„Ich hätte das Gleiche getan“
Der Fall von Yakiri Rubí Rubío zeigt exemplarisch, wie die mexikanische Justiz aus Vergewaltigungsopfern Täterinnen macht
„Wir sind nicht alle – es fehlt Yakiri!“ skandieren die rund 25 Frauen, die zu Trommelschlägen und Rasseln um zehn Uhr morgens Richtung Frauentrakt des Gefängnisses Santa Martha Acatitla im Osten von Mexiko-Stadt zieht. Fast alle haben ihre Gesichter mit Sonnenbrillen, Tüchern, Mützen oder Masken des mexikanischen Wrestlings unkenntlich gemacht. Die meisten tragen T-Shirts mit der Aufschrift „Ich hätte das Gleiche getan! Freiheit für Yaki!“ Die Gruppe gehört dem Komitee zur Freilassung von Yakiri Rubí Rubío an. Die 20-jährige Frau ist seit dem 9. Dezember unter Verdacht des Mordes in Haft, nachdem sie sich gegen eine Vergewaltigung zur Wehr setzte, wobei einer der Täter starb. Sollte sie verurteilt werden, drohen ihr bis zu 60 Jahre Haft.
„Zeig dich, Vergewaltiger!“ ruft die Gruppe vor dem Gebäude. Hier findet heute die erste richterliche Anhörung von Luis Omar Ramírez Anaya statt, Bruder des toten Vergewaltigers und mutmaßlicher Komplize. Ebenso wird der Besitzer des Hotels, in dem die Vergewaltigung stattfand, seine Aussage machen, und auch Yakiri erneut vernommen werden. In das Gebäude kommen weder die Unterstützungsgruppe noch die Presse, die Anhörung ist nicht öffentlich. Ramírez Anaya ist durch die Glasscheibe kaum erkennbar, er hat sich mit dem Rücken zur Glasfront hinter einer Säule versteckt, so gut es geht. Eine der Frauen befestigt ein Schild in Pfeilform mit der Aufschrift „Vergewaltiger“ an der Glasscheibe, daneben ein Plakat „Komplizenschaft ist auch Feminizid“. Allerdings ist Luis Omar – ebenso wie der Hotelbesitzer – nur als Zeuge geladen, nicht als Beschuldigter. „Es ist völlig unverständlich, warum Yakiri im Knast sitzt, während dieser Luis Omar frei herumläuft“, sagt Majo, eine spanische Journalistin, die sich seit Längerem mit dem Fall beschäftigt. Es ist nur eine der zahlreichen Merkwürdigkeiten in diesem Fall, bei dem, so die Aktvist_innen, Yakiri durch legitime Selbstverteidigung einem weiteren Feminizid zuvorgekommen ist.
Der Begriff „Feminizid“ bezeichnet den Mord an einer Frau aufgrund ihres Geschlechts, mit ihm verweisen feministische Akademiker_innen und Aktivist_innen auf die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen die Morde begangen werden. Da Feminizide keine isolierten Einzeltaten, sondern Ausdruck struktureller Gewalt darstellen, leiten sie hieraus eine Verantwortung von Gesellschaft und Staat ab (siehe LN-Dossier „Frauenmorde in Zentralamerika und Mexiko“). Der Prozess gegen Yakiri zeigt, dass der Staat dieser Verantwortung in keiner Weise nachkommt.
Laut der Aussage von Yakiri, die über ihren Vater und ihre Anwältin der Öffentlichkeit bekannt ist, befand sie sich am Abend des 9. Dezembers auf dem Weg zu ihrer Freundin. Zwei Männer auf einem Motorrad näherten sich ihr und fragten, ob sie eine Runde mitfahren wolle. Diese Männer waren die Brüder Miguel Ángel und Luis Omar Ramírez Anaya. Als Yakiri ablehnte, zwangen die Brüder sie mit gezogenem Messer aufzusteigen und fuhren mit ihr zu dem nahe gelegenen Hotel Alcázar. Die Hotelmitarbeiter begrüßten Miguel Ángel wie einen Bekannten, ohne Registrierung, ohne Bezahlung oder Aushändigung eines Schlüssels nahm er sie mit in ein offenes Zimmer. Sein Bruder Luis Omar kam später dazu. Yakiri flehte die beiden an, ihr nichts zu tun, doch Miguel Ángel schlug und vergewaltigte sie. Weil sie sich wehrte, verletzte der Aggressor sie mit einem Messer an Rücken und Armen. Während der Tat verließ Luis Omar das Zimmer. Um zu verhindern, dass Miguel Ángel ihr das Messer in die Brust stieß, ergriff Yakiri mit beiden Händen das Messer, schaffte es, es umzudrehen, und verletzte den Vergewaltiger am Hals. Daraufhin hielt sich der Täter die offene Wunde zu, nahm seine Kleider und verließ den Raum. Yakiri floh aus dem Zimmer zur Rezeption, dort forderte sie die Mitarbeiter auf, ihr zu helfen und die Täter festzunehmen; sie hätten sie vergewaltigt und versucht zu töten. Da ihr niemand half, kehrte sie auf das Zimmer zurück, nahm ihre Kleider und rannte auf der Suche nach Hilfe halbnackt auf die Straße. Als sie eine Polizeipatrouille erblickte, hielt sie diese an und berichtete kurz, was passiert war. Die Polizisten brachten sie daraufhin zur nächstgelegenen Zweigstelle der Staatsanwaltschaft. Während Yakiri erzählte, was passiert war, betrat Luis Omar die Behörde. Yakiri schrie: „Das ist der andere, der auch dabei war!“ Doch dieser erwiderte: „Miststück, ich bringe dich um, du hast meinen Bruder getötet!“ Diese Behauptung reichte den Behörden offenbar, damit Yakiri vom Opfer zur Beschuldigten wurde. Seitdem ist sie in Haft. Am 10. Dezember wurde sie in das Frauengefängnis Santa Martha Acatitla gebracht und später in das Gefängnis im Stadtteil Tepepan verlegt, wo sie sich bis heute befindet. Luis Omar ist dagegen weiterhin auf freiem Fuß.
„Erst am nächsten Tag um halb zwölf wurden wir verständigt, dass unsere Tochter in Haft ist“, erzählt José Luis Rubío, der Vater von Yakiri. Sie habe ihre ersten Vernehmungen ohne anwaltlichen Beistand machen müssen. „Ihre Rechte wurden verletzt“, bestätigt Yakiris Anwältin, Ana Suárez. Edith López vom Komitee zur Freilassung Yakiris äußerte gegenüber den Medien: „Der Untersuchungsrichter, der die formelle Haft anordnete, hat dies getan, ohne je persönlich Yakiri angehört oder ihre Motive untersucht zu haben.“ Laut Anwältin Suarez fand die gynäkologische Untersuchung erst einen Tag später statt. Dabei sei nicht festgehalten worden, ob es Verletzungen gab oder nicht. „Das reicht einfach nicht,“ so Suárez. Auch die Pille danach sei ihr verweigert worden.
Insgesamt zehn schwere Unregelmäßigkeiten im Umgang der Untersuchungsbehörden mit dem Fall nennt das Komitee. So sind verschiedene Beweismittel „verschwunden“, die die Aussage von Yakiri stützen, dass sie in legitimer Selbstverteidigung gehandelt habe. Laut Anwältin Suárez fehlen in der Prozessakte entscheidende Seiten von der Vernehmung Yakiris in der Tatnacht. Laut der lokalen Staatsanwaltschaft PGJDF soll Yakiri den 37-jährigen Miguel Ángel Ramírez Anaya mit 14 Messerstichen getötet haben. Doch das forensische Gutachten, das die Verteidigung Yakiris in Auftrag gegeben hat, erklärt, dass die meisten Wunden dem Toten erst post mortem zugefügt wurden. Ebenso irritierend ist der Umgang der Staatsanwaltschaft von Mexiko-Stadt mit den Fotos, die von Yakiri in der Tatnacht gemacht wurden. „Diese Fotos zeigen den tiefen Messerstich, den einer der Täter meiner Tochter an einem Arm zugefügt hat. Ebenso zeigen sie ihre Verletzungen am Rücken und Blutergüsse an verschiedenen Körperstellen durch Messerstiche und Schläge“, berichtete der Vater Yakiris dem Internetportal Animal Político. Doch von allen Fotos seien nur zwei von ihrem Gesicht, die am wenigsten aussagekräftig sind, in die Untersuchungsakte aufgenommen worden. „Von den restlichen Fotos behauptet die PGJDF, dass sie auf mysteriöse Weise verschwunden seien.“
Über eine anonyme Quelle seien seiner Familie aber Kopien aller Fotos zugespielt worden, so José Luis Rubío. „Wir fordern jetzt über die Menschenrechtskommission Mexiko-Stadts, dass diese Fotos wieder Eingang in die Akte finden, da sie ein fundamentales Beweismittel dafür sind, dass meine Tochter nicht nur Opfer von Entführung und Vergewaltigung, sondern auch Opfer der schlechten Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft ist.“ Um den Druck auf die Behörden zu erhöhen, beschloss die Unterstützungsgruppe für Yakiri Anfang Februar, diese Fotos auf der Facebook-Seite „Yakiri libre“ zu veröffentlichen.
„Alles, was Du sagst, ist Lüge, Lüge, Lüge!“ ruft das Unterstützungskomitee vor dem Gefängnisgebäude, in dem Luis Omar Ramírez Anaya seine Aussage macht. Über ein Interview in der Zeitung Milenio ist seine Behauptung bekannt, er habe zur Tatzeit Girlanden für die Festlichkeiten zum Tag der mexikanischen Nationalheiligen Jungfrau Guadalupe aufgehängt. Sein Bruder sei blutüberströmt nach Hause gekommen und dort gestorben. Er habe die Ambulanz gerufen, die ihn zum Ministerio Público geschickt habe, wo er Yakiri wiedererkannt habe. Miguel und Yakiri hätten seit längerem eine Affäre gehabt.
Die Untersuchungsbehörden teilen diese Behauptung und gaben sie bereits kurz nach der Tat an die Presse weiter. Als Beweis gaben sie ans, dass sie im Anrufregister der Handys von Yakiri und Miguel Ángel mehrere gegenseitige Anrufe gefunden hätten. „Es gibt keine offiziellen Gutachten diesbezüglich“, sagt hingegen Yakiris Anwältin López, „so ein Register kann leicht gefälscht werden. Bis jetzt haben die Behörden keine richterliche Anordnung angefordert, dass die Telefongesellschaften die entsprechenden Daten herausgeben. Der Richter erfindet eine Geschichte, dass es eine Liebesbeziehung zwischen Yakiri und Miguel gegeben habe; Anschuldigungen, die überhaupt nicht mit den Beweisen übereinstimmen“, so López weiter. Der Richter begründete die Haftanordnung unter anderem mit drei Liebesbriefen von Miguel, die in der Tasche Yakiris gefunden wurden. Dabei stellte sich schnell heraus, dass diese von eine Nachbarn Yakiris mit dem gleichen Namen stammten, der dies sofort bestätigte. Doch der Richter ignorierte diese Erklärungen. „Meine Tochter ist keine Geliebte oder Bekannte von diesem Miguel“, äußerte Luis José Rubío bei mehreren Gelegenheiten: „Sie ist lesbisch.“ Anwältin Suárez stellt fest: „Selbst wenn Yakiri und ihr Aggressor sich gekannt haben sollten, ist das irrelevant, da es sich um eine Vergewaltigung handelt.“ Yakiris Vater fügt hinzu: „Das ist eine machistische Haltung der Behörden. Sie wollen die öffentliche Meinung glauben machen, dass die angebliche Tatsache, dass meine Tochter diesen Typ gekannt habe, ihm und seinem Bruder das Recht gebe, meine Tochter zu entführen, zu schlagen und zu vergewaltigen.“
„Herr Richter, Sie haben auch Frauen in der Familie. Geben Sie zu, dass Sie einen Fehler gemacht haben und lassen Sie Yakiri frei!“ Norma Andrade hat das Megaphon ergriffen. Sie ist die Symbolfigur in Mexiko im Kampf gegen Feminizid und die Straflosigkeit der Täter. Nach der Vergewaltigung und Ermordung ihrer damals 19-jährigen Tochter Alejandra im Jahr 2001 in der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juárez hat sie die Nichtregierungsorganisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa („Unsere Töchter sollen nach Hause zurückkehren“) gegründet. Trotz Morddrohungen und Anschlägen setzte sie ihren Kampf fort. Unter Tränen erinnert sie heute an ihre Tochter und weist auf die Ähnlichkeiten mit dem Fall Yakiri hin.
Der Fall Yakiri Rubí Rubío ist symptomatisch für das Thema Feminizid in Mexiko. Einige Bereiche der Gesellschaft betrachten Frauen, besonders junge Frauen, als Freiwild, mit denen ein Mann machen kann, was er will. Dabei werden sie von Teilen der Behörden unterstützt, sei aus Schlamperei oder Voreingenommenheit gegen die Opfer, sei es, um die Täter aus unbekannten Gründen zu schützen. Yakiri ist zudem eine junge Frau aus Tepito, einem armen Viertel in Mexiko-Stadt, mit einer der höchsten Kriminalitätsraten. Dies macht sie offenbar verdächtig. Viele Kommentare – auch von Frauen – in sozialen Netzwerken und Medienartikeln stellen sie als unglaubwürdiges Flittchen dar, das schon irgendwie selbst schuld sein wird.
Andererseits erfährt Yakiri breite Solidarität und Aufmerksamkeit. Ihrem Unterstützungskomitee gehören eine Vielzahl von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen an, wie Nuestras Hijas de Regreso a Casa, Pan y Rosas, Schwulen- und Lesbengruppen, die Nationale Assoziation Demokratischer Anwält_innen und Einzelpersonen wie die bekannte Journalistin Lydia Cacho. Auf der Facebook-Seite „Yakiri Libre“ treffen Solidaritätsbekundungen aus ganz Mexiko ein, in vielen anderen Städten haben sich Komitees für ihre Freilassung gegründet. Selbst Massenmedien wie TV Televisa und konservative Tageszeitungen haben über den Fall berichtet. Der großen Aufmerksamkeit und dem öffentlichen Druck, die ihr Fall hervorgerufen haben, dürfte es geschuldet sein, dass die mexikanische Justiz nicht mehr nur den „Mordfall“ verfolgt, sondern inzwischen auch ein Verfahren wegen Vergewaltigung eröffnet hat.
Die größte Hoffnung setzten die Unterstützer_innen Yakiris aber in die Überprüfung des Falls durch ein übergeordnetes Gericht, das die Verteidigung Yakiris mit Hilfe der Menschenrechtskommission angestrengt hat. Dieses Gericht könnte, wenn es Formfehler erkennt oder zu dem Schluss kommt, dass es sich um legitime Selbstverteidigung handelte, den Mordprozess beenden und Yakiris Freilassung anordnen. Die zuständige Richterin Celia Marín Sasaki hat bereits angekündigt, die Genderperspektive berücksichtigen zu wollen. Diese ließ der bisherige Richter schmerzlich vermissen.
Bis in die Nacht dauert die Anhörung an. Anwältin Suárez erklärt anschließend den wartenden Journalist_innen, dass sich Luis Omar in zahlreiche Widersprüche verwickelt habe. Bis zum Ende der Anhörung haben die Aktvist_innen über ein Megaphon Reden gehalten und einen Riesenlärm veranstaltet, der auch im Inneren des Gebäudes hörbar gewesen sein muss. „Wir werden keine Ruhe geben, bis Yakiri frei ist!“, kündigt eine der Vermummten an. Weitere Aktionen sind bereits geplant.