„Ich glaube an die Fähigkeit der Sprache, Realität zu schaffen“
Interview mit der mexikanischen Schriftstellerin Cristina Rivera Garza

Sie sind in diesem Jahr Kuratorin des ilb. Wie lief der Auswahlprozess der Schriftsteller*innen und der Themen?
Jede kuratorische Arbeit bedeutet zunächst einmal Teamarbeit. Ich bekam den Auftrag, gemeinsam mit einem sehr aktiven und dynamischen Team einen Teil des Festivals zu kuratieren. Mich interessiert und ich schreibe selbst Literatur, die in engem Kontakt mit den Gemeinschaften steht, aus denen sie hervorgeht. Ich glaube an die Fähigkeit der Sprache, Realität zu schaffen und an die Fähigkeit der Literatur, Kräfte in der Sprache zu wecken und wiederzubeleben.
Aus diesem Grund war es mir wichtig, dass wir auf dem Festival einen Raum für Gespräche schaffen, die auch in den Büchern stattfinden. Eines der wichtigsten Themen dabei sind Migrationbewegungen. Ich selbst war fast mein ganzes Leben lang eine migrantische Schriftstellerin und bin der weltweiten Angriffe bewusst, unter denen migrantische Gemeinschaften heutzutage leiden. Ein Großteil der Eingeladenen dieses Festivals hat persönliche oder literarische Erfahrung mit diesem wichtigen und unvermeidlichen Thema.
Ein anderes wichtiges Thema sind für mich inter- und transdisziplinäre Übungen innerhalb der Texte, Mut und formale Kühnheit. Es gibt zum Beispiel eine Theatergruppe, die eine Performance mit Bezug auf das Buch der lateinamerikanischen Schriftstellerin Liliana Colancio aufführen wird. Dieses Spiel mit Genres ist mir wichtig. Ich glaube, dass es eine wesentliche Beziehung zwischen Literatur und Aktivismus gibt. Sie ist ein weiteres unumgängliches Element der Welt, in der wir leben.
Welche Rolle spielt die Literatur in der Politisierung des Erinnerns und des Schmerzes?
Ich bin der Überzeugung, dass ich beim Schreiben eine Sprache nutze, die nicht mir gehört. Es ist eine Sprache, die ganzen Gemeinschaften von Sprechern gehört. Eine Sprache, die bereits mit Geschichte behaftet ist. Ich ergänze meine eigene Geschichte mit ihren Konflikten, Hoffnungen und Visionen. Dort beginnt für mich die Beziehung zwischen dem Literarischen und dem Politischen. Ich sage „das Politische” statt „die Politik”, weil ich denke, dass es sich um zwei verschiedene Dinge handelt. In der Sprache werden verschiedene Formen der Hierarchie überprüft und bekämpft, es werden Gesprächs- und Handlungsfelder eingeschränkt oder erweitert. Deswegen denke ich, dass es eine Beziehung und eine Verantwortung derer gibt, die eng mit der Sprache arbeiten und den vielfältigen Realitäten, die wir mit ihr durchlaufen. Für mich ist es weniger eine Frage des Themas oder des Gegenstandes, sondern vielmehr eine Frage, die mit den Materialien selbst zu tun hat, die Teil der Handlung oder dieser Praxis sind.
Sehen Sie sich als Aktivistin?
Auf unterschiedliche Art: Ich bin zum Beispiel nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Professorin in den USA. Ich leite seit einigen Jahren ein Doktoratsstudium für kreatives Schreiben in spanischer Sprache. Das Programm wurde 2017 ins Leben gerufen, gerade als das Weiße Haus Spanisch von seiner Website entfernte. Der Höhepunkt war vor nicht allzu langer Zeit, nachdem Englisch zur offiziellen Sprache der Vereinigten Staaten erklärt wurde, was es zuvor noch nie gegeben hatte. Für mich ist die Leitung dieses Programms, in dem wir Schriftsteller, die in den USA auf Spanisch schreiben, beherbergen und eng mit ihnen arbeiten, ohne Zweifel eine Art von Aktivismus. Vielleicht ist der wichtigste davon ein linguistischer Aktivismus − nicht nur die Verteidigung der Sprache, sondern auch die Verteidigung der Gemeinschaften, die sich in dieser Sprache ausdrücken, leben, träumen und hoffen. Die USA sind nach Mexiko das zweitgrößte spanischsprachige Land der Welt. Das gibt uns eine Vorstellung, welche Bedeutung die Gemeinschaft und ihre Sprache in den Vereinigten Staaten heute haben.
Sie arbeiten viel mit dem Thema Grenzüberschreitung und Migration. Wie überschreiten Sie Grenzen?
Ich wurde in Matamoros im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas, direkt an der Grenze zu den Vereinigten Staaten geboren. Fast mein ganzes Leben lang habe ich an Grenzen gelebt. Ich war 20 Jahre in San Diego, wo ich oft die Grenze zur mexikanischen Stadt Tijuana überquert habe. Ich komme aus einer Tradition von Generationen von Grenzbewohnern. Ich habe dazu ein Buch geschrieben, Autobiografía del algodón (Autobiographie der Baumwolle), das hoffentlich bald ins Deutsche übersetzt wird, in dem ich die Migrations- und Grenzerfahrungen meiner Großeltern mütterlicherseits untersuche. Das heißt, die Grenze hat mich in vielerlei Hinsicht durchquert, sie ist Teil meiner Familiengeschichte, meiner persönlichen Geschichte und meiner Arbeit. Es gibt ein Bestreben, Grenzen zu überschreiten, zum Beispiel formale Grenzen, Geschlechtergrenzen und literarische Genregrenzen. Es gibt ein Beharren, in den Bereichen und Kulturen zu arbeiten, in denen sich verschiedene Disziplinen berühren. Ich habe zum Beispiel gerade das studiert: erst Theologie, dann Geschichte. Aber ich lese viel zu Anthropologie, zu Philosophie und zu Literatur natürlich, und mich interessieren die bildenden Künste und zeitgenössische Kunst. Ich versuche diese Interessen in die Bücher, die ich schreibe, einfließen zu lassen. Ich bin also von Geburt an, aber auch aus eigener Entscheidung Grenzgängerin, und deswegen beleuchte ich die Problematik der Grenzen, ihre tödliche Macht und die Notwendigkeit, sie zu überschreiten.
Welche Grenze fällt schwer zu überschreiten?
Es gibt in Lilianas unvergänglicher Sommer eine letzte Grenze, die Grenze zwischen Leben und Tod. Ein Teil der Erfahrung beim Schreiben dieses Buches, das sich mit dem Femizid befasst, dem meine Schwester 1990 zum Opfer fiel, ist es festzustellen, wie durchlässig diese Grenze ist, wie viele Wege es hin und zurück gibt. Die Tatsache, dass die Toten bei uns bleiben − wie unsere Großeltern und Vorfahren wussten − dass sie die Grenze überschreiten, diese letzte Grenze, die zwischen Leben und Tod existiert.
Welche Hürden gab es beim Schreiben von Lilianas unvergänglicher Sommer?
Ich glaube in diesem Fall war ein ausschlaggebender Punkt die Sprache, die in den letzten zehn, 20, 30 Jahren eine sehr starke feministische Bewegung und machtvolle Frauen hervorgebracht hat. Ich glaube, dass wir jahrelang aufgrund der patriarchalen Narrative nicht über ausreichende Konzepte verfügten, um Geschichten der geschlechtsspezifischen Gewalt zu erzählen. Und zwar aus der Sicht der Frauen, ihrer Familien und ihrer Gemeinschaften. Ich glaube uns fehlte − mir persönlich fehlte − die Entwicklung einer Reihe von Begriffen und Konzepten, die uns jetzt ermöglichen, die patriarchalen Narrative zu untergraben, zu hinterfragen, zu kritisieren und die Stimme und die Erfahrung von Frauen in den Mittelpunkt zu stellen. Um diese Geschichten kritisch zu erzählen, auf eine andere Art, auf eine Art, die sich den Krallen des Patriarchats entzieht.
Was muss in den heutigen Diskurs in Deutschland eingebracht werden?
Ich denke, mit den eingeladenen Schriftsteller*innen des Internationalen Literaturfestival Berlins machen wir einen guten Anfang. Es handelt sich um migrantische Schriftstellerinnen und Schriftsteller und engagierte Aktivisten. Sie sind Teil einer aktuellen zeitgenössischen Debatte. Sie sind vor allem unglaublich intelligent und verfügen über eine unerschütterliche Sensibilität. Leute wie Javier Zamora, der in seinem autobiografischen Buch Solito davon erzählt, haben persönliche Erfahrung damit, was es bedeutet, in sehr jungen Jahren ein ganzes Land zu durchqueren. Es war eine gefährliche Reise, dort hinzugelangen, wo er heute lebt. Ich beziehe mich hier auf Javier, aber Claudia Donosa und Roxana Crisólogo könnten das Gleiche erzählen, auch Gabriela Wiener, von Velia Vidal ganz zu schweigen. Ich denke hier haben wir Personen, mit einer tiefen persönlichen Erfahrung, die sie erforscht und zum Ausdruck gebracht haben, in einer sehr angespannten, dringlichen, aber auch freudigen Sprache. Ich vertraue also darauf, dass sie mit ihrer Intelligenz und Leidenschaft Gespräche anregen können, die für unsere Zeit von grundlegender Bedeutung sind.
CRISTINA RIVERA GARZA
Schriftstellerin und Dozentin, lehrt Hispanistik an der University of Houston. Sie studierte Soziologie an der Universidad Nacional Autónoma de México und promovierte in Lateinamerikanischer Geschichte in Houston. Rivera Garza hat zahlreiche Literaturpreise erhalten, darunter den Anna Seghers-Preis und den Pulitzer-Preis 2024 für ihr Buch Lilianas unvergänglicher Sommer, das sich mit dem Femizid an ihrer Schwester Liliana befasst. Cristina Rivera Garzas Schreiben überschreitet Genregrenzen. Sie verbindet literarisches Schreiben und wissenschaftliche Forschung.





