Mexiko | Nummer 329 - November 2001

Hinterhof mit geschlossenen Türen

Interview mit dem mexikanischen Soziologen Onécimo Hidalgo

Onécimo Hidalgo arbeitet als Forscher und Pädagoge beim „Zentrum für Analyse, Forschung und Kommunikation (CIEPAC)“ in San Cristóbal, Chiapas. Er ist Mitautor diverser Analysen zu Militarisierung, Krieg und dem Friedensprozess in Chiapas, neoliberaler Großprojekte und Migration. Die LN sprach mit ihm über die Entwicklungen seit dem Scheitern der Cocopa-Reform, über indigene Rechte und Kultur, die aktuelle soziale und politische Situation in Chiapas und Fox neoliberalen Entwicklungsplanfür Südmexiko und Mittelamerika, den Plan Puebla-Panama.

Anne Becker, Yasmin Córdoba Schwaneberg

Wie hat sich die Situation in Mexiko in den letzten Monaten entwickelt, seitdem in dem Ende April verabschiedeten Gesetz über indigene Rechte und Kultur, die zentralen Punkte des Cocopa-Textes, das Recht auf Autonomie und der Zugang zu den natürlichen Ressourcen des Lebensraums, fehlen?

Als am 27. April der Bundeskongress das Gesetz verabschiedet hat, brach die EZLN ihre Verbindungen zur Regierung ab. Andere bewaffnete Gruppen haben eine Nationale Guerilla-Koordination ins Leben gerufen, in der zum Beispiel Guerillagruppen wie die FARP, EPR und ERPI vertreten sind. Am 4. Mai machten sie der Regierung Fox eine Art Kriegserklärung. Das hat zu einer Verstärkung militärischer und paramilitärischer Aktivitäten nicht nur in Chiapas, sondern auch in Guerrero, Oaxaca, Puebla, Hidalgo und Mexiko-Stadt geführt. Es gab diverse Bombenexplosionen, zum Beispiel als die mexikanische Nationalbank an die transnationale City Group verkauft wurde. Die rechten Kräfte im Land, darunter die PRI und die PAN, haben sofort mobil gemacht. So wurde wieder ein Diskurs verstärkt, in dem alle bewaffneten Gruppen als Terroristen gehandelt werden. Nach Meinung dieser rechten Kräfte muß der Terrorismus nach dem geltenden Recht bekämpft werden, nur dass dies für sie Militär und Repression bedeutet. Ich denke, mit den Terrorattacken in den USA wird Fox bei entsprechender Medieninszenierung eine noch härtere Schiene, zwar nicht gegen die EZLN, aber gegen die bewaffneten Gruppen der Koordination, fahren können.

Und wie hat sich das Klima in Chiapas entwickelt?

Seit dem 5. Mai haben die Paramilitärs wieder angefangen, Gemeinden anzugreifen. Komischerweise gerade zu dem Zeitpunkt, als die Armee ihre Aktivität in Chiapas wieder verstärkte. In letzter Zeit haben Paramilitärs und Großbauern vermehrt Gemeinden von besetztem Land vertrieben. Auch in dem Gebiet der Zona Norte herrscht ein Klima der Gewalt. In weniger als zwei Monaten hat es vier Überfälle auf Polizisten und Militärs gegeben. Meine Hypothese ist, dass die Polizei selbst dafür verantwortlich ist. Mit der neuen Regierung von Pablo Salazar wurde die Polizei von Aufgaben der öffentlichen Sicherheit zurückgezogen. Um zu den gemischten Operationsbasen zwischen Polizei und Militär zurückzukehren, muss die Polizei erst einmal den Anschein erwecken, schutzbedürftig zu sein, um so die Zusammenarbeit mit der Armee zu fordern. Genau das ist durch die Überfälle passiert.

Wie beurteilen Sie die nun gut neunmonatige Amtszeit des parteilosen PRI-Dissidenten Salazar, der immerhin mal gesagt hat, sein Herz schlüge für die PRD? Gibt es Veränderungen durch die neue Regierung in Chiapas oder wiederholen sich die alten Muster?

Zunächst einmal ist mein Eindruck, dass es eine klare Aufgabenteilung zwischen der bundesstaatlichen und der nationalen Regierung gibt. Ich denke, dass die Bundesregierung Salazar zu verstehen gegeben hat, dass er sich aus Themen wie Militarisierung, EZLN, Plan Puebla-Panama und transnationalen Investitionen herauszuhalten habe. Die Bundesregierung hat Salazar Themen wie Gesundheit, Wohnraum und Land überlassen. Die Hoffnungen auf die neue Regierung sind in vieler Hinsicht Enttäuschungen gewichen. Die Regierung verliert bei den sozialen Organisationen auf Grund anhaltender Repression und Menschenrechtsverletzungen und der Räumung von Bauerninstitutionen an Glaubwürdigkeit. Auch der Umgang mit den Paramilitärs enttäuscht viele, denn in den Gemeinden hatte man geglaubt, die neue Regierung würde diese bestrafen, was sie jedoch nicht tut. Es ist zwar richtig, dass 333 Flüchtlinge in ihre Gemeinden nach Chenalhó zurückkehren konnten, aber es sind ebenso viele aus Salto de Agua und Palenque geflohen. Vor diesem Hintergrund traten Ende September acht soziale Organisationen einen Marsch von Tuxtla nach Mexiko-Stadt an, um gegen die Repression zu protestieren und die Verabschiedung der Verträge von San Andrés zu fordern. Wenn man die Regierung von Salazar mit seinem Vorgänger Albores Guillén vergleicht, muss man trotz der Kritik feststellen, dass dies eine Regierung ist, die zum Dialog bereit ist, die zuhört und die zumindest keine autonomen Gemeinden räumt. Aus Angst vor noch mehr Konflikten bewahrt sie einen gewissen Respekt vor der EZLN.

Welche Rolle spielen die lokalen Wahlen am 7. Oktober in Chiapas?

Die Wahlen zum lokalen Kongress sind bedeutsam, denn die PRI hatte hier bis jetzt die Mehrheit. Die PRI hat Finanzierungen und die Arbeit der Regierung im Allgemeinen behindert. Man kann davon ausgehen, dass es nach den Wahlen zu schweren Konflikten kommen wird. Abzusehen sind zum Beispiel die Besetzung von Landkreisverwaltungen. Es treten dieses Mal sehr viele Parteien an, Gewinner wird es deshalb nur auf Grund minimaler Vorsprünge geben. Mit dem Verdacht auf Wahlbetrug werden dann Regierungsgebäude besetzt. Alle Parteien befinden sich momentan in der Krise, überall gibt es interne Spaltungen. Ich glaube, dass sich das günstig für die PAN und PRD auswirken wird.

Gibt es noch eine Möglichkeit, dass die Reform über indigene Rechte und Kultur nicht in Kraft tritt? Wie wird der Kampf heute weitergeführt?

Nach dem Marsch kann man zwei Ebenen beobachten, auf denen der Kampf gegen das Gesetz weitergeführt wird. Zum einen die rechtlich-legale Ebene und zum anderen die faktische Ebene. Bis heute wurden 372 Klagen beim Obersten Gerichtshof eingereicht, der einzigen Instanz, die das Gesetz noch rückgängig machen könnte. Die Anfechtungen kommen aus ganz Mexiko; von Organisationen, Gouverneuren und Landkreisverwaltungen. Gemäß der Angaben des obersten Gerichtshofs könnte bei 500 Klagen das Gesetz zurückgezogen werden. Eine weitere Möglichkeit auf der rechtlichen Ebene ist die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO (ILO), hierbei muss aber eine Gewerkschaft oder eine externe Organisation bereit sein, die Klage einzureichen. Daran wird gerade gearbeitet. Falls die Reform wieder diskutiert werden und das Gesetz über indigene Rechte und Kultur der COCOPA verabschiedet werden sollte, könnte der Friedensdialog zwischen EZLN und Regierung wieder aufgenommen werden. Aber ich sehe da auf kurze Sicht eher schwarz, denn es gibt so viele politische Kräfte im ganzen Land, die sich bekriegen. Die PRI selbst ist nach ihrem Regierungsabtritt nach 72 Jahren wie eine faule Orange auseinander gefallen und zum Vorschein sind all die Würmer und der Gestank gekommen. Neben der rechtlichen Seite wird in vielen Gemeinden auch auf faktische Weise dem Gesetz entgegen gearbeitet. Die Gemeinden leisten zivilen Widerstand und arbeiten an der Verbesserung ihrer politische Artikulationskapazitäten. Ihr Zukunftsprojekt heißt regionale Autonomie und Rebellion, weil sie wissen, dass dieses ihnen die Möglichkeit gibt, sich gegen Firmen und gegen das neoliberale Modernisierungsprojekt, den Plan Puebla-Panama, zu verteidigen.

Was kritisieren die Gemeinden an dem Plan?

Die Menschen stellen sich nicht gegen den Plan als solchen, sondern gegen die Art und Weise wie er ausgeführt und aufgezwungen wird. Denn die Interessen der Kleinbauern sehen sie in keinster Weise berücksichtigt, noch fällt deren Meinung ins Gewicht. Im Gegensatz zu den Anwohnern behandelt der Plan Puebla-Panama den mesoamerikanischen biologischen Korridor als einen Investitionsraum für transnationale Konzerne wie Novartis, Monsanto oder Pulsar. Diese arbeiten vor allem an der Transgenforschung. In Chiapas allein gibt es mehr als 362 Pflanzen, die zu diesem Zweck von Interesse sind. Die Gemeinden haben deutlich gemacht, dass sie sich gegen eine Plünderung der natürlichen Ressourcen wehren werden. Sie sind einverstanden, dass die Konzerne die natürlichen Ressourcen der Region nutzen, wenn sie mit den Gemeinden Vereinbarungen treffen, in denen bestimmte Kriterien festgehalten werden: So müsste ein Teil der Gewinne in Projekte investiert werden, die den Gemeinden zugute kommen. Wenn die Firmen den Regenwald abholzen, müssten sie gezwungen sein, wieder aufzuforsten. Die Gemeinden wollen kein Geld, sie wollen regionale Entwicklung in Bereichen Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft.Der chiapanekische Kongress wurde schon zwei Mal von sozialen Organisationen besetzt, die den Plan aus diesen Gründen ablehnen.

Können Sie etwas näher erläutern, was der Plan alles beinhaltet?

Der Plan läuft unter dem Motto der Entwicklung und der Modernisierung Südmexikos und Mittelamerikas. Er beinhaltet neben der Schaffung eines natürlichen mesoamerikanischen Korridors, ein Infrastrukturprogramm, den Bau von Maquiladoras, die Bekämpfung undokumentierter Migration und die Militarisierung der Region durch die USA und Mexiko. Die Vereinigten Staaten treiben den so genannten Plan Sur voran, der den mexikanischen Isthmus zu einem wirtschaftlichen Megaprojekt machen soll. Die Investoren sind vor allem transnationale Firmen. Vom Golf von Mexiko bis nach Salina Cruz am Pazifik soll eine Art trockener Kanal entstehen, der so genannt wird, weil er den Panamakanal ersetzen soll. Das würde den USA ermöglichen, eine Reihe von kommerziellen Korridoren ineinander zu fügen, in denen die strategischen Punkte die Häfen von Salina Cruz, Acapulco und Manzanillo und Guaymas am Pazifik sind. Dies sind wichtige Punkte im US-amerikanischen Warenverkehr mit dem asiatischen Markt. Begleitet wird dieses Infrastrukturprogramm von einer Militarisierung und Paramilitarisierung der Region. Auch die Migrationsbehörde soll in der Zone operieren. Die USA wollen Sicherheit, denn sie sind mit großen Investitionen wie von International Paper und am Bau von Straßen beteiligt. In Chiapas entstehen auch drei solcher Korridore, zum einen von Marqués de Comillas bis nach Tabasco und zum anderen von großen Teilen der guatemaltekischen Grenze in die Hauptstadt Tuxtla Gutierrez und in Richtung Oaxaca. Es werden jetzt viele Straßen und Eisenbahnstrecken gebaut und ausgebessert, um die Korridore mit dem Rest des Landes zu verbinden.

Nach Meinung einiger Wirtschaftswissenschaftlern existiert der Plan Puebla Panama als global geplantes und koordiniertes Projekt nicht. Auch wäre er nicht lukrativ genug für Investoren, heißt es. Was ist Ihre Sicht der Dinge?

Den Plan gibt es. Am fortgeschrittensten ist er im Bereich der Nutzung der Biodiversität. Aber heute kann man auch sehen, wie zum Beispiel die mexikanische Telefongesellschaft hochmoderne Lichtleitfaserkabel von Chiapas bis nach Panama verlegt oder wie Schnellstraßen gebaut werden. Die Umsetzung des Plans hat also schon begonnen, obwohl die mittelamerikanischen und die mexikanischen Oberschichten sich noch über den zentralen administrativen Ort streiten. In gewisser Hinsicht ist der Plan die Fortschreibung des nationalen Entwicklungsplans von Ex-Präsident Zedillo, der vor allem Privatisierungen vorantrieb. Aber der Plan ist auch von den USA mitausgearbeitet. Kernstück des globalen Plans ist die Verlagerung der Immigrationsabwehr von der langen US-amerikanischen Grenze an den Isthmus von Südmexiko und die guatemaltekische Grenze. Daran sind die USA natürlich sehr interessiert. Das macht den Plan heute auch attraktiver für Investoren, denn durch die Schließung der südmexikanischen Grenze sollen im Süden neue Maquila-Zonen entstehen.

Können Sie diese Strategie der Grenzverlagerung und der Maquilaindustrie etwas genauer erläutern?

Jedes Jahr überqueren mehr als 12.000 Personen die mexikanisch-US-amerikanische Grenze. In den Vereinigten Staaten leben ca. elf Millionen ImmigrantInnen ohne Papiere, davon sind ungefähr drei Millionen MexikanerInnen. Das wird von offizieller US-amerikanischer Seite als ein Problem der nationalen Sicherheit dargestellt. Die USA haben Metallmauern und Sensoren an der 3200 km langen Grenze zu Mexiko errichtet, aber jetzt haben sie gesehen, dass sie das Migrationsproblem verlagern und die schmutzige Arbeit Mexiko überlassen können. Denn hier ist die zu kontrollierende Grenze nur 700 km lang. Für Mexiko gibt es das so genannte Brasero-Programm, welches die Öffnung der Nord-Grenze zu den USA für MexikanerInnen und die Schließung der Süd-Grenze Mexikos für MittelamerikanerInnen vorsieht. Im Tausch dafür, dass Mexiko für die USA die Immigration aus dem Süden zu unterbinden sucht, versprechen die USA MexikanerInnen Arbeitserlaubnisse für die USA. Aber in Wirklichkeit werden den Antragstellern alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt, wie der Nachweis eines Bankkontos und ärztliche Gutachten. Von den 6.000 Anträgen in den ersten drei Monaten haben nur 600 eine befristete Arbeitserlaubnis bekommen. Der Idee nach sollen also die MigrantInnen, die früher in die USA zu gelangen versuchten, in Südmexiko oder Zentralamerika zurückgehalten werden. Dort werden jetzt Maquiladoras gebaut. Es wurden Untersuchungen zu den Migrationsrouten gemacht und dort werden nun die Maquiladoras errichtet. Vor allem in El Salvador und Guatemala gibt es heute Maquiladoras. In San Cristóbal gibt es eine erste, die 1.500 Personen beschäftigt. Die Investoren wollen die billige Arbeitskraft in den Maquiladoras ausnutzen, die nach der Logik des wandernden Kapitals funktionieren. Die Maquiladoras schießen aus dem Boden und verschwinden wieder, wenn ihre Stabilität in Gefahr ist. Die Militarisierung wird nicht nur von mexikanischer Seite vorangetrieben. Es sind heute 12.500 US-amerikanische Soldaten in Guatemala stationiert. Ich denke, der Plan steht in einem größerem Kontext der Militarisierung Lateinamerikas. Für das Anliegen der USA, Lateinamerika zu kontrollieren, ist er eine Ergänzung zum Plan Colombia und zum Andenpakt.

KASTEN:
Unangefochtene Mehrheit für die PRI

Bei den Wahlen vom 7. Oktober in Chiapas erreichte die PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) 21 von 40 Mandaten im Abgeordnetenhaus und stellte 72 von 118 BürgermeisterInnen. An die linke PRD (Partei der demokratischen Revolution) gingen zwei Direktmandate und 19 Bürgermeisterämter; bei der konservativen PAN (Partei der Nationalen Aktion) betrug das Verhältnis eins zu elf. Über zwei Millionen Menschen wurden zu den Urnen gerufen. Die Wahlbeteiligung war mit 51 Prozent nach Angaben der Staatlichen Wahlinstitution IEE allerdings nicht sehr hoch. Dies wurde unter anderem damit begründet, dass viele der eigentlich vorgesehenen Wahlkabinen nicht aufgestellt werden konnten. Die Wahlen forderten ein Todesopfer.


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