„Ich werde niemals aufhören zu suchen“
Zehn Jahre Staatsverbrechen ohne Aufklärung

Wo stehen Sie auf der Suche nach Gerechtigkeit für Ihren vor zehn Jahren verschwundenen Sohn heute?
Es macht mich sehr wütend und erfordert sehr viel Tapferkeit, zu sehen, wie wir betrogen wurden. Bald sind es zehn Jahre und wir haben immer noch keine Antworten. Der Präsident hat uns persönlich versprochen, dass er uns bei der Aufklärung hilft und dass die Untersuchungen gute Fortschritte machen. Das war auch der Fall, bis wir dann beim Militär angelangten. Dort kam der Prozess ins Stocken, da ging es plötzlich nicht mehr weiter. Bis heute haben wir keine wissenschaftlich belegte Erklärung, was mit unseren Kindern passiert ist. Sie sagen, dass sie tot sind, dass sie nicht mehr existieren, aber sie geben uns dafür keine Beweise. Wenn es stimmt, dass sie getötet wurden, sollen sie es uns beweisen, uns ihre Überreste geben. Es sind zehn Jahre des Leidens, der Wut, der Tapferkeit, des Weiterkämpfens.
Zu sehen, dass du so viel gemacht und versucht hast und immer noch keine Antworten erhälst, ist schwer und tut weh. Es ist nicht nur mein Leiden, sondern auch das meiner anderen Kinder. Auch sie leiden. Sie sind alleine, weil ich so viel unterwegs bin, um nach Jorge zu suchen und Antworten zu fordern. Für uns ist es einfach nur schmerzhaft, zehn Jahre voller Schmerzen und Leid.
Haben Sie das Gefühl, Fortschritte gemacht zu haben?
Eigentlich haben wir überhaupt nichts erreicht. Es ist genau wie am ersten Tag. Wir haben keine Antworten, keine Klarheit, was mit ihnen geschehen ist. Wir haben absolut gar nichts.
Man kann sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, das eigene Kind so zu verlieren. Ich sehe ein Foto von ihm, ich sehe seine Gitarre, ich sehe seine Sachen, sein Bett, in dem er geschlafen hat, und ich denke: Mein Gott, wird mein Sohn nie wieder zurückkommen? Wird es einfach so bleiben, als wäre er für immer verschwunden? Als wäre er einfach von der Welt verschwunden. Das tut mir weh. Ich komme nach Hause, sehe sein Foto und denke: „Mein Sohn, wo bist du? Gib mir ein Zeichen, bitte gib mir irgendetwas.“
Wie war Ihr Sohn, bevor er verschwand?
Er war ein guter Junge. Ich sage das nicht nur, weil ich seine Mutter bin, nein, er war es wirklich. Er rauchte nie, er trank kein Bier. Er kam nur mit seiner Gitarre nach Hause und spielte für uns im Hof. Dort setzte er sich hin und sang. Das vermissen wir jede Nacht. Wir denken an ihn, wir gehen nach draußen, wo wir saßen, um ihm zuzuhören, und er ist nicht da. Nichts ist da. Dort sang er seine Lieder, die er lernte, während er Gitarre spielte, denn er hat sich das Gitarre spielen selbst beigebracht. Nur übers Internet, er hatte keinen Lehrer.
Er wollte Arzt werden, aber wie das nun mal vor allem auf dem Land so ist, hat man kaum Möglichkeiten, viel Geld zu verdienen, um für die Ausbildung zu zahlen. Also ging er auf die Escuela Normal (staatliche Schule, die Pädagog*innen ausbildet; Anm. d. Red.), um Lehrer zu werden. Dann verschwand er.
Warum suchen Sie nach so vielen Jahren immer noch weiter?
Ich werde weiterhin nach ihm suchen, solange Gott mir das Leben schenkt und soweit meine Kräfte es mir erlauben. Auch Krankheiten und all das spielen langsam eine Rolle. Aber solange ich in der Lage bin, nach meinem Sohn zu suchen, werde ich das tun. Ich habe geschworen niemals damit aufzuhören. Eine Mutter würde niemals aufhören, nach ihrem Kind zu suchen, weil die eigenen Kinder das Wertvollste sind, was man auf dieser Welt hat. Das muss dir klar sein: Eine Mutter würde ihr Leben für ihr Kind geben. Wenn es so sein sollte, dann gebe ich mein Leben für meinen Sohn, aber sie sollen ihn mir zurückbringen.
Der Fall Ayotzinapa
2014 übernahm eine Gruppe von Lehramtsstudenten, die meisten um die 19 Jahre alt, insgesamt fünf Busse. Ihr Ziel: eine Demonstration in der Hauptstadt am 2. Oktober, in Gedenken an das Massaker an protestierenden Studierenden im Jahr 1968. Im ländlichen Raum war es gängige Praxis, Busse in Beschlag zu nehmen, um zu Protesten zu gelangen. Die Busse wurden unterwegs auf verschiedenen Routen angegriffen. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass sie schon seit Tagen unter der Beobachtung des Militärs standen. 43 der Schüler wurden von Mitgliedern der Guerreros Unidos (eine Gruppe der organisierten Kriminalität), der Polizei sowie des Militärs entführt. Viele der Schüler wurden zum letzten Mal lebend gesehen, als sie in einen Streifenwagen stiegen. Die offizielle Version der damaligen Regierung unter Peña Nieto (2012-2018) ist als die sogenannte „Historische Wahrheit“ bekannt. Diese besagte, dass die Schüler ohne Beteiligung des Militärs von den Guerreros Unidos getötet und die Leichen anschließend auf einer Müllkippe verbrannt worden seien. Unabhängige Untersuchungen argentinischer Forensiker*innen haben diese Version jedoch widerlegt. Die Hoffnungen der Angehörigen in die erste linke Regierung wurden enttäuscht. Trotz der Zusage des Ex-Präsidenten López Obrador, den Fall so schnell wie möglich aufzuklären, hat sich wenig bewegt. Besonders die Untersuchungen in den Reihen des Militärs sind schleppend. Informationen werden zurückgehalten, es gibt Anhaltspunkte dafür, dass wichtige Daten gelöscht wurden. Bisher wurden lediglich die Überreste von drei der 43 Vermissten gefunden. Wie ihre Knochen an den Fundort gelangten und was vorher mit ihnen geschehen ist, ist immer noch unklar. Es laufen einige Ermittlungen und Gerichtsprozesse gegen Angehörige der Guerreros Unidos, des Militärs, der Polizei und weitere Beamte. Der Fall sowie die Motive dieses Verbrechens sind jedoch weiterhin ungeklärt und viele der Schuldigen auf freiem Fuß.