Literatur | Nummer 461 - November 2012

„Ich wollte es verstehen“

Interview mit Gladys Ambort aus Argentinien über ihr neues Buch

Aufgrund ihrer politischen Aktivität wurde die Buchautorin Gladys Ambort 1975 im Alter von 17 Jahren unter der Isabel-Perón-Regierung verhaftet und nach dem Militärputsch weiter festgehalten. Erst nach drei Jahren kam sie auf Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes frei und ging ins Exil. Die Erlebnisse ihrer Gefangenschaft, besonders verschiedene Formen der Isolation sowie die Beziehungen unter den Mitgefangenen, beschreibt und reflektiert Gladys Ambort eindrücklich und im Spiegel von Zitaten anderer Autor_innen, denen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Ländern Ähnliches widerfahren ist. Am 27. September stellte Gladys Ambort ihr Buch im Berliner Buchladen „Schwarze Risse“ vor. Aus diesem Anlass trafen sich die LN mit ihr zu einem Gespräch.

Interview: Laura Haber

Ihr Buch wurde mehr als 30 Jahre nach Ihrer Inhaftierung in Argentinien veröffentlicht. Was war Ihre Motivation darüber zu schreiben?
Meine Motivation hat schon immer existiert, über Jahre hinweg war das beinahe mein Lebensziel. Als ich das Buch beendete, glaubte ich, dass es vom Schicksal vorherbestimmt war, eines Tages dieses Buch zu schreiben. Vorher konnte ich es nicht, denn wenn es das Ziel gewesen wäre, die Tatsachen und Anekdoten darzustellen, dann hätte ich es schreiben können, als ich das Gefängnis verließ. Aber mein Ziel war zu verstehen, was ich erlebt hatte. Und dazu brauchte ich Jahre. Der Titel auf Spanisch heißt Algo se quebró en mí („Etwas ist in mir zerbrochen“, d. Red.). Mehr als einmal sagte ich, dass in der Strafzelle etwas in mir zerbrochen sei. Doch nie konnte ich erklären, was da zerbrochen war. Als ich dann meine Doktorarbeit schrieb, fand ich philosophische und psychologische Konzepte, die mir das ermöglichten. Und das war es, was ich im Buch schreiben wollte. Nicht als eine absolute Erklärung. Vielleicht bemerke ich irgendwann, dass das nicht alles erklärt. Aber im gegebenen Moment schienen mir die Konzepte zu helfen, und seit ich das Buch geschrieben habe, habe ich nie wieder das Bedürfnis gespürt etwas hinzuzufügen.

Im Buch erwähnen Sie oft, es sei die „Suche nach den verlorenen Worten“. Es sei sehr schwierig, das eigentlich Unsagbare auszudrücken. Wie sind Sie schließlich zu dem Punkt gekommen, dass Sie das Buch schreiben konnten?
Wie gesagt, indem ich viel studierte. Auf eine gewisse Weise befindet man sich im Dialog mit diesen Büchern, nicht? Zu sehen, dass es so viele Menschen gab, die das erlebt hatten, was ich erlebt habe, hat mir sehr geholfen. Außerdem habe ich sehr viel nachgedacht und bin in mein tiefstes Inneres vorgedrungen.

Sie sprechen viel von der individuellen Identität und der Macht des Anderen. Es war sehr interessant für mich, über die Beziehungen zu den anderen politischen Gefangenen zu lesen…
Ja, das sind Sachen, die im Buch stehen, und wenn ich darüber spreche, fühle ich mich nicht besonders wohl. Ich habe es aufgeschrieben, ich habe sehr lange gebraucht, um mich dazu zu ermutigen. Der Leser soll es lesen.

Fahren wir fort mit Ihrer Ankunft im Exil in Paris. Was waren für Sie die wichtigsten Stationen in Ihrem Leben? Auch in Bezug auf das Erlebte
Das müsste ich in einem zweiten Buch erzählen [lacht]. Das Einzige, was ich dir sagen kann, ist, dass das Exil sehr hart war. Fast deute ich es im Buch an als eine zweite Etappe der De-Strukturierung einer Person. Als ich das Gefängnis verließ, begann für mich ein Prozess der Re-Strukturierung. Doch gleichzeitig zerstörte ich mich weiter. Weil ich keine Parameter hatte, war ich wirklich allein. Ganz allein. Ich schäme mich, das zu sagen, aber das Exil war sehr hart.

Sie leben weiterhin in der Schweiz. Wie sind Sie in die Schweiz gekommen?
Ich war im Exil in Paris, lebte drei Jahre in Mexiko, kehrte nach Paris zurück und danach ging ich in die Schweiz. Dorthin kam ich, weil meine Mutter die Schweizer Staatsbürgerschaft hatte. Als ich aus dem Gefängnis kam, hatte ich keine Schweizer Staatsbürgerschaft, bekam sie aber 1986 und ging nach Genf, um dort zu arbeiten. Und es gefiel mir. Irgendwie fühlte ich, dass ich meine Wurzeln fand. Es gab viele Dinge, die ich durch meine Erziehung während meiner Kindheit empfangen hatte. Und irgendwie glaube ich, dass die Schweiz mein Zuhause ist. Ich fühle mich geschützt in der Schweiz.

Haben Sie daran gedacht oder versucht, nach Argentinien zurückzugehen?
Ja, aber es hat sich nie konkretisiert. Ich fahre sehr oft zu Besuch dorthin.

Wie erleben Sie die Rezeption Ihres Buchs?
In Genf stelle ich es sehr häufig an Schulen vor, es ist ein Buch, das sich für viele Fächer eignet, Psychologie, Philosophie, Geschichte, Literatur. Die 18-oder 19-jährigen Schüler schätzen es sehr, dem Autor gegenüber zu sitzen. Einige Professoren für spanische Literatur bearbeiten es sogar ein ganzes Semester lang, was für mich beeindruckend ist. Das hätte ich mir nie vorstellen können [lacht]. Ich glaube, seit das Buch zum ersten Mal, auf Französisch, veröffentlicht wurde, folgten etwa eineinhalb Jahre, in denen ich nicht viel von dem verstand, was ich erlebte. Es kam mir wie eine Lüge vor, dass die Leute meine Geschichte lesen sollten.

Damit zeigen Sie, dass das Thema universal ist.
Ja, mein Ziel war es, etwas hinter meiner eigenen Erfahrung zu durchdringen. Nie schien es mir wichtig, einfach meine Erfahrung zu erzählen. Ich bin nicht die Einzige, die so etwas erlebt hat, sondern es gibt viel dramatischere oder interessantere, wichtigere Biographien.

Hat der Kontakt mit dem Publikum etwas verändert?
Ja! Irgendwie habe ich den Eindruck, dass nicht ich diese Geschichte erlebt habe. Es vorzustellen, hat irgendwie zur Wiederherstellung meiner Identität beigetragen: „Das, was ihr hier habt, habe ich erlebt.“ Ich muss es nicht verstecken und nicht in Frage stellen, ich muss es nur sagen oder nicht. Also sage ich es und da ist es. Du hast studiert und einen Master gemacht und ich war drei Jahre im Gefängnis, „seht her, was mir passiert ist.“ Es hat mir sehr, sehr gut getan. Aber ich habe immer das Gefühl, dass ich es nicht erlebt habe.

Wie sehen Sie heute die Situation in Argentinien in Bezug auf die Erinnerung an die Militärdiktatur?
Ich glaube, dass Argentinien weiter stark in schwarz und weiß aufgeteilt ist. Es existiert keine reale Debatte. Ich kann keine Schattierungen sehen. Ich bin natürlich keine Expertin und lebe nicht dort, aber man kann sich etwas aus den Massenmedien ableiten: Es ist sehr schwierig, einen Raum für offene Diskussionen herzustellen, wo nicht das, was man sagt, vom einen gegen den anderen Sektor ausgenutzt wird. Dennoch glaube ich, dass es eine fundamentale Erinnerungsarbeit, ein Engagement zur Verteidigung der Menschenrechte gibt. Die Gerichtsverfahren – auch wenn sie verspätet kommen – sind sehr wichtig. Auch um eine Verantwortung unter den Menschen herzustellen. Das, was die Militärs gemacht haben, tut man nicht, und es gibt eine Gerechtigkeit und einen Rechtsstaat.

Gladys Ambort // Wenn die anderen verschwinden sind wir nichts. Vom Ende meiner Jugend in einer Isolationszelle // LAIKA-Verlag // Hamburg 2011 // 19,90 Euro // www. laika-verlag.de

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren