Literatur | Nummer 479 - Mai 2014

Herzhaft würzig bis pappig süß

Die Anthologie Popcorn unterm Zuckerhut vereint vielfältige Stimmen junger brasilianischer Autor_innen

Laura Haber

Ein Büro in São Paulo. Von drinnen ist nur schemenhaft zu erkennen, was draußen vor den getönten Scheiben vor sich geht. Drinnen brütet ein Übersetzer über der Abhandlung eines US-amerikanischen Wissenschaftlers zur sozioökonomischen Entwicklung Brasiliens. Draußen spielt Brasilien Fußball. Wer bin ich und was mache ich hier, während mein Land Fußball spielt? So grummelt es zwischen den Zeilen, während wir den schweifenden Gedanken des Übersetzers folgen und Jugendszenen aus der Kleinstadt vor uns entstehen, in der er aufgewachsen ist: mitten im Nirgendwo, mit Traubeneis bekleckerte Hemden, amerikanische Zeitschriften, Pläne wegzugehen; nach Rio oder São Paulo.
Zwanzig Erzählungen junger brasilianischer Autor_innen versammelt die Anthologie Popcorn unterm Zuckerhut, die Timo Berger für den Wagenbach Verlag herausgegeben hat. „Als buntes Sortiment“, ähnlich dem Warenangebot im Bauchladen eines fliegenden Händlers an der Copacabana, beschreibt er in seiner Einleitung diese Auswahl. Allein pipoca, Popcorn, ist in allen Geschmacksrichtungen zu haben, von herzhaft würzig bis pappig süß. Und eine solche Palette erwartet uns auch lesend: So wie sich die Presse zur vergangenen Frankfurter Buchmesse darin einig war, die junge schreibende Generation Brasiliens zeichne sich vor allem durch ihre Vielfältigkeit aus, in so verschiedene Richtungen führen uns die Handlungen und Stimmungen der vorliegenden Erzählungen.
Cecilia Gianetti ist mit „Brasilien spielt“ dabei eine Ausnahme. Als einzige setzt sie sich mittels der Figur des Übersetzers in São Paolo mit Klischees auseinander: Herkommen sollte der „Scheiß Gringo […], dann wirst du sehen, wie es ist in Brasilien“, empört sich dieser über den Text des Wissenschaftlers. Ironie der Realität, dass die Massenproteste seit letztem Sommer unser Bild vom Boomland Brasilien revidiert haben, bevor wir überhaupt zur Fußball-WM hingefahren sind.
Dagegen scheint es in den meisten anderen Kurzgeschichten erfrischend zufällig, dass sie in Brasilien spielen: Ein Enkel holt in Adriana Lisboas „Das Jahr in Rishikesh“ die Erinnerungen seiner dementen Großmutter an ihre Begegnung mit den Beatles ans Licht der Gegenwart, indem er ihr auf seiner Gitarre Lieder vorspielt. Bei Fabrício Corsaletti raucht der Protagonist mit seiner Mutter heimlich Zigaretten. Erst wenn ein verliebter Kellner Hühnerherzen isst und ein Schriftsteller, beengt und entnervt durch aufdringliche Nachbarn, verzweifelt sein Geld zusammenspart, um in eine andere Wohngegend zu ziehen, ahnen wir, wo wir sind.
Erinnerungen, Rückblicke, nostalgische Momente sind keine seltenen Bestandteile in diesem schmalen Band Kurz- und kürzester Geschichten. Oft wohnen wir Zwiegesprächen oder inneren Monologen der Ich-Protagonist_innen bei. In der dritten Person sind ausgerechnet jene Erzählungen verfasst, die uns in fremdere Lebenswelten führen: Auf eine karge Insel, wo Fischer Sebastião die blutige Vergangenheit eines Geisterschiffs zusammenfantasiert, zu einem schizophrenen Clown, zu einem einsam singenden Alten in einem Haus in einer Gasse von Macao.
Nicht alle in dieser Anthologie versammelten Erzählungen rufen ein funkensprühendes Geschmackserlebnis auf der Zunge oder ein verzücktes Lächeln im Gesicht hervor. Wo in einer Konditorei wartende Menschen ein Zwergenpaar zu Tode prügeln oder die Mitglieder einer Motorradgang der Reihe nach ums Leben kommen, tritt Scheußliches und Mysteriöses zutage. Auf jeden Fall aber dürfte für jeden Lesegeschmack ein passendes Häppchen dabei sein. Nicht zuletzt, um Lust auf die zum Teil bereits auf Deutsch erschienenen Romane der Autor_innen zu bekommen.

Timo Berger // Popcorn unterm Zuckerhut // Verlag Klaus Wagenbach // Berlin 2013 // 9,90 € // www.wagenbach.de

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