“Homo Elendsviertel” in Peru
“Homo Elendsviertel” in Peru
“Der dritte Sendero: Weder Leuchtender Pfad noch Fujimori, die Alternative der peruanischen Volksbewegungen” hat der Züricher Rotpunktverlag die deutsche Übersetzung betitelt. Ein vielversprechender Auftakt für alle, die weder im Terror Sendero Luminosos noch im hemmungslosen Kapitalismus Fujimoris eine demokratische Perspektive entdecken können. Nur hält das Buch nicht, was der Titel verspricht. Zunächst einmal schreibt Jean-Michel Rodrigo nur über Lima, die Provinz ist kein Thema. Sendero Luminoso wird ebenso in einem Unterabschnitt abgehandelt wie die Regierungszeit von Fujimori. Letzteres kann nicht überraschen, baut Rodrigo doch den größten Teil des Buches auf einem längeren Peru-Aufenthalt Ende der 80er Jahre auf, noch vor dem Regierungsantritt Fujimoris. Daraus resultiert auch die große Schwäche seiner Beschreibungen Limas. Der Reportagestil suggeriert Aktualität, aber wenn Rodrigo von Hyperinflation und von Spekulation mit Lebensmitteln berichtet, ist das längst Geschichte und hat mit den Problemen des täglichen Lebens im heutigen Lima nicht mehr viel zu tun.
Jean-Michel Rodrigo geht es in bester linker Tradition um “das Volk”. Die vier Kapitel beschäftigen sich mit den Landbesetzungen in Lima und mit der Organisation des Überlebens. Kapitel 3 trägt die schwülstige Überschrift “Die wiedergefundene Ehre der Frauen”, und im letzten Kapitel “Die Wegkreuzungen” erscheinen schließlich auch die Akteure, die Peru in den letzten Jahren geprägt haben: die Neoliberalen und Sendero Luminoso.
Susan George, Leiterin des “Transnational Institute Amsterdam”, schreibt in ihrem Vorwort: “Sie werden in diesem Buch …[keine] kindliche Linksromantik finden…”. Sie muß ein anderes Buch gelesen haben, denn sobald es um “das Volk” geht, romantisiert es heftig auf fast jeder Seite. Da beschwört Rodrigo mit Ausrufungszeichen “die Solidarität des bäuerlichen Kollektivs”, die auch in der Stadt funktioniere, und das für seine Selbstverwaltung berühmte limenische Stadtviertel Villa El Salvador wird “von 300.000 unbeugsamen Menschen bewohnt”. Asterix läßt grüßen. “Sieben Jahre lang bin ich durch die Elendsviertel von Lima gezogen”, so Rodrigo, “In diesem Buch lasse ich die Menschen so oft wie möglich zu Wort kommen. Ich habe mich bemüht, die Spontaneität ihrer Berichte zu respektieren… .” Lange Originalzitate hat Rodrigo zwar in seinen Text eingebaut, aber er reduziert die existierenden Menschen zur Schablone, eben zur Gattung “Homo Elendsviertel”: eine Schablone für die Träume eines linken Intellektuellen vom “guten und solidarischen Volk”. Eine Schablone, die nichts über Peru, aber viel über einen Jean-Michel Rodrigo aussagt, der in sieben Jahren offenbar nur gesehen hat, was er sehen wollte.
Gerade einmal in Randbemerkungen erscheinen zum Beispiel die heftigen Konflikte zwischen StraßenhändlerInnen um die guten Standplätze, wie sie in Lima an der Tagesordnung sind. Mit keinem Wort erwähnt Rodrigo, wie viele BewohnerInnen der pueblos jóvenes die linken politischen Sprüche nicht mehr hören können, wie tief ihr Mißtrauen gegen alle “Politik” ist, weil sie gerade von denen, die ständig von Solidarität und Kampf redeten, so oft enttäuscht worden sind. Vergeblich warten die LeserInnen auf Erhellendes, wie angesichts der Krise der “Volksbewegungen” die von ihnen ausgehende Alternative aussehen könnte. Eine Krise im übrigen, die nicht erst mit Fujimori begann, sondern 1989 längst schon offensichtlich war. Jean-Michel Rodrigo stört es nicht. Er konstruiert Heldinnen und Helden, solidarisch und kämpferisch: Sozialkitsch pur.
Der Anspruch, die BewohnerInnen der Vorstädte Limas als Menschen ernst zu nehmen, bleibt dabei auf der Strecke. Gemeinsamen Kampf um Land und Wasser, um das Recht, auf der Straße zu verkaufen und um Bildung gibt es immer noch, trotz aller Krise der “Volksorganisationen”. Aber Rodrigo stellt sich gar nicht erst die Frage, unter welchen besonderen Bedingungen, aus welchen individuellen Strategien heraus solches kollektives Handeln entsteht. Oder eben auch oft nicht entsteht. Was im “Dritten Sendero” übrigbleibt, ist nur noch schwärmerische Verklärung, ein Mythos, aber kein Bild von Realität.
Jean Michel Rodrigo: “Der Dritte Sendero. Weder Leuchtender Pfad noch Fujimori, die Alternative der peruanischen Volksbewegungen”. Rotpunktverlag, Zürich 1993