Literatur | Nummer 239 - Mai 1994

“Homo Elendsviertel” in Peru

“Homo Elendsviertel” in Peru

“Ganz Lateinamerika ist überbevölkert”, läßt uns der französische Journalist Jean-Michel Rodrigo gleich im ersten Satz wis­sen. Eigentlich geht es in seinem Buch um die peruanischen Volksbewegungen. Aber am Anfang steht das Schwelgen in den ganz großen Problemen Lateinamerikas. Kein Klischee läßt Rodrigo dabei aus: “Die Bauern auf ihren einsamen Gehöften träumen. Von einer besseren Zukunft, …, von Freizeit und Bequemlichkeit. …. Eine neue Menschenart ist geboren worden, der “Homo Elendsviertel”, eine Kreuzung aus den Ausgebeuteten der Städte und den Ausgebeuteten der Felder.” Und so geht es auf den folgenden 220 Seiten weiter.

Ulrich Goedeking

“Der dritte Sendero: Weder Leuchtender Pfad noch Fujimori, die Alternative der peruanischen Volksbewegungen” hat der Züricher Rotpunktverlag die deutsche Übersetzung betitelt. Ein vielversprechen­der Auftakt für alle, die weder im Terror Sendero Luminosos noch im hemmungs­losen Kapitalismus Fujimoris eine demo­kratische Perspektive entdecken können. Nur hält das Buch nicht, was der Titel verspricht. Zunächst einmal schreibt Jean-Michel Rodrigo nur über Lima, die Pro­vinz ist kein Thema. Sendero Luminoso wird ebenso in einem Unterabschnitt ab­gehandelt wie die Regierungszeit von Fu­jimori. Letzteres kann nicht überraschen, baut Rodrigo doch den größten Teil des Buches auf einem längeren Peru-Aufent­halt Ende der 80er Jahre auf, noch vor dem Regierungsantritt Fujimoris. Daraus resultiert auch die große Schwäche seiner Beschreibungen Limas. Der Reportagestil suggeriert Aktualität, aber wenn Rodrigo von Hyperinflation und von Spekulation mit Lebensmitteln berichtet, ist das längst Geschichte und hat mit den Problemen des täglichen Lebens im heutigen Lima nicht mehr viel zu tun.
Jean-Michel Rodrigo geht es in bester lin­ker Tradition um “das Volk”. Die vier Ka­pitel beschäftigen sich mit den Landbeset­zungen in Lima und mit der Organisation des Überlebens. Kapitel 3 trägt die schwülstige Überschrift “Die wiederge­fundene Ehre der Frauen”, und im letzten Kapitel “Die Wegkreuzungen” erscheinen schließlich auch die Akteure, die Peru in den letzten Jahren geprägt haben: die Neoliberalen und Sendero Luminoso.
Susan George, Leiterin des “Transnational Institute Amsterdam”, schreibt in ihrem Vorwort: “Sie werden in diesem Buch …[keine] kindliche Linksromantik fin­den…”. Sie muß ein anderes Buch gelesen haben, denn sobald es um “das Volk” geht, romantisiert es heftig auf fast jeder Seite. Da beschwört Rodrigo mit Ausru­fungszeichen “die Solidarität des bäuerli­chen Kollektivs”, die auch in der Stadt funktioniere, und das für seine Selbstver­waltung berühmte limenische Stadtviertel Villa El Salvador wird “von 300.000 un­beugsamen Menschen bewohnt”. Asterix läßt grüßen. “Sieben Jahre lang bin ich durch die Elendsviertel von Lima gezo­gen”, so Rodrigo, “In diesem Buch lasse ich die Menschen so oft wie möglich zu Wort kommen. Ich habe mich bemüht, die Spontaneität ihrer Berichte zu respektie­ren… .” Lange Originalzitate hat Rodrigo zwar in seinen Text eingebaut, aber er re­duziert die existierenden Menschen zur Schablone, eben zur Gattung “Homo Elendsviertel”: eine Schablone für die Träume eines linken Intellektuellen vom “guten und solidarischen Volk”. Eine Schablone, die nichts über Peru, aber viel über einen Jean-Michel Rodrigo aussagt, der in sieben Jahren offenbar nur gesehen hat, was er sehen wollte.
Gerade einmal in Randbemerkungen er­scheinen zum Beispiel die heftigen Kon­flikte zwischen StraßenhändlerInnen um die guten Standplätze, wie sie in Lima an der Tagesordnung sind. Mit keinem Wort erwähnt Rodrigo, wie viele Bewoh­nerInnen der pueblos jóvenes die linken politischen Sprüche nicht mehr hören können, wie tief ihr Mißtrauen gegen alle “Politik” ist, weil sie gerade von denen, die ständig von Solidarität und Kampf re­deten, so oft enttäuscht worden sind. Ver­geblich warten die LeserInnen auf Erhel­lendes, wie angesichts der Krise der “Volksbewegungen” die von ihnen ausge­hende Alternative aussehen könnte. Eine Krise im übrigen, die nicht erst mit Fuji­mori begann, sondern 1989 längst schon offensichtlich war. Jean-Michel Rodrigo stört es nicht. Er konstruiert Heldinnen und Helden, solidarisch und kämpferisch: Sozialkitsch pur.
Der Anspruch, die BewohnerInnen der Vorstädte Limas als Menschen ernst zu nehmen, bleibt dabei auf der Strecke. Ge­meinsamen Kampf um Land und Wasser, um das Recht, auf der Straße zu verkaufen und um Bildung gibt es immer noch, trotz aller Krise der “Volksorganisationen”. Aber Rodrigo stellt sich gar nicht erst die Frage, unter welchen besonderen Bedin­gungen, aus welchen individuellen Strate­gien heraus solches kollektives Handeln entsteht. Oder eben auch oft nicht entsteht. Was im “Dritten Sendero” übrigbleibt, ist nur noch schwärmerische Verklärung, ein Mythos, aber kein Bild von Realität.

Jean Michel Rodrigo: “Der Dritte Sendero. Weder Leuchtender Pfad noch Fujimori, die Alternative der peruanischen Volksbewegungen”. Rotpunkt­verlag, Zürich 1993

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