Mexiko | Nummer 283 - Januar 1998

„Ich zahle nur, was gerecht ist“

Mexikos zahlungsunfähige Privatschuldner organisieren sich

Mittwoch morgen in Mexiko-Stadt. Gegen 8 Uhr betreten etwa 20 Männer und Frauen den Gerichtshof und versammeln sich im achten Stock vor einem Verhandlungssaal. Hier soll um 13 Uhr das Haus von Carlos P. versteigert werden. Um die Mittagszeit sind aus den zwanzig Menschen über hundert geworden. Wer aus dem Aufzug aussteigt, wird von Parolen und Transparenten empfangen: „Schluß mit den Versteigerungen!“, „Ich schulde, das bestreite ich nicht; aber ich zahle nur, was gerecht ist. Der Barzón.“ Es ist 13 Uhr und die von der Bank bestellten Anwälte sind immer noch nicht erschienen. Wenn sie den Termin nicht wahrnehmen, kann das Haus nicht versteigert werden. Die Anwälte des Barzón setzen ein vorbereitetes Schreiben auf und die Versteigerung wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Monate, die dem Betroffenen ermöglichen, noch einmal mit der Bank zu verhandeln oder nach anderen Lösungen zu suchen.

Anja Osterhaus

Die Schuldnervereinigung El Barzón ist seit ihrer Gründung im Sommer 1993 zu einer der bedeutendsten sozialen Bewegungen Mexikos geworden. 800.000 der vermutlich fünf Millionen zahlungsunfähigen MexikanerInnen wehren sich mit ihrer Hilfe gegen die Schuldenzahlungen, die seit der Peso-Krise im Dezember 1994 atemberaubende Dimensionen erreicht haben. Durch gewaltfreien Widerstand und Demonstrationen, aber auch auf rechtlichem Weg und durch die Wahl einzelner Mitglieder des Barzón als Abgeordnete und Senatoren hat sich die Bewegung immer mehr Spielraum geschaffen, um ihren Forderungen Gewicht zu verleihen.

Telefonkette gegen Räumungen

Halb zwei: Der Termin ist verstrichen und die Anwälte sind nicht gekommen. Erleichtert gehen die Barzonistas zur anschließenden Besprechung mit ihren Rechtsberatern in den Innenhof. Dort werden gleich die nächsten Termine bekanntgegeben: Freitag und Montag, um 12 und 13 Uhr. Nur wenige wissen, wessen Haus dieses Mal dran war. Wer kann schon zugeben, daß es so weit gekommen ist. Die Schulden sind so hoch, daß das Haus verpfändet wird, das letzte, was die meisten Barzonistas noch besitzen. Nach der Versteigerung stehen irgendwann die Räumungskommandos vor der Tür.
Wenn ein Haus schließlich geräumt ist, wird der Barzón für viele Betroffene zur einzigen Hoffnung, Sie rufen bei Mario Bermúdez an. Er löst eine Telefonkette aus und in ein bis zwei Stunden kommen Freiwillige, räumen die Möbel wieder ein und besetzen das Haus. Der zivile, gewaltfreie Widerstand ist eine der Ebenen, auf denen die Mitglieder des Barzón kämpfen. Demonstrationen, Straßenblockaden, das Besetzen von Banken und Regierungsgebäuden sind die öffentlichkeitswirksamen Aktionen, mit denen die Bewegung seit August 1993 bekannt geworden ist. Damals war der Barzón noch eine überwiegend ländliche Bewegung. Der Abbau von Subventionen und Kreditvergabe für die Landwirtschaft im Rahmen des neoliberalen Wirtschaftsmodells führte zu erheblichen Einnahmeverlusten der kleinen und mittleren Bauern. Hinzu kam die Überschwemmung mit US-amerikanischen Billigimporten im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes, mit denen die zumeist technologisch veralteten mexikanischen Kleinbetriebe nicht konkurrieren konnten. Die Ernteeinnahmen reichten nicht mehr aus, um die erhaltenen Kredite zurückzuzahlen, und viele Bauern mußten ihre Zahlungsunfähigkeit erklären.

Peso-Krise führte zur Schuldenexplosion

Nach der Peso-Abwertung im Dezember 1994 hat sich der Barzón auf die städtische Bevölkerung ausgedehnt. Als Folge der Krise stiegen die Zinssätze sprunghaft an, während die Kaufkraft der MexikanerInnen, bedingt durch Entlassungen und heftige Preissteigerungen, abnahm. Viele konnten plötzlich ihre Kredite nicht mehr bedienen. Ob es Kreditkartenbesitzer waren oder Taxifahrer, die ihre Autos auf Kreditbasis erworben hatten, Hausbesitzer oder Unternehmer; in kürzester Zeit wuchs der Schuldendienst um 100 oder 200 Prozent an und überstieg häufig die Einnahmen der Schuldner, so daß eine Zahlung unmöglich wurde.
„Leider kommen die Betroffenen zumeist erst, wenn es eigentlich schon zu spät ist, wenn die Bank sie schon verklagt hat“, berichtet Jesús Hernández, der so wie alle Mitarbeiter des Barzón selbst Schuldner ist und ehrenamtlich im Hauptbüro in Mexiko-Stadt arbeitet. „Es ist ihnen peinlich. Sie denken immer, die Ursache ihrer Probleme sei ihr eigenes Versagen.“
In Versammlungen werden die Mitglieder des Barzón über ihre Rechte und Möglichkeiten informiert, während sie gleichzeitig durch ihre Mitarbeit und eine wöchentliche Quote in Höhe von zwei bis drei Mark das Recht auf juristischen Beistand erwerben. Die Lösung eines Falles kann Jahre dauern, aber durch den Zeitgewinn können zumindest Pfändungen oder die Räumung eines Hauses hinausgezögert werden. Die parallel durchgeführten Demonstrationen und Aktionen des zivilen Widerstands stärken die Position der verschuldeten Bevölkerung und üben Druck auf Regierung und Banken aus.
Auf der rechtlichen Ebene können die Barzonistas beeindruckende Erfolge vorzeigen. „Früher,“ so Maximiano Barbosa, einer der Gründer und heutigen Führungsmitglieder, „haben die Banken alle Gerichtsverhandlungen gegen die Schuldner gewonnen, obwohl die Verträge in den meisten Fällen illegal waren. Aber wir Schuldner hatten einfach keine Ahnung, und die Anwälte kannten sich auf diesem Gebiet auch nicht aus. Die Unkenntnis haben die bestechlichen Richter hemmungslos ausgenutzt. Aber jetzt ist das anders: Der Barzón hat Juristen ausgebildet, und mit unseren mehr als 800 Anwälten in ganz Mexiko gewinnen wir mittlerweile fast alle Gerichtsverhandlungen. Normalerweise wird jetzt verhandelt.“ In diesen Verhandlungen werden Schuldenerlasse von 60 bis 80 Prozent vom aktuellen Schuldenstand erreicht, wenn der Schuldner in einer einmaligen Zahlung den ausstehenden Betrag tilgen kann. Der Barzón tritt dabei als Vermittler auf.

Hilfe für Schuldner statt für Finanzsektor

Doch der Großteil der Barzonistas ist nicht in der Lage, 30 oder 40 Prozent ihrer Schulden und Zinszahlungen zu leisten. Für sie und alle Mexikaner, die zahlungsunfähig sind – schätzungsweise fünf Millionen – müssen umfassendere Lösungen gefunden werden. Die Verschuldung der städtischen Mittelschicht, unter der sich viele kleine und mittelständische Unternehmer befinden, lähmt die mexikanische Wirtschaft und verschärft die prekäre Situation des Finanzsektors, der sich trotz gegenteiliger Aussagen der mexikanischen Regierung noch lange nicht von der Peso-Krise erholt hat. Die Unterstützung der mexikanischen Banken, die selbst chronisch zahlungsunfähig sind, hat die Regierung bereits 40 Milliarden Dollar gekostet.
Doch während die PRI-Regierung die Lösung des Verschuldungsproblems in der Rettung des bankrotten Finanzsektors sieht, kämpft der Barzón für die Unterstützung der Schuldner, die Erholung der mexikanischen Wirtschaft und für eine Umorientierung der Wirtschaftspolitik. Über die oppositionelle Partei der Demokratischen Revolution (PRD) wird die Bewegung mittlerweile von drei Parlamentsabgeordneten und einem Senator vertreten. Diese direkte Beteiligung an den Wahlen in einer Allianz mit der PRD hat an der Basis des Barzón, einerseits Unmut und Unstimmigkeiten hervorgerufen. Auf der anderen Seite sind die meisten Barzonistas davon überzeugt, daß sie durch die Vertretung in beiden Kammern eine größere Chance haben, an einer grundsätzlichen Veränderung der Regierungspolitik in bezug auf die Verschuldungsproblematik und auf die Wirtschaftspolitik mitzuwirken.

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