Ecuador | Nummer 611 – Mai 2025

Himmel und Hölle

Organisierte Nachbarschaften in Guayaquil kämpfen gegen Marginalisierung

Seit einigen Jahren wird Ecuador von einer Welle der Gewalt überrollt. Insbesondere die größte Stadt des Landes, die Küstenstadt Guayaquil, ist von der Sicherheitskrise betroffen. Im Wahlkampf der vergangenen Monate wurde die Bekämpfung von Kriminalität teilweise mit reißerischen Reden, teilweise in abstrakten Budgetplänen thematisiert. Wenig Platz in der Diskussion hatten dabei die Menschen, die direkt von der Krise betroffen sind: Jene, die in den marginalisiertesten Vierteln der ecuadorianischen Großstädte leben und ihren Alltag nach den Rhythmen des Kampfs zwischen Banden und staatlichen Sicherheitsorganen ausrichten müssen. Die LN sprachen im Interview mit Evandro Moreno, einem Mitglied der Nachbarschaftsorganisation Movimiento de Barrios en Lucha (MBL) in Guayaquil über den Kampf gegen Gewalt und Staatsterrorismus, die strukturellen Gründe der Gewaltwelle und die Organisierung von Nachbarschaftshilfen für die Orte, aus denen sich der Staat zurückgezogen hat.

Interview: Mario Ramos und Mishelle Calle (Übersetzung: Josefina Lehnen)
Illustration: Mario Ramos

Wie war es, deine Kindheit und Jugend in Guayaquil, insbesondere in der Socio Vivienda (siehe Infokasten) zu verbringen? Welche Orte waren für dich damals wichtig?
Für mich war der Estero Salado (Komplexes Wassernetz in Guayaquil, Anm. d. Red.) mein Lieblingsort: Als ich klein war, konnte ich mit meinen Freunden fischen gehen und Krebse fangen und wir gingen zur Goyena, um Mangos zu sammeln. Die Flussmündung bietet viele Ressourcen, die man in diesem „Betondschungel“, in dem wir jetzt leben, nicht mehr findet. Als ich noch ein Kind war, spielten wir Himmel und Hölle, kegelten, drehten Kreisel und gingen in die Gemeinschaftshäuser, um einen Ort zu haben, den wir mit anderen Menschen teilen konnten. Es gab Platz auf der Straße, um in Ruhe spielen zu können. Ich war auch lange Zeit Teil der Afro-Bewegung, die mich vieles gelehrt und mir dabei geholfen hat, in Gemeinschaft aufzuwachsen. Die Lebensumstände in der Socio Vivienda haben sich jedoch seit der Regierung von Lenín Moreno (2017 bis 2021, Anm. d. Red.) verschlechtert. Durch den Rückgang der Sozialpolitik wurden die Mittel nach und nach gekürzt, was uns das Leben erschwert hat. Hier gab es eine Schule für Menschen mit Behinderungen, eine Schule für Erwachsene ohne Schulabschluss, zwei Kindergärten und einige Kliniken. Aber dann gab es kein Geld mehr und in den Apotheken konnte man nicht einmal Medikamente kaufen.

War Gewalt in den Straßen von Guayaquil schon immer eine Konstante?
Früher gab es eine Art von Gewalt und einen Straßenkodex, bei dem man immer wusste, mit wem man sich nicht anlegen sollte. Du wusstest schon, wer ein Dieb war oder wo man nicht hingehen durfte, und es wurde sich viel um die Kinder gekümmert. Heute gibt es Kinder, die unter Stress und Unterernährung leiden, die sich während der Pandemie isolieren mussten und die Spielplätze nicht mehr nutzen konnten. Das Schlimmste ist, dass einige Kinder Opfer von Gewalt wurden, sie haben Wunden von Granaten. Durch die Welle der Gewalt ist es heute sehr verbreitet, dass Kinder von ihren Eltern überbehütet werden und nicht mehr raus dürfen.

Man könnte annehmen, dass die Arbeit mit Kindern in den Vierteln keine Chance hat, aber die Organisation Movimiento de Barrios en Lucha hat es geschafft, weiterzumachen. Sie ist in Gemeinden wie Monte Sinaí, Socio Vivienda 2 und Isla Trinitaria vertreten und besteht zu großen Teilen aus Hausfrauen. Wie arbeitet ihr?
Einmal im Monat findet eine Versammlung statt, um die Situation in den Vierteln zu analysieren und Themen zu diskutieren, die für die Mitglieder von Bedeutung sind. Zu den Versammlungen gehören auch geschlechtsspezifische Dialoge, denn Frauen sind die treibende Kraft der Organisation, und politische Bewertungen, um die Auswirkungen staatlicher Interventionen in den Gemeinden zu verstehen. Darüber hinaus organisieren wir die gegenseitige Unterstützung zwischen Familien und bieten einen Raum zum Zuhören, um die Beteiligung der Gemeinschaft niedrigschwellig zu gestalten.

Was hat dich dazu bewogen, dem Movimiento de Barrios en Lucha beizutreten?
Meine Motivation war es, aus der Dynamik des bloßen Redens herauszukommen und stattdessen aktiv zur Gemeinschaft beizutragen. Ich wollte Probleme, die in den Vierteln von Guayaquil auftreten, sichtbar machen. Meine Nachbarinnen sagten mir damals mit Tränen in den Augen, dass sie sehr traurig darüber waren, dass ich die Nachbarschaft verlassen musste.

Du musstest dein Viertel damals verlassen und da war deine Familie nicht die einzige. Warum müssen so viele Menschen umziehen?
Die Gewalt zwischen der organisierten Kriminalität und der Polizei ist das Hauptproblem, das uns zum Umzug zwingt. Wegen der Unsicherheit gibt es hier keine Geschäfte und keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, was den Zugang zu jeglicher Art von Ressourcen erheblich erschwert. Selbst um ein Gesundheitszentrum aufzusuchen, müssen die Menschen woanders schlafen, weil der Weg weit und es nachts zu gefährlich ist, um noch nach Hause zurückzukehren. Das Problem ist auch, dass es Menschen gibt, die nichts mit der organisierten Kriminalität zu tun haben, sich aber im Kreuzfeuer zwischen Banden und Polizei wiederfinden.

Mit welchen Mitteln schaffen es die Familien, die über so wenig Ressourcen verfügen, aus den Vierteln wegzuziehen?
Es gibt Familien, die nicht in der Lage waren, vollständig an andere Orte umzuziehen. Familien mit fünf oder sechs Mitgliedern müssen dann drei Mitglieder an einem Ort unterbringen und drei oder zwei weitere Personen an einem anderen. Außerdem gibt es natürlich Menschen, die nicht über die Mittel verfügen, an einem anderen Ort neu anzufangen. Sie können nur dort zurückbleiben und hoffen, dass sich die Dinge ändern.

Welche Politik hat zu dieser dramatischen Situation geführt?
In den Augen der Regierung sind diese Viertel von Guayaquil vor allem die Hauptquartiere krimineller Gruppen wie Los Tiguerones (Drogenkartell, Anm. d. Red.), weshalb staatliche Pläne und Projekte, einschließlich Sportvereine, ihre Aktivitäten aufgegeben haben. Dadurch sind die dort lebenden Familien einer Episode der Vernachlässigung ausgesetzt worden, zusätzlich zu Kriminalisierung und Racial Profiling.
Auch in der Gesellschaft herrscht die Vorstellung, dass das, was aus dem barrio (Viertel, negativ konnotiert, Anm. d. Red.) kommt, per se Gewalt bedeutet. Die Viertel sind enorm stigmatisiert. Das barrio ist kriminalisiert und jeder, der dort lebt, ist in den Augen der Regierung ein Krimineller. In den Augen der Regierung Noboa ist jeder ein Krimineller und wird mit Gewalt behandelt. In gewisser Weise überlässt der Staat also der organisierten Kriminalität die Kontrolle über diese Gebiete. Und die kriminellen Banden schaffen eine alternative Ordnung. So bleibt ein Viertel passiv und überlässt der organisierten Kriminalität ihre Aktivitäten, eine Art alternativer Gesellschaftsvertrag, bei dem die Bewohner des Viertels nicht in das Tun der Banden eingreifen.

Haben die zahlreichen Ausrufungen des Ausnahmezustands durch den Präsidenten Daniel Noboa an der Situation in den Vierteln etwas geändert?
Überhaupt nicht. Die Militarisierung schafft nicht wirklich Sicherheit in den Vierteln. Mit diesem Dekret, das der Staat der Polizei und dem Militär gibt, werden sie motiviert, Machtmissbräuche zu begehen. Das führt unter anderem zu Fällen wie den vier ermordeten Jungen aus Malvinas (siehe LN 608).

Woran arbeitet ihr mit Movimiento de Barrios en Lucha gerade? Wie macht ihr mit diesen Herausforderungen weiter?
Wir konzentrieren uns auf zwei Schlüsselinitiativen: Einerseits eine Lebensmittelkooperative, in der Mütter kochen, um ein Einkommen zu erzielen und die Lebensqualität ihrer Familien zu verbessern, und andererseits eine Textilfabrik, die Kleidung für die Gemeinde herstellt. Darüber hinaus bietet das Bildungsprogramm eine Möglichkeit zur Wiedereingliederung vertriebener Jugendlicher, damit sie wieder zur Schule gehen können. Selbstverwaltung und gegenseitige Hilfe stehen im Mittelpunkt.
Diese Projekte dienen nicht nur der Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse, sondern sind auch eine direkte Antwort auf die systematische Gewalt, unter der die Viertel leiden. Mit diesen Projekten versucht Movimiento de Barrios en Lucha nicht nur, den Menschen Würde zu geben, sondern auch ihre Menschenrechte zu verteidigen, indem sie den Opfern von Gewalt, die oft unsichtbar sind, Unterstützung bietet. Trotz aller Widrigkeiten kämpfen wir weiterhin für Gerechtigkeit, Gleichheit und Wiedergutmachung.

Evandro Moreno ist Soziologe und Masterstudent in Urbanistik an der FLACSO (Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales, Sozialwissenschaftliche Universität in Quito, Anm. d. Red.). Er ist in dem Viertel Isla Trinitaria in Guayaquil aufgewachsen und gehört zu den Familien, die durch die Gewaltwelle aus der Socio Vivienda 2 vertrieben wurden und das Viertel in diesem Jahr verlassen haben. Die Socio Viviendas sind 2010 durch den Ex-Präsidenten Rafael Correa (2007 bis 2017) der Partei Revolución Ciudadana zur Armutsbekämpfung ins Leben gerufene soziale Wohnprojekte. In dem sozialen Wohnprojekt in Guayaquil mangelt es bis heute an grundlegenden Dienstleistungen. 


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