Argentinien | Nummer 297 - März 1999

Hörst du die Ignoranz?

Warum die ArgentinierInnen immer laut sprechen.

Die Stadt, die letztes Jahr Delegierte aus aller Welt empfing, um auf der Weltklimakonferenz über Umweltprobleme zu debattieren,
erscheint nicht oft auf den ersten Plätzen der unzähligen Hitlisten dieser Erde. Um so trauriger ist es, daß sie zu den lautesten Hauptstädten der Welt zählt. Taub und ignorant zeigt sie sich im Hinblick auf ein Thema, das alle betrifft. Wer in Buenos Aires einen Ort sucht, um sich von dem alltäglichen Chaos seiner Straßen ein wenig zu erholen, hat es schwer. Lärmquellen gibt es viele in der Stadt, ruhige Plätze dagegen wenige, und noch geringer sind die Maßnahmen, die gegen diese Form von Umweltverschmutzung getroffen werden. Die große Mehrheit der „Porteños“ lebt mit einem fast unerträglichen Krach, tags wie nachts. Sie sehen in ihm ein unvermeidliches Problem und ziehen es vor, seine Existenz zu ignorieren.

Antje Krüger

Messungen des Lärmpegels in den Straßen von Buenos Aires zeigen deutlich, was alle hören. In den Avenidas Coronel Diaz und Juncal erreicht der Lärm morgens bis zu 96,1 Dezibel (dB), 11 dB mehr als international als schädlich anerkannt ist. Las Heras und Callao sind mit bis zu 95,7 dB belastet und die Avenida El Libertador mit 95,4 dB, um nur einige zu nennen. Aber auch unter der Erde, in der hoffnungslos veralteten U-Bahn, ist der Lärm mit über 90 dB unerträglich. Von 1945 bis 1997 wurden keine Investitionen in dieses Transportmittel getätigt.
70 Prozent der Umweltbelastung durch Lärm wird von sogenannten beweglichen Quellen hervorgerufen – Autos, Bussen, LKWs, Zügen und U-Bahn sowie Flugzeugen und Hubschraubern. Der Rest entspringt festen Quellen wie Industrieanlagen, Handelszentren oder Discos. Insgesamt drehen 9930 Busse mit einem Durchschnittsalter von 5 Jahren und 38.000 registrierte Taxis tagtäglich ihre Runden durch die Stadt. Die Motorräder und Privatautos sind unzählbar. Der Lärm ihrer Motoren, Bremsen und Hupen kann sich zwischen den Hochhausschluchten des Zentrums nicht verflüchtigen. Hinzu kommen andere Geräusche wie die Sirenen der Krankenwagen. Oder die Lautsprecher, mit denen von einem kleinen Lastwagen aus wer weiß was angekündigt wird. Oder die laute Musik der Läden, die KäuferInnen anziehen soll. Oder, oder, oder. Wen wundert’s, daß die ArgentinierInnen im allgemeinen als ein Volk bekannt sind, das sich immer nah an der Grenze des Schreiens unterhält.
Mittel zur Schalldämmung gibt es so gut wie keine. In nur wenigen Straßen wachsen Bäume, die wenigstens einen Teil der Geräusche absorbieren. Entlang der Züge, die die Stadt ähnlich einer S-Bahn durchkreuzen oder aber an den Autobahnen, die mitten durch Wohnviertel führen, wurden nie Lärmschutzwände installiert. Es gibt nicht einmal Bestimmungen, die einen Mindestabstand zwischen Autobahn oder Zug und Wohnhäusern fordern. Und das Baugesetz von 1944 sieht keinerlei Verwendung von lärmdämmenden Materialien vor.
Daneben existieren noch andere, weniger offensichtliche Fälle in Supermärkten, Büros oder Krankenhäusern, die über „Aire Acondicionado“ verfügen. Die Apparate führen zumeist auf einen Innenhof und stören mit ihrem Lärm die AnwohnerInnen, deren Fenster auf den gleichen Hof zeigen. Die gewöhnliche Lösung: nach endlosen Gerichtsverfahren der Nachbarn stellt der Übeltäter Geld zur Verfügung, damit sich diese nun ihrerseits solche Apparate kaufen können – und die Fenster nicht mehr öffnen müssen.

Eine taube Generation

„Nicht jede Art von Lärm ruft Hörschäden hervor“, erklärt Dr. Frederico S. Augspach, Chef der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung des Deutschen Hospitals. „Seine Auswirkungen hängen auch immer von der Dauer und der Dosis ab.“ So ruft ein Geräuschpegel von 85 dB – was dem Klingeln eines Weckers entspricht – nach mehr als 8 Stunden Schädigungen hervor. Bei 90 dB treten Hörschäden nach 4 Stunden auf und bei 100 dB, equivalent zum Lärm eines Müllfahrzeugs, wird das Ohr nach nur 2 Stunden geschädigt. „Der Lärm hat auf das Ohr die gleiche Auswirkung wie ein Lichtblitz auf das Auge. Setzt man das Auge einmalig einem Lichtblitz aus, kann es sich wieder erholen. Genauso wie das Ohr. Geschieht dies aber ständig oder über einen langen Zeitraum, so erleiden sowohl Auge als auch Ohr endgültige, irreparable Schäden. Aber“, fügt Dr. Augspach hinzu, „die Auswirkungen sind noch viel weitreichender. Lärm kann außerdem Spannungen, Streß, Bluthochdruck, Magengeschwüre, Allergien und physische und psychische Ermüdung hervorrufen“. Der Arzt beobachtete in den letzten Jahren einen alarmierenden Anstieg von Schwerhörigkeit unter Jugendlichen, die sich übermäßig lauter Musik aussetzen oder Walkman hören, aber die Gefahr für das Gehör völlig ignorieren. „Wir gehen auf eine Generation von Tauben zu“, befürchtet er. „Das Problem ist, daß niemand diesem Thema Bedeutung beimißt. In dieser Gesellschaft, in der niemand den anderen respektiert, fehlt in dieser Hinsicht vollständig ein kulturelles und soziales Bewußtsein.“

Fehlendes Bewußtsein

Dieses fehlende Bewußtsein spiegelt sich vor allem in der Ignoranz im Hinblick auf Umweltbelastung durch Lärm auf politischer und öffentlicher Ebene wider. Viele negative Antworten kennzeichneten diese Recherche. So gibt es nicht ein Gesetz, daß die BürgerInnen vor Lärmbelästigung schützt. Das Sekretariat für Stadtplanung und Umwelt von Buenos Aires widmet sich, nach Auskunft des Vizesekretärs Juan Rodrigo Walsh, gerade erst seit zwei Jahren diesem Thema. Der Lärm hingegen terrorisiert die Stadt schon seit wesentlich längerer Zeit. Die Projekte dieser Institution scheinen auch nicht viele Fortschritte zu machen. Seit 1996 arbeiten sie an der Erstellung eines Stadtplanes, in dem die Lärmpegel der Straßen dokumentiert werden. Dieser soll später zur Ausarbeitung eines „Masterplans zur Stadtentwicklung und Stadtplanung“ dienen. Obwohl sie bei dieser Arbeit von StudentInnen der Universität von Buenos Aires Unterstützung erhalten, wurde bis jetzt nur im Norden der Stadt Messungen vorgenommen, in einem Terrain von weniger als einem Drittel. Diese Messungen sind zudem äußerst ungenau.
Neben diesem Projekt wurden einige wenige Ideen zur Erweiterung und Erneuerung von Gesetzen auf städtischer Ebene entwickelt, wie zum Beispiel die Modifizierung des Baugesetzes oder die Einführung von Bestimmungen zum Lärmschutz bei der Konstruktion von Autobahnen. Ideen, die angeblich „bald“ umgesetzt werden sollen. Und im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit widmet seine Institution sich eher der prestigewirksamen Organisation des Klimagipfels als der Aufklärung der BürgerInnen. Ein Fakt, der in Argentinien niemanden verwundert, ist doch die Umweltsekretärin Maria Julia Alsogaray eine enge Freundin von Präsident Menem, als Vorbild für alle, die die Karriereleiter in einem der korruptesten Länder der Welt erklimmen wollen, bekannt.
Anfragen in der Abgeordnetenversammlung waren noch weniger erfolgreich. Weder die Umweltkommission noch die Gesundheitskommission realisierten bisher irgendwelche Projekte oder Recherchen zu diesem Thema. Und in der Nationalen Kommission zur Regulierung des Transports (CNRT), die für die Kontrolle über den öffentlichen Verkehr in Capital Federal und den angrenzenden Provinzen zuständig ist, erklärt der Ingenieur Leandro Pello sogar: „Der Lärm macht uns keine Sorgen mehr, dieses Problem haben wir überwunden.“ Wer einmal in Buenos Aires mit Bus, U-Bahn oder Zug gefahren ist, weiß, daß man sich nur mit Mühe gegen den Krach des Motors verständigen kann. Aber die Leute beschweren sich nicht, sagt Marta Esteves, verantwortlich für die Beschwerden in der gleichen Kommission. „Der alltägliche Lärm ist etwas, was sie schon verinnerlicht haben. Außerdem regen die wenigen, die kommen, sich über etwas auf, das erlaubt ist.“ Richtig, sowohl das Verkehrsgesetz als auch die Verfassung von Buenos Aires legen Grenzen für den Geräuschpegel eines Automotors fest. Diese sind allerdings sehr hoch. Sie bestimmen beispielsweise für Busse, die vor dem 01. 01.1997 produziert wurden, je nach Typ einen Lärmpegel von 89 bis 91 dB und für die, die nach diesem Datum auf den Markt kamen, 78 bis 83 dB. Während in Europa schon längst die Norm Euro 3 für thermo-akustischen Schutz von Motor und Karosserie gilt, ist es in Argentinien erst in diesem Jahr gelungen, die Norm Euro 2 gegen die Lobby von Mercedes Benz und den privaten Busunternehmen durchzusetzen. Und auch das nur mit vielen Ausnahmen bei den neuesten Modellen. Da die Busse in Buenos Aires 10 Jahre lang verkehren dürfen, ist eine komplette Erneuerung des Fuhrparks nicht vor 2008 zu erwarten. Eine regelmäßige technische Kontrolle der Privatautos wurde erst in diesem Jahr eingeführt, und die der Busse ist sehr in Frage zu stellen. Sie unterliegt zwar staatlicher Verantwortlichkeit, wird aber von privaten Unternehmen durchgeführt, die mit Sicherheit gute Geschäfte in diesem System sehen. „Denn“, fragt Manuel Ludueña von der Umweltorganisation Fundación Buenos Aires Alerta, „wer kontrolliert die, die kontrollieren?“. Auch der Ombudsmann der Stadt, Antonio Cartaña, hat seine Zweifel: „Die großen Transportunternehmen haben viel Einfluß auf die Politik, die sie ihrerseits mit impliziten Zuschüssen unterstützt. So kontrolliert beispielsweise keiner, wieviele Passagiere ein Bus wirklich tagtäglich befördert, so daß auch die Steuern dementsprechend ungenau ausfallen. Und auch die obligatorische technische Kontrolle wird sicherlich weniger strikt durchgeführt als vorgesehen.“ Eine Anfrage beim Ombudsmann der Nation, der für den öffentlichen Verkehr zuständig ist, bestätigt den Verdacht, daß hier etwas verdeckt wird. Sein Pressesprecher, Juan José Larrea, erklärte, es gäbe „keine Beschwerden, die man veröffentlichen könnte oder die von Interesse sein könnten“.

Alarmierte Stimmen

Gerade mal eine Umweltorganisation, die Fundación Buenos Aires Alerta, hat in ihr Programm auch den Kampf gegen den Lärm in der Stadt aufgenommen. Sie wollen in erster Linie ein Bewußtsein dafür wecken, daß die Minderung des alltäglichen Krachs in der Hand jedes einzelnen liegt. Ihre Vorschläge zur Eindämmung des Verkehrs und zur Förderung öffentlicher Transportmittel sowie des Fahrrads sind eng an europäische Vorbilder angelehnt. „Aber“, sagt Manuel Ludueña, „die Leute sind zu sehr mit ihrem täglichen Überleben beschäftigt, als daß sie sich Themen widmen würden, die in ihren Augen weniger wichtig, ja Luxus sind.“
Auch Dr. Augspach hat sich mit anderen Ärzten in der Kommission für den Kampf gegen die Taubheit zusammengeschlossen. Ihr Wirkungsbereich ist allerdings noch geringer. „Nicht einmal die Ärzte erkennen die Notwendigkeit, dem Lärm entgegenzutreten. Das deutsche Hospital steht mitten in einer der lautesten Avenidas von Buenos Aires, aber es werden absolut gar keine Maßnahmen zum Schutz der Patienten vor dem Autolärm getroffen. Niemand möchte zusätzliche Gelder ausgeben.“

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