Literatur | Nummer 408 - Juni 2008

„Ich trage Mexiko-Stadt mit mir herum wie den Panzer eines Gürteltiers“

Ein Interview mit dem mexikanischen Schriftsteller Guillermo Fadanelli

Eigentlich ist Mexiko-Stadt der bestimmende Schauplatz von Guillermo Fadanellis Texten. In letzter Zeit taucht in Artikeln und Kolumnen des 1963 in der mexikanischen Hauptstadt geborenen Schriftstellers und Herausgebers jedoch auch ein ganz anderer Ort an der Seite der Megacity auf: Berlin, die Stadt, in der er bis Ende März ein Jahr als DAAD-Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms zu Gast war. Rückblickend erzählt der Autor am Ende seines Aufenthalts von seinen Eindrücken von Deutschland, mexikanischen und deutschen Stereotypen und den größten Unterschieden zwischen Berlin und seiner Heimatstadt.

Interview: Inga Opitz

Sie haben jetzt fast ein ganzes Jahr in Berlin verbracht. Wie würden Sie diese Zeit rückblickend beschreiben?

Ich war 1985 schon einmal kurz davor, Berlin zu besuchen, so dass ich mehr als zwanzig Jahre lang eine mythische Vorstellung von dieser Stadt mit mir herumtrug. Ich kann meine Erfahrung noch nicht genau definieren, aber ich habe festgestellt, dass ein Jahr aus vier Jahreszeiten besteht und dass jede einzelne auf ihre Weise dein Gemüt beeinflusst. Ich habe so viel Bier getrunken wie nie zuvor und habe mich von der deutschen Sprache einschüchtern lassen. Berlin ist eine bewohnbare Stadt ohne ein deutliches Zentrum. Sie ist nicht rau oder ungastlich wie Paris oder Mexiko-Stadt. Die Gesamtheit meiner Erfahrungen in Deutschland war stimulierend und gleichzeitig gut für meine Gesundheit. In Mexiko-Stadt habe ich mich unter ständiger Anspannung befunden, inmitten der Drogen, der Nacht, dem Bedürfnis zu verschwinden und der Selbstzerstörung.

Was gefällt Ihnen an Deutschland – und was nicht?

Mich ziehen Teile seiner Philosophie an (Nietzsche, Gadamer und Sloterdijk), seine Literatur und die Straßenkünste, seine Flüsse und die Bereitschaft der Menschen zum Trinken und geselligen Zusammensein. Was ich nicht mag, sind die Hochmütigkeit, die man hier in Argumentationen antrifft, oder eine gewisse nationalistische Arroganz, die in einigen Bereichen der Gesellschaft offensichtlich wird. Ich hasse den Bären Knut und das Getue, das um ihn gemacht wird, aber Berlin scheint mir die bewohnbarste Stadt zu sein, in die mein verirrtes Dasein je einen Fuß gesetzt hat.

Welche Vorstellungen von Deutschland hatten Sie, bevor Sie nach Berlin kamen?

Ich hatte in jeder Hinsicht ein militärischeres Bild von diesem Land. Ich dachte, dass die Ordnung die Deutschen zu fehlender Differenzierungsfähigkeit und in die technologische Barbarei führen würde. Ich habe mir die Deutschen weder so gesellig noch so feinfühlig in so vielen Aspekten vorgestellt. Vielmehr habe ich sie mir idealistisch, verrückt, soldatisch und romantisch ausgemalt, aber das war nur eine Vorstellung, schließlich ist jede Person, wenn sie etwas wert ist, eine Ausnahme im Ganzen: eine Rarität.

Welche Vorstellungen von Deutschland und den Deutschen hat man Ihrer Meinung nach in Mexiko?

Für die Mexikaner ist Deutschland das unbekannte Europa. Oder wenigstens das Land, wo dieses unbekannte Europa beginnt. Die Vorstellung, die man sich von Deutschland macht, ist hauptsächlich mit den Weltkriegen des letzten Jahrhunderts verknüpft. Deutschland, das war das Niederträchtige, das es zu besiegen galt. Wir sind mit Kriegsfilmen aufgewachsen, die von den USA produziert wurden und in denen die Deutschen Außerirdische waren, die eine unverständliche Sprache sprachen und die Welt beherrschen wollten. An zweiter Stelle steht der Fußball. Die deutsche Fußballnationalmannschaft hat bei all den Mexikanern Spuren hinterlassen, die begeisterte Fans dieser Sportart sind – und das sind sie fast alle. Das beliebteste Auto in Mexiko war für Jahrzehnte der Volkswagen, und mein Großvater kaufte ausschließlich deutsches Werkzeug für Schreiner- oder Maurerarbeiten. „Wenn es nicht deutsch ist, taugt es nichts“, sagte er.

Wie haben Sie sich von den Deutschen wahrgenommen gefühlt?

Sie betrachten mich mit einem gewissen Befremden. Ich verstecke mich gern. Ich bin schüchtern, auch wenn ich nicht so wirke. Ich betrinke mich, um überleben zu können. Dennoch glaube ich, dass wir in Bezug auf soziale Aspekte weitgehend verschieden sind. Für mich existiert keine definitive Idee (alles lässt sich verhandeln), sagen wir, ich bin eher sokratisch als idealistisch, und ich bin politisch unkorrekt. Ich hasse es, wenn sich mir eine Moral oder ein ‚Muss’ aufdrängt und ich verstehe die zivilisierte Gesellschaft als eine Gemeinschaft Verschiedener, nicht als ein Heer aus gleichen Wesen.

Oft wird von der Peripherie gesprochen, wenn Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens gemeint sind. Was halten Sie von dieser Kategorisierung? Fühlen Sie sich als Bewohner der Peripherie?

Ja, natürlich. Ich ziehe die Griechen den Azteken vor, aber ich mag das Europa der großen Technologie nicht, die Globalisierung und die stählernen Grenzen. Ebenso wenig die historische Arroganz, besonders, wenn man an die Tatsache denkt, dass die Massenvernichtungen und die blutigsten Kriege in Europa stattgefunden haben. Die mexikanische Kultur ist sehr umfassend und in Deutschland unbekannt. Die Vielfalt der mexikanischen Küche lässt sich mit keiner anderen vergleichen, außer mit der spanischen. Das beste an der mexikanischen Gesellschaft sind seine Künstler und Arbeiter, das Schlimmste seine Unternehmer und Politiker. Den Unternehmern fehlt es an humanistischer Vision, und die Politiker sind Gauner und korrupt: beide Lager haben die Gesellschaft dieses Landes zu Grabe getragen und sie dazu verdammt, in der Peripherie zu leben.

Worin bestehen Ihrer Meinung nach die größten Unterschiede zwischen Berlin und Mexiko-Stadt?

Berlin ist bewohnbarer, während in Mexiko-Stadt jeglicher Respekt dem Anderen gegenüber fehlt, der Bürger existiert nicht, man streitet sich in den Straßen um das Recht, respektiert zu werden. Die Peripherie von Mexiko-Stadt ist monströs: Armut überall, Rohheit, Zynismus, Tod. Berlin ist als Stadt und im Ganzen schöner, außerdem lebt man hier nicht am Rande des Chaos wie in Mexiko-Stadt, wo das öffentliche Verkehrssystem miserabel ist, die öffentlichen Gesundheits- und Ausbildungseinrichtungen (mit Ausnahme der UNAM) schlecht sind und der Unterschied zwischen den sozialen Klassen abgrundtief. Aber das Essen ist sehr gut und vielfältig. In Mexiko-Stadt gibt es zwar auch bewohnbare Viertel, aber es sind wenige, und es gibt zu viele Autos. Das Fahrrad existiert nicht, und es gibt auch keine Flüsse oder Seen, die die Stadt freundlicher gestalten würden. Trotz allem, wenn du Mexiko-Stadt wirklich gut kennst und dich in ihr zu bewegen weißt, kann sie auch verführerisch sein, sie ist eine harte Droge, die abhängig macht, eine ästhetische Hölle, aber letztendlich doch eine Hölle.

Wie war es für Sie, in Berlin zu schreiben, mit all den kulturellen, klimatischen und sozialen Unterschieden im Vergleich zu Mexiko-Stadt?

Ich trage Mexiko-Stadt mit mir herum wie den Panzer eines Gürteltieres, es fällt schwer, sich zu distanzieren, und so versuche ich es erst gar nicht. Jede Stadt, so versuche ich es mir vorzustellen, ist nicht mehr als ein Bühnenbild, und letztendlich ist man immer allein – mit sich selbst und im Angesicht des Todes.

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