 Cents pro Stunde. Viele US-Unternehmen verlagerten arbeitskraftintensive Produktionsschritte nach Mexiko, das sie mit erheblichen Steuervergünstigungen belohnte und Arbeitskräfte und Infrastruktur stellte. Die Maquiladora-Fabriken sind in sogenannten Freihandelszonen angesiedelt. Technologie, Know-how und sämtliches Material kommen aus den Vereinigten Staaten. Alle Produkte werden ebenso wie jedes Gramm Abfall wieder zurück gebracht – die Profite sowieso. Vollzogen wurden zu Beginn nur die einfachen Schritte, Endmontage und kompliziertere technische Schritte erfolgten in den USA.

Wettbewerbsvorteil durch Billiglohn

In zehn Jahren wuchs Mexiko zu einem Riesen unter den Billiglohnländern heran. 1975 kam gut ein Drittel aller Maquiladora-Produkte in den USA aus dem südlichen Nachbarland. Damals nähten mexikanische ArbeiterInnen noch Textilien und Schuhe, doch bald waren es auch einfache Bauteile für Elektroartikel und Motoren. Heute fertigt die nordmexikanische Industrie hochmoderne Elektroartikel für Autos und Flugzeuge und ist der zweitgrößte Devisenbringer des Landes nach der Erdölindustrie. Mehr als 2300 Fabrikhallen wurden in den vergangenen 30 Jahren entlang der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze zwischen Tijuana und Matamoros hochgezogen. Seit neuestem entstehen die Maquiladora-Industrieparks auch in entfernteren Landesteilen wie Yucatán oder Chiapas, wo die Löhne niedriger sind als an der Nordgrenze.
In den grenznahen Weltmarktfabriken verdient einE ArbeiterIn durchschnittlich 50 Pesos am Tag, etwa 10 Mark. Auf ihren Wochenlohn von 300 Pesos kommt Carmen Moreno wie die meisten ihrer Kolleginnen nur mit Hilfe des üblichen Bonussystems. Dazu zählen das Essen in der Firmenkantine, die tägliche Busfahrt zur Arbeitsstelle und Lebensmittelgutscheine. Diese Extraleistungen bieten den FabrikbesitzerInnen erhebliche Vorteile. Sie werden weder mit dem Lohn verbucht, noch beim Arbeitgeberanteil an den Sozialabgaben berücksichtigt. In einigen Maquiladoras werden sie zur Disziplinierung der ArbeitnehmerInnen benutzt: Nur wer jeden Tag in der Woche oder zumindest jeden Montag zur Arbeit erschienen ist, bekommt die Extravergütungen.
Gewerkschafter Jorge Martínez nennt einen anderen beliebten Trick: „Über die Hälfte der ArbeiterInnen bekommt knapp mehr als einen salario mínimo. Das hat einen sehr einfachen Grund: Wer bis zu einem Mindestlohn erhält, für den muß der/die ArbeitgeberIn die Kosten für Sozialversicherung und Steuern abführen. Verdient ein/e ArbeiterIn nur ein paar Pesos mehr, muß er/sie sowohl die Renten- und Krankenversicherung als auch die Steuern selber zahlen.“ Seit drei Jahren bietet Martínez in Ciudad Juárez arbeitsrechtliche Beratung. Er kennt die Wirklichkeit aus langjähriger eigener Erfahrung: „Ein Maquiladora-Einkommen reicht nicht für den Unterhalt aus, zum Beispiel nicht für Strom, Gas, Wasser und die Schulausbildung der Kinder.“ So sind ganze Familien in den Weltmarktfabriken beschäftigt, Männer, Frauen und bei alleinerziehenden Müttern auch die älteren Kinder.

„Die Maquiladoras funktionieren wie eine Mafia!“

Lange waren die maquiladora-Unternehmen als Ausbeuterbetriebe verschrien. „In der Maquiladora zu arbeiten, ist das schlimmste, was einem passieren kann“, beschreibt Dora Villalobos, Redakteurin der Tageszeitung Diario de Chihuahua, das herrschende Bild von den Weltmarktfabriken: „Viel Arbeit und wenig Geld.“ Neun bis zehn Stunden harte Maloche für ganze 12 Cents pro Stunde sind das tägliche Brot der mexikanischen ArbeiterInnen. In den Hallen fehlen angemessene Beleuchtung und Belüftung. Vor allem in Elektronik- und Textilfirmen ist die Luft extrem belastet, des öfteren treten Vergiftungserscheinungen auf. „Unfälle werden von der Maquiladora üblicherweise vertuscht,“ kritisiert Jorge Martínez. „Dabei wird sie von den Gesundheitsbehörden unterstützt.“
„Die Maquiladoras funktionieren hier wie eine Mafia!“, erklärt die Journalistin Dora Villalobos kurz und bündig. Die Weltmarktunternehmen sprechen sich bei Tarifverhandlungen und Umweltproblemen ab, um den Lohnabhängigen jedes Druckmittel zu nehmen. Gleichzeitig unterlaufen sie häufig die mexikanischen Gesetze, Lohn und Arbeitsbedingungen werden individuell ausgehandelt. Sie verfügen über genug Geld, um aufmüpfige ArbeiterInnen mit Entschädigungen zu entlassen. Viele ArbeiterInnen haben Angst um ihren Job, wenn sie einer Gewerkschaft beitreten oder ihre Rechte in Anspruch nehmen. Verstärkt wird diese Tendenz durch einen Strukturwandel in den Weltmarktfabriken an der US-Grenze, den wachsenden Frauenanteil. Vielerorts ist nur noch einer von zehn Beschäftigten männlich.
Viele ManagerInnen halten Frauen und vor allem alleinerziehende Mütter für unterwürfiger und erwarten von ihnen weniger Probleme. Auch Carmen Moreno hielt lange unmenschliche Arbeitsbedingungen aus, bevor sie ihren Job bei Honeywell fand. Schließlich muß sie ihre kleine Tochter alleine durchbringen. „Bei Favesa, wo ich früher gearbeitet habe, mußte ich verschiedene Drähte in einem Gehäuse besteigen. Das Fließband beförderte die Plastikgehäuse so schnell, daß ich ganz wunde Finger bekam und nachts von gelben, grünen und blauen Drähten träumte.“

Ökologisches Niemandsland

Nicht nur Hungerlöhne und Steuervorteile lockten die US-Unternehmen in die nordmexikanische Grenzregion. Fehlende Umweltvorschriften und die lasche Haltung der Behörden verstärkten den Standortvorteil. „Über zwanzig Jahre lang arbeiteten die Fabriken ohne jegliche Einschränkung,“ beschreibt René Franco Barreno von der ‘Kommission für Ökologische Zusammenarbeit im Grenzgebiet’ das Problem. „Die Maquiladora kam in den 60er Jahren, das Umweltgesetz erst 1988.“ Die Rahmenbedingungen hatten sich jedoch schon lange vorher geändert. Wurden zunächst Stoff und Faden verarbeitet, fielen mit der Umstellung der Produktion in zunehmendem Maße Lösungs- und Reinigungsmittel wie Trichlorethylen, Kohlenwasserstoffe und Tenside an. Die Maquiladora belastete die Umwelt mit immer giftigeren Industrieabfällen.
In Ciudad Juárez gibt es keine einzige Kläranlage. Die Abwässer der Weltmarktfabriken werden an verschiedenen Stellen partiell gereinigt, aber nicht alle giftigen Bestandteile herausgefiltert. „Das Brauchwasser in Ciudad Juárez enthält Lösungsmittel,“ bestätigt Umweltingenieur Barreno. „Die Hauptverbraucher von Lösungsmitteln sind die Weltmarktfabriken. Das Lösungsmittel stammt also mit Sicherheit aus der Maquiladora-Industrie.“ Doch die Lobby des größten Arbeitgebers ist mächtig, die Filzokratie im Staatsapparat tief verwurzelt. Der städtische Umweltbeauftragte Arturo Limón in Chihuahua mußte ernüchternde Erfahrungen machen: „Es kann keine effektiven Umweltkontrollen geben, denn stärker als die Umweltverschmutzung wiegen die wirtschaftlichen Interessen.“

Die Globalisierung frißt ihre Kinder

Der Maquiladora-Industrie stehen durch den Beitritt Mexikos zur Freihandelszone NAFTA grundsätzliche Veränderungen bevor. Der Abbau von Zoll- und Handelsbeschränkungen beraubt die Weltmarktfabriken ihrer Wettbewerbsvorteile und macht sie letztlich überflüssig. Einst ein Meilenstein auf dem Weg zur Internationalisierung der Wirtschaft, verlieren sie im Zuge der fortschreitenden Globalisierung ihre Daseinsberechtigung. Mit NAFTA öffnet sich für die Maquiladora-Industrie der mexikanische Markt, und zwar in doppelter Hinsicht. Die Verkaufsmöglichkeiten im Inland spielen aufgrund des Kaufkraftverlustes von 80 Prozent in den letzten zehn Jahren eine untergeordnete Rolle. Bis zur Angleichung der Löhne in den NAFTA-Staaten werden noch fünfzehn Jahre vergehen. Für die ausländischen Firmen ist viel entscheidender, daß sie nun auf einheimische Zulieferfirmen zurückgreifen können. Damit profitieren sie doppelt von den niedrigen Löhnen und können auf Kosten der MexikanerInnen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt verbessern.


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