Aktuell | Musik | Nummer 608 - Februar 2025

Hommage an antikolonialen Widerstand

Bad Bunnys neues Album DeBÍ TiRAR MáS FOToS

Am 05. Januar 2025 veröffentlichte Bad Bunny sein neuestes Album DeBÍ TiRAR MáS FOToS und sorgt seitdem für weltweite Furore: Innerhalb kürzester Zeit landete es auf dem ersten Platz der Billboard Top Album Charts, wobei jeder der insgesamt 17 Songs in den Billboard Hot 100 Charts gelistet ist. Damit ist Bad Bunny der erste lateinamerikanische und allgemein erst der zwanzigste Künstler, der die Marke von 100 Songs in den Billboard Hot 100 Charts geknackt hat. Sein Werk sprengt jedoch nicht nur Rang-listen in der Musikbranche, sondern auch die Berichterstattungen renommierter Mainstream-­medien allerorts. Camila Schmid Iglesias kommentiert das Album im Kontext der politischen Situation der Herkunftsinsel des Sängers, Puerto Rico, aber auch in Verbindung mit der Realität der Heimat ihrer Mutter, Kuba.

Von Camila Schmid Iglesias
Albumcover DeBÌ TiRAR MáS FOToS (Foto: Rimas Entertainment)

Sogar deutschsprachige Medien wie Die Zeit und Der Standard preisen Bad Bunny als den „neuen King of Pop“ und das Album als „sein bisher politischstes Werk“ an. Darüber hinaus werden auch die Sozialen Medien mit einschlägigen Postings aus aller Welt geflutet. Einige dieser Postings zeigen nostalgische Bilder und Kurzvideos von verlassenen Heimatorten und zurückgelassenen Familienmitgliedern. Andere lassen sich dem politischen Online-Aktivismus zuordnen. Was alle Beiträge gemeinsam haben, ist die kollektiv empfundene Nostalgie und Verzweiflung an den Schnittstellen von Kolonialismus, Imperialismus, Gentrifizierung, Korruption, Flucht und Migration. Bad Bunnys Hommage an sein widerständiges Puerto Rico berührt über seine Boricua-Community (so werden die Bewohner*innen Puerto Ricos genannt, Anm. d. Red.) hinaus auch weitere lateinamerikanische und internationale Communities, die ähnliche Wunden und Narben aufgrund von systemischer Gewalt auf ihrer Haut tragen.

Bad Bunny, bürgerlich Benito Antonio Martínez Ocasio, wurde 1994 in Puerto Rico geboren und wuchs mit seinen Eltern und zwei jüngeren Brüdern im Viertel Almirante Sur in Vega Baja auf. Sein Vater arbeitete als LKW-Fahrer, während seine Mutter als Lehrerin tätig war. In einem Interview für das Magazin GQ – Gentlemen’s Quarterly aus dem Jahr 2022 erzählt Benito, wie er bereits als Kind seine Vorstellungskraft, Kreativität und Musikaffinität auslebte, sei es durch Fantasiespiele oder stundenlanges Musikhören. Er bescheibt sich als schüchternen und zurückhaltenden Jungen, der es dennoch liebte, andere mit seinem Humor zum Lachen zu bringen. Diese Eigenschaften spiegeln sich heute deutlich in seiner Kunst wider. Von der Art und Weise, wie er ein neues Album ankündigt, bis hin zu seinen einzigartigen Genre-Mischungen und seinem individuellen Kleidungsstil, der bewusst mit Gendernormen bricht. Benito ist seit jeher ein Künstler, der nicht nur musikalische Grenzen auslotet, sondern auch gesellschaftliche Erwartungen infrage stellt.

„Du hörst hier Musik aus Puerto Rico”

Seine ersten Bühnenerfahrungen sammelte er im Kirchenchor und bei Talentshows in der Schule. Später begann er ein Studium der Visuellen Kommunikation an der Universidad de Puerto Rico in Arecibo, brach dieses jedoch ab und arbeitete kurz vor dem Start seiner musikalischen Karriere als Einkaufsverpacker in einem Supermarkt. Obwohl Benito schon früh wusste, dass er Künstler werden wollte, war es ein enger Freund, der ihm half, seinen Perfektionismus und seine Selbstkritik zu überwinden. Dieser Freund, Ormani Pérez, überzeugte ihn damals, erste Songs auf SoundCloud zu veröffentlichen. Heute ist Pérez Bad Bunnys offizieller DJ und begleitet ihn weiterhin auf seinem Weg. Trotz seines Ruhms und Reichtums ist Benito seinen engsten Vertrauten und seinen Wurzeln treu geblieben. Diese Verbundenheit bedeutet auch, dass Bad Bunny ein Familienmensch ist, der seine Privatsphäre schätzt und bewusst versucht, sich nicht von seinem Erfolg verändern zu lassen. Seine Musik, die er trotz des internationalen Erfolgs weiterhin auf Spanisch produziert, mache er „als ob nur Puertoricaner*innen sie hören würden.“

Migration und Diaspora Sowohl für Puerto-Ricaner*innen als auch für Kubaner*innen eine häufige Realität

„Wie wird Bad Bunny der König des Pop? Ja ey – und zwar mit Reggaeton und Dembow”

DeBÍ TiRAR MáS FOToS ist Bad Bunnys sechstes Studioalbum und markiert den bisherigen Höhepunkt seiner Karriere. Es ist aufgrund seiner musikalischen Vielfalt und gesellschaftlichen Relevanz schon jetzt eines der bedeutendsten künstlerischen Werke des Jahres 2025 – möglicherweise sogar des Jahrzehnts. Benito beweist darin erneut sein Talent, in genreübergreifenden Experimenten einzigartige Sounds zu kreieren, die gleichzeitig kulturelle Traditionen bewahren und neu aufleben lassen. Besonders hervorzuheben ist die starke Einbindung Indigener, Schwarzer und lateinamerikanischer Rhythmen wie Salsa, Bachata, Plena, Bomba, Bolero und Jíbaro. Die stilistische Tiefe seines neuen Albums hat ihm nicht nur bei seiner meist jüngeren Fangemeinde Anerkennung eingebracht, sondern auch bei älteren Generationen Respekt gewonnen, die seiner Musik bislang oft kritisch gegenüberstanden. Die Songs auf DeBÍ TiRAR MáS FOToS laden zum Tanzen ein: von Perreo (ein intensiver, körperbetonter Tanzstil, geprägt durch Hüftbewegungen im Rhythmus des Reggaeton) wie bei „VOY A LLeVARTE PA PR“ bis hin zu Salsa wie etwa bei „BAILE INoLVIDABLE“.

„Niemand wollte von hier weg. Und wer gegangen ist, träumt davon, zurückzukommen“

Doch das Album ist weit mehr als eine musikalische Revolution. Es thematisiert die politische Realität Puerto Ricos und trifft einen Nerv bei Menschen vor Ort und in der Diaspora. In „LO QUE LE PASÓ A HAWAii“ kritisiert Bad Bunny die US-Politik und die anhaltende Vernachlässigung Puerto Ricos. „TURiSTA“ prangert die Ignoranz von Tourist*innen an, die das Land besuchen, ohne sich mit den Lebensrealitäten von Puertoricaner*innen auseinanderzusetzen. Der Song „DtMF“ beklagt die Verluste, die diejenigen erlitten haben, die aufgrund der oben genannten Umstände gezwungen waren, das Land zu verlassen, den Schmerz der Trennung und die Sehnsucht nach Erinnerungen mit den Liebsten.

Diese Themen sind nicht nur universell, sondern auch zutiefst persönlich. Als Tochter einer kubanischen Mutter fühle auch ich mich angesprochen: Puerto Rico und Kuba haben beide unter dem Kolonialismus und Imperialismus der USA sowie der innenpolitischen Unterdrückung, Korruption und Ineffizienz gelitten. Die Bewohner*innen beider Inseln mussten zusehen, wie Massen an Menschen gehen und flüchten. Bad Bunny schafft es, diese Realitäten in seiner Musik auf eindringliche Weise zu verarbeiten und so aufzuzeigen wie die Kämpfe derjenigen, die zurückbleiben, mit denen der Diaspora verflochten sind.

Bad Bunnys politisches Engagement ist nicht neu. Die Texte in DeBÍ TiRAR MáS FOToS veranschaulichen seine anhaltende Kritik an imperialistischer Unterdrückung und systemischer Ungerechtigkeit, sowohl durch externe Einflüsse wie die Politik der USA als auch durch innenpolitische Probleme. Lieder wie „DtMF“ und „LO QUE LE PASÓ A HAWAii“ sind ein klarer Appell. Für das gute Leben für alle müssen wir beides ablehnen: imperiale Vorherrschaft und innenpolitische Komplizenschaft. Der Kampf für eine gerechte und lebenswerte Zukunft endet nicht an den Grenzen Puerto Ricos oder Kubas. Die Systeme, die unsere islas bellas entrechten und, im Falle Kubas, mit Embargos belegen, sind auch diejenigen, die die weiße Vorherrschaft und die materielle Ungleichheit überall aufrechterhalten. Sorgen wir dafür, dass diese Lieder nicht nur zu Hymnen der Nostalgie und Verzweiflung werden, sondern zu Protestaufrufen für antikolonialen Widerstand und schließen uns dem Ruf an: „Caribbean Lives Matter. No justice, no peace.“


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren