Aktuell | Martinique | Nummer 610 - April 2025

Hinter den Masken die Stimme des Volkes

Auf Martinique ist das Karnevalsfest eine Form des Protests

Von allen kulturellen Höhepunkten der Insel ist der Karneval bei den Einwohner*innen Martiniques zweifellos am beliebtesten. Der Karneval ist eine Zeit des Feierns und der Befreiung, aber auch ein Ort des politischen Protests, der auf eine lange Tradition zurückblickt. Er zieht jedes Jahr Tausende von Tourist*innen an und ist einer der wenigen Karnevals der Welt, der zu 100 Prozent kostenlos ist und an dem alle teilnehmen können. Diese kulturelle Analyse zeigt die Ursprünge und politisch-gesellschaftliche Bedeutung des Karnevals auf der Insel bis in die heutige Zeit auf.    

Von Emelyne Oliny (Übersetzung: Margot Ravereau)

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Djab Rouj beim Karneval 2025 Am dritten Tag der Feierlichkeiten verkleiden sich die Festivalbesucher*innen als Teufel (Fotos: Privat)

Der Karneval auf Martinique hat seine Wurzeln in einer der dunkelsten Perioden seiner Geschichte: der Kolonialisierung. Er entstand in Saint-Pierre, der damaligen Hauptstadt der weißen Kolonialbourgeoisie, und ist das Ergebnis des Zusammentreffens europäischer und afrikanischer Kulturen. Während die Kolonialherren den burlesken Überspanntheiten, die sie aus dem fernen Mutterland importiert hatten, mit Empfängen, gigantischen Buffets und allerlei Unterhaltung freien Lauf ließen, entstand auf der anderen Seite der Plantage ein anderer Karneval. Die versklavten Menschen nutzten diese Momente, um ihre Gegenpartys zu veranstalten, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu dem Karneval entwickelten, den wir heute kennen.

Nachdem sie sich nach 1848 von ihren Ketten befreiten, verankerten die Bewohner*innen von Martinique diese Praxis endgültig in ihren Sitten. Nach dem Dreikönigsfest beleben jedes Jahr an den Wochenenden Umzüge die Insel und bereiten sich auf die opulenten Tage vor, die das Herzstück des Karnevals bilden. In dieser Zeit versammeln sich die Bewohner*innen Martiniques aus allen Bevölkerungsschichten im öffentlichen Raum und feiern ausgelassen. Jeder Tag der Feierlichkeiten folgt festen Regeln und zieht die Menschen in einem fast rituellen Ablauf in seinen Bann. Der Faschingssonntag markiert den Beginn der Feierlichkeiten. Der Montag ist den burlesken Hochzeiten gewidmet, bei denen die Festbesucherinnen für einen Tag die Codes eines anderen Geschlechts annehmen und so mit den gesellschaftlichen Konventionen spielen. Der Dienstag, der beliebteste Tag, ist dem Djab Rouj (kreolisch für „Roter Teufel“) gewidmet, einer Symbolfigur, die aus senegalesischen Initiationsriten hervorgegangen ist. Der Aschermittwoch markiert schließlich das Ende der Feierlichkeiten. An diesem Tag wird der Vaval eingeäschert, ein symbolträchtiges Maskottchen, das jedes Jahr neugestaltet wird, um zu aktuellen Ereignissen zu passen.

Wiederaneignung kolonialer Codes

Der Karneval auf Martinique ist von herausragender kultureller Bedeutung. Er ist seit jeher ein Synonym für das Zusammenleben, für überschwängliche Geselligkeit und unabdingbare Solidarität. Alle versammeln sich auf den Straßen, um in der Gemeinschaft zu singen, zu schreien, zu tanzen und zu lachen.

Es ist deshalb nicht ungewöhnlich, den eigenen Chef im Stringtanga zwischen zwei Fußgruppen tanzen zu sehen – zu den Musikgruppen, die mit traditionellen Trommeln für Unterhaltung sorgen. Diese Gruppen werden immer von ihren Tänzerinnen begleitet und singen scherzhafte Lieder, die auch Gruppen von außerhalb anlocken. Die Schönheit des Karnevals in Martinique kommt hier zum Ausdruck: Er ist einer der wenigen Karnevals auf der Welt, an dem jeder kostenlos teilnehmen kann, ohne Barrieren bezüglich Alter, Geschlecht, Aussehen, sozialem Status oder Einkommen.

Diese Zeit des Feierns bietet eine willkommene Auszeit vom Alltag und seinen einschränkenden Zwängen. Während des Karnevals kann sich jeder frei ausdrücken – innerhalb eines kreativen Raums, der fernab von gesellschaftlichen Normen und Urteilen liegt. Die Karnevalszeit ist somit auch eine privilegierte Zeit für die queere Gemeinschaft Martiniques, die hier einen Ort findet, in dem sie ihre Codes ohne die Angst vor den Repressionen der normalen Zeit leben kann. Während des Karnevals 2024 fand beispielsweise der erste Ballroom (siehe Infokasten) der Französischen Antillen statt, ein historisches Ereignis auf der Insel.

Eine Zeit für Ablenkung und politische Botschaften

Seit dem 17. Jahrhundert ist der Karneval nicht nur ein Fest, sondern auch eine Bühne für Forderungen und politischen Widerstand. Es ist eine Zeit der Euphorie und selbstbewussten Fröhlichkeit. Ähnlich wie die Zeit der Ablenkung, die den versklavten Menschen gewährt wurde, um ihre Revolte zu zerstreuen, ist der heutige Karneval eine Zeit der Entspannung angesichts der oft schwierigen Realität. Doch der Karneval ist weit davon entfernt, die Menschen ruhig zu stellen, wie es sich einst die Kolonisatorinnen und heute gewisse Politikerinnen wünschen. Er eröffnet eher unendliche Möglichkeiten für Forderungen, deren Formen sich im Laufe der Epochen immer wieder erneuern. Die Musik spielt in dieser Zeit eine große Rolle. Traditionalistinnen beschweren sich oft über die expliziten Texte moderner Karnevalslieder, denn diese dienen als Mittel der Mobilisierung und des politischen Protests.

Die Art der Beziehungen, die Martinique bis heute mit seiner ehemaligen Metropole verbinden, verweist auf die anhaltende neokoloniale Haltung, die nicht offen ausgesprochen wird. Die lokale Bevölkerung lebt dort unter Bedingungen, die auf dem französischen Festland undenkbar wären, zum Beispiel die Vergiftung der meisten landwirtschaftlichen Flächen – und ihrer Bewohner*innen – mit Chlordecon. Dieses Pestizid hat den traurigen Weltrekord für Prostatakrebs auf den französischen Antillen begründet. Zu diesem Skandal kommt noch die tägliche Last des „vie chère“ (teures Leben): Ein lokaler Ausdruck für die exorbitanten Preise in einem Gebiet, in dem die Einkommen zu den niedrigsten in Frankreich gehören. Die Preise in Martinique sind im Durchschnitt 40 Prozent höher als in Frankreich. Als sich die Bevölkerung Ende 2024 zum x-ten Mal gegen diese Ungerechtigkeit auflehnte, war die Antwort des französischen Staates Repression. Die französische Regierung setzte die Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) ein. Diese Spezialeinheiten waren seit 1959 auf dem Territorium von Martinique verboten, nachdem sie den Tod von drei jungen Martinikanern bei Demonstrationen verursacht hatten, die bereits damals schon bessere Lebensbedingungen forderten.

Vaval wird passend zu aktuellen Themen gestaltet

Der Karneval ist eine Gelegenheit, um diese Forderungen in den öffentlichen Raum zu tragen, ohne Angst vor einer gewalttätigen Reaktion der Behörden. Darüber hinaus drückt sich die Kreativität auch und vor allem in offen zur Schau getragenen politischen Kostümen aus, die diese Situationen sowie die der sexistischen und sexualisierten Gewalt aufzeigen. Das jährlich thematisch gestaltete Maskottchen, der Vaval, verkörpert diese politischen, sozialen und wirtschaftlichen Realitäten. Der Karneval ist jedes Jahr ein starkes Symbol für die Bekräftigung der lokalen Identität. Die Organisierung eines wilden Karnevals im Jahr 2021 unter den restriktiven Bedingungen der Pandemie hat sowohl den nationalen Behörden in Paris wie auch den lokalen Behörden auf Martinique eine klare Botschaft übermittelt: Der Ausdruck der martinikanischen Identität ist grenzenlos und der Protestcharakter des Karnevals unveränderlich. Als wahre kulturelle Seele der Blumeninsel (der ursprüngliche Name für die Insel, Madinina, bedeutet Blumeninsel und wird auch heute noch häufig verwendet, Anm. d. Red.) katalysiert diese Zeit große Herausforderungen in Vergangenheit und Gegenwart und stellt die Weichen für die Zukunft eines Volkes, das sich ständig mobilisiert.

BEGRIFFE

Djab Rouj: Nach einer Reise in die Region Casemance im Süden Senegals berichtet Aimé Césaire (Dichter und Politiker aus Martinique), dass er den Ursprung der Tradition der Diab Rouj entdeckt hat. So werden diese Masken dort von jungen Männern nach ihrer Beschneidung und Initiation getragen. Die Rinderhörner symbolisieren materiellen Reichtum, während die nebeneinander liegenden Spiegel das Zeichen für Wissen sind (siehe Foto oben). Das, was in Afrika ein Gott war, wurde in Martinique zu einem Teufel: „Der Gott des Besiegten wurde zum Teufel des Siegers.“ (Aimé Césaire).

Ballroom beschreibt eine afroamerikanische und lateinamerikanische Bewegung in der US-amerikanischen LGBTQ-Szene, die in New York City ihren Ursprung nahm. Dabei laufen (das heißt wetteifern) Teilnehmer*innen bei Veranstaltungen mit dem Namen „Ball“ auf einem Catwalk, um in einen Wettkampf verschiedener Kategorien zu gehen.


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