Hörbarer Aufstand
Neues Guatemalabuch besticht durch Tiefgang
Guatemala geriet 1986 in die Schlagzeilen. Nach langer Militärherrschaft wurde der Christdemokrat Vinicio Cerezo in formal freien Wahlen zum Präsidenten gewählt. Die bundesdeutsche Regierung meinte, dieses Ereignis ausgerechnet durch Lieferung von Polizeifahrzeugen und -ausrüstung unterstützen zu müssen – zur Stärkung demokratischer Rechtsstaatlichkeit.
Rufen wir uns die Ereignisse noch einmal in Erinnerung: Als die Militärs von 1978-1983 in Guatemala eine “Politik der verbrannten Erde” praktizierten, mußte die BRD wie viele andere Geberländer ihre finanzielle Unterstützung herunterschrauben, wobei bemerkenswert ist, daß sie auch unter einer SPD/FDP-Regierung nie ganz eingestellt wurde. Der “Nationale Plan für Sicherheit und Entwicklung”, der 1982 vom Generalstab der guatemaltekischen Armee vorgelegt wurde, hatte eine gewisse Änderung der politischen Mittel zur Folge: Die Herrschaft von Militär und Großgrundbesitzern sollte nun durch gezielte militärische Schläge gegen die Guerrilla und durch eine breite Anti-Guerrilla-Kampagne gesichert werden, wozu ganze Dörfer zwangsweise “umerzogen” und in sogenannten Zivilpatrouillen zu Handlangern des Militärs gemacht wurden. In diesen Plan paßte es auch, scheindemokratische Institutionen einzurichten, um gegenüber den internationalen Geldgebern glaubwürdiger zu erscheinen.
Die Leichtgläubigkeit der Bundesregierung jedoch war erschreckend. Das offizielle Konzept sah vor, die vom Präsidenten kontrollierte Nationalpolizei als Gegengewicht zum Militär zu stärken – “zu einer wirksamen Verbrechensbekämpfung im Interesse der Bevölkerung und zur Verbesserung der Menschenrechtslage”, wie der Ministerialdirigent im BMZ Schweiger am 22.September 1986 schrieb. Einen Monat später hingegen war im Spiegel zu lesen, daß seit Cerezos Amtsbeginn (14. Januar 1986) bis August 551 Menschen ermordet und 198 verschleppt worden seien und nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen ein Drittel davon “auf das Konto der staatlichen Sicherheitskräfte gehen und politisch motiviert sind.”
Dennoch übergab der deutsche Botschafter in Guatemala am 11. Februar 1987 120 Fahrzeuge und über 140 elektronische Geräte an die Nationalpolizei.
Die Hoffnungen, die in den gewählten Präsidenten gesetzt wurden, waren vergeblich: Die Morde und schweren Menschenrechtsverletzungen ließen nicht nach, und es war offensichtlich, daß staatliche Stellen in Guatemala einen Teil der Verbrechen zu verantworten hatten, Nachforschungen über die Täter verhinderten und die 1985 vom Militär ausgesprochene Selbstamnestie nicht antasteten. Im Jahre 1988 verschärfte sich die Lage, als sich Cerezo nach dem gescheiterten Militärputsch im Mai dazu gezwungen sah, die Nationalpolizei dem Militär einzugliedern. Daß die Polizei im Sinne rechtsstaatlicher Demokratie handeln würde, war spätestens von da an nicht mehr denkbar.
Noch im Jahre 1989 wurde ein Antrag der Grünen im Bundestag bei Enthaltung der SPD(!) abgelehnt, die Polizeihilfe einzustellen. Aber erst als die USA ihre Zahlungen beendete, nachdem bei einem Massaker am 2.12.1990 13 Indígenas ermordet worden waren, zahlte auch die BRD die letzte Million nicht mehr aus.
Selbstverständlich ist die deutsche Polizeihilfe für Guatemala nicht das zentrale Thema des Buches. Worum geht es?
Nachdem der Rowohlt-Verlag ein für Juni 1994 angekündigtes Buch zur Lage in Guatemala (bisher immer noch) nicht herausgebracht hat, bietet Sterrs Buch einen tiefgründigen Einblick in die jüngste Geschichte des Landes und behebt damit den Mangel an einer aktuellen deutschsprachigen Darstellung. Es kommt Sterr vor allem auf die politische Geschichte an. Aber neben den sauber recherchierten, in verständlicher Sprache dargebotenen Fakten und Zusammenhängen ist es ein Buch, das bewegt. Der Autor hat auf seinen Reisen selbst das Land kennenlernen können, und es bestätigt sich die alte Erfahrung: Von soundso vielen Toten und Verletzten zu hören, ist schrecklich, aber doch abstrakt, also unvorstellbar. In seinen Ausmaßen wird das Leiden ahnbarer -begreifbar wohl kaum-, wenn es um den Einzelnen und die Einzelne geht. So fügt Sterr in seinen historischen Bericht zwei Reportagen ein. Hat man sie gelesen, dann bekommt auch der übrige Text ein anderes Gesicht.
Darüber hinaus ist es ihm gelungen, mit wichtigen Personen Guatemalas Interviews zu führen. Das Buch beginnt mit einem Gespräch mit Rigoberta Menchú. Später sind Interviews mit den comandantes der drei Untergruppierungen der Guerrilla URNG eingefügt, die für mich ganz besonders aufschlußreich waren, da es sich nicht um die üblichen Statements handelt, sondern die Befragten, unter ihnen der Sohn des guatemaltekischen Schriftstellers Miguel Angel Asturias, über ihre Herkunft und ihr Selbstverständnis sprechen. Bereits 1990 führte Sterr ein Interview mit dem Ex-Diktator Ríos Montt – dem im Januar 1995 frisch gewählten Parlamentspräsidenten – ; ein Blick aus anderer Perspektive also, der sehr zu denken gibt. Trotz allem Persönlichen verfällt Albert Sterr nicht dem Kult der Betroffenheit, sondern vermag es, fundierte Informationen und Statistiken mit dem alltäglichen Besonderen zu verbinden.
Das Buch schließt mit einer detaillierten Darstellung der Friedensverhandlungen, die bisher noch nicht abgeschlossen sind. So sind allem die sich heute mit Guatemala beschäftigen, breite Kenntnisse an die Hand gegeben, die über das Basiswissen weit hinausgehen.
In seinem Vorwort schreibt Sterr: “(Diese Arbeit)…wendet sich nicht in erster Linie an ‘Guatemala-Fachleute’, sondern richtet sich auch an diejenigen, die zum Beispiel das Land besuchen und sich vorher einen Überblick darüber verschaffen wollen, welche gesellschaftliche Realität die Maya-Ruinen und die indianischen Märkte umgibt.”
Wie schön wäre es, würden sich TouristInnen so vorbereiten.
Valentin Schönherr
Albert Sterr: Guatemala. Lautloser Aufstand im Land der Maya, Neuer ISP Verlag, Köln 1994, 290 S., 36,- DM.