Migration | Nummer 354 - Dezember 2003

Illegalisierung bedeutet Entrechtung

MigrantInnen in Deutschland gehen in die Offensive und fordern Rechte ein

MigrantInnen, die ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland leben werden von der Mehrheit der Bevölkerung und der Politik wenn überhaupt als kriminell wahrgenommen. Versuche, eine Legalisierung hier lebender und arbeitender MigrantInnen zu erwirken, gibt es – anders als in anderen EU-Staaten – in Deutschland kaum. Die Gesellschaft für Legalisierung, ein Bündnis antirassitischer Gruppen, zu dem unter anderem Kanak Attak, das RESPECT-Netzwerk, das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe und Mujeres sin rostro gehören, startete deshalb am 24. Oktober mit einem Aktionstag in Berlin eine bundesweite Offensive für das Recht auf Legalisierung.

Anne Becker

Die Taschen stehen stellvertretend für Leute ohne legalen Aufenhaltsstatus. Ohne Papiere öffentlich aufzutreten, bedeutet ein großes Risiko. Aber viele profitieren von unserer rechtlosen Situation. Deswegen verschaffen wir uns auf diesem Weg Gehör und fordern das Recht, Rechte zu haben.“ So erklingt es aus einer der riesigen, karierten Plastiktaschen, die in mindestens fünfzigfacher Ausführung vor dem Eingang der Messehalle ICC aufgereiht sind. Dort findet der erste Bundeskongress der Gewerkschaft Ver.di statt. Die Taschen sind Teil einer Aktion der Gesellschaft für Legalisierung, die mit einer Bustour durch Berlin auf die Situation von Menschen ohne Papiere aufmerksam machen will.
500 000 bis eine Millionen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus leben und arbeiten schätzungsweise in Deutschland. 100 000 davon allein in Berlin. Viele davon kommen aus Lateinamerika. Sie bilden eine heterogene Gruppe. Akademikerinnen sind genauso darunter wie Elektriker, Hausfrauen wie Landarbeiterinnen. Aufgrund der restriktiven Zuwanderungs- und Aufenthaltsbestimmungen bleibt ihnen nach Ablauf eines Visums oder der Aufenthaltserlaubnis oft nur die Rückkehr in das Herkunftsland oder das Leben in der Illegalität. Doch selten haben sich die Gründe, die zu der Entscheidung geführt haben, das eigene Land zu verlassen, seit dem geändert. Also bleiben sie. Nicht immer aber ist Illegalisierung gleichbedeutend damit, keine Aufenthaltspapiere zu besitzen. Schwarzarbeit aufgrund von fehlender Arbeitserlaubnis ist auch eine Form von Illegalisierung.

Multiple Ausgrenzung
Mit sich bringt das Leben ohne Papiere nicht nur eine alltägliche Angst vor Kontrolle und Polizei, sondern auch eine vielschichtige Entrechtung. Es bedeutet von einer Gesundheitsversorgung ausgeschlossen zu sein, Kinder in den meisten Bundesländern nicht in Schule oder Kindergarten schicken zu dürfen und am Arbeitsplatz, kaum in der Lage zu sein, Arbeitsrechte einzufordern, um nur einige Bespiele zu nennen.
Legalisierungsinitiativen gab es von Seiten der Politik bis jetzt nicht. Die Debatten um ein neues Zuwanderungsgesetz drehen sich ausschließlich um die Anwerbung wirtschaftlich interessanter MigrantInnen sowie um die Steuerung und Begrenzung von Einwanderung. Die Menschen, die hier bereits leben und arbeiten, jedoch keine Papiere haben, werden vollkommen ignoriert. Nach 50 Jahren deutscher Einwanderungsgeschichte wird Migration immer noch nicht als Normalität wahrgenommen, auch dann nicht, wenn Globalisierung inzwischen als Zeichen unserer Zeit erlebt wird. Einwanderer und Einwanderinnen gelten weiterhin als Störfaktor, die das „Eigene“ bedrohen – die vermeintliche deutsche Leitkultur oder wechselweise das abendländische Erbe – oder „uns“ auf der Tasche liegen. Auf diese Weise erscheinen MigrantInnen, „die noch nicht einmal Papiere besitzen“, schnell als Kriminelle. „Wir sind unter Euch“ tönt deswegen die erste Erklärung der Gesellschaft für Legalisierung aus den Taschen, um aus der totgeschwiegenen und kriminalisierten Ecke hinauszukommen und eine Offensive für das Recht auf Legalisierung zu starten.

Arbeit und Illegalisierung
„Es kann nicht sein, dass Grund- und Menschenrechte von einem gültigen Stempel im Pass abhängen“, sagt Valeria, die beim Büro für medizinische Flüchtlingshilfe mitarbeitet. Sie ist selbst Studentin und kam vor drei Jahren aus Kolumbien nach Deutschland und fühlt sich hier sehr wohl. „Klar“, sagt sie, „ich bin ja auch eine Privilegierte unter den Migrantinnen mit einem Studentenvisum. Ich muss keine Angst vor Polizei oder vor Kontrolleuren in der U-Bahn haben und darf arbeiten. Allerdings nur drei Monate im Jahr.“ Arbeitet sie mehr, riskiert auch sie ihr Bleiberecht. „Privilegien bedeuten, mehr Rechte zu haben als andere. Uns ist es daher wichtig, die Trennungen zu überwinden, die uns das deutsche Ausländergesetz aufdrückt. Es geht nicht um einen Bonus für wirtschaftlich interessante MigrantInnen, sondern um das Recht, Rechte zu haben,“ erzählt sie, während sie wie die anderen TeilnehmerInnen der Aktion Infobroschüren der Gesellschaft für Legalisierung im Layout von Ver.di an die zwischen den Taschen vorbeieilenden GewerkschafterInnen verteilt. „Viele meiner FreundInnen haben zwar keine oder unzureichende Papiere, aber sie sind hier beschäftigt. Der Dienstleistungssektor, vor allem der Pflege-, Reinigungs- und Hausarbeitsbereich, würde gar nicht funktionieren ohne die Billigstlohnkräfte, die die Papierlosen aufgrund ihrer prekären Rechtslage darstellen“, sagt sie. Bis jetzt sehen viele GewerkschafterInnen illegalisierte ArbeitnehmerInnen eher als schwarzarbeitende Unterwanderer von Tarifverträgen, wenn sie diese überhaupt wahrnehmen. Doch der Protest vor dem Verdi Kongress scheint Wirkung zu zeigen. Nach zahlreichen Diskussionen mit linken GewerkschafterInnen können fünf Minuten Redezeit auf der Hauptversammlung erstritten werden – allerdings mit der Einschränkung, dass keine Person ohne Papiere sprechen dürfe. „Zuerst der Pass, dann der Mensch“, kommentiert Valeria diese Schikane, findet jedoch auch, dass diese Chance nicht ungenutzt bleiben sollte. In der vollen Messehalle spricht eine Migrantin von Respect – einem Netzwerk, dass sich für die Rechte von Hausarbeiterinnen einsetzt – auf Spanisch mit deutscher Übersetzung zu den Delegierten: „Wir wollen endlich am Ende des Monats unser Gehalt bezahlt bekommen, wir wollen nicht mehr sexuell am Arbeitsplatz belästigt werden, wir wollen einen angemessenen Lohn für unsere Arbeit.“ Auf dem Fernsehbildschirm im Foyer verfolgen die anderen die Rede. Zum Abschluss heißt es: „Wir sind hier, damit ihr unsere Stimme hört, wir sind hier, weil wir die Unterstützung der Gewerkschaft brauchen und das Recht haben wollen, ihr beizutreten.“ Der Applaus ist ausdauernd. „Angesichts der fast gesamtgesellschaftlichen Ignoranz dieses Themas ist das ein voller Erfolg“, freut sich Valeria. Im Anschluss erklärt auch Gewerkschaftsvorsitzender Frank Bzirske, er unterstütze die Kampagne und „könne sich eine Legalisierung vorstellen“. Über konkrete Unterstützung von arbeitenden MigrantInnen im Arbeitskampf spricht er nicht.
Dass dieser erfolgreich sein kann, bewiesen zwanzig Afrikaner, die ohne Arbeitsgenehmigung auf einer Baustelle von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte beschäftigt und dann um ihren Lohn betrogen worden waren. Nach Protesten, den einige antirassistischen Gruppen unterstützten, fügte sich im Juni schließlich die Wohnungsbaugesellschaft und übte Druck auf die beauftragten Subunternehmen aus. Auf diese Weise konnten zwanzig Arbeiter 13 500 Euro Lohnnachzahlung erwirken. Aus diesem Grunde heißt die nächste Station des Tages auch Wohnungsbaugesellschaft Berlin Mitte. Dort wird der Erfolg mit Sekt gefeiert, aber auch weiter protestiert – denn die Lohnbetrüge laufen seit Juni weiter: schon 21 weitere Migranten haben seit dem um Unterstützung gebeten, weil auch sie keinen Lohn ausgezahlt bekommen haben.

Gesundheitsversorgung je nach Aufenthaltsstatus
Der nächste Tourstopp ist das Berliner Universitätsklinikum Charité. Während wieder die großen Taschen vor dem Eingang aufgebaut werden, laufen Valeria und andere in weißen Kitteln in die Notaufnahme und verteilen Informationsmaterial. Am Anmeldungsschalter werden „Transkontinental-Krankenkassenkarten“ im Design der Techniker Krankenkassenkarten ausgelegt, auf denen einfach „gültig“ steht und unter Status „egal“ vermerkt ist. Draußen werden über einen Lautsprecher Schicksale von PatientInnen verlesen, die in der Charite auf Grund ihres Aufenthaltsstatus schlecht oder sogar gar nicht behandelt wurden: Eine Vietnamesin, die schwanger unter Einwilligung der ÄrztInnen in Handschellen von der Station ins Abschiebegefängnis gebracht wurde oder eine Polin, die vom Krankenhaus mit dem Krankenwagen „abgeschoben“ wurde – aus Kostengründen.
Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus zu behandeln, ist in Deutschland nicht vorgesehen. So haben Asylsuchende keinen Anspruch auf eine Krankenversicherung. Allein in Fällen „akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“, über dessen Erträglichkeitsgrad die Sozialbehörden entscheiden, werden Asylsuchenden „Krankenscheine“ ausgestellt. So ist die Behandlung oft vom Wohlwollen der SachbearbeiterInnen abhängig. Menschen ohne Papiere sind von einem Zugang zur Gesundheitsversorgung gänzlich ausgegrenzt. Bei einer Einlieferung ins Krankenhaus müssen sie mitunter befürchten, vom Personal bei der Ausländerbehörde denunziert zu werden, auch wenn Krankenhäuser dazu juristisch nicht verpflichtet sind – anders als Sozialbehörden, die laut Ausländergesetz einer Meldepflicht über illegalen Aufenthalt unterliegen. „Wir sind aber heute nicht nur gekommen, um die Zustände anzuprangern“, meint Valeria, „ÄrztInnen verpflichten sich dazu, den PatientInnen zu helfen und nicht der Ausländerpolizei oder den Kostenstellen der Krankenhäuser. Daran wollen wir sie mit dieser Aktion erinnern und ihnen Mut machen, sich gegen rassistische Ausgrenzung stark zu machen.“ So steht es auch auf den Postkarten, die Valeria verteilt: „Ob Borg oder Klingone, ob mit Papieren oder ohne, ist mir Bohne“, steht unter dem Foto von Dr. med. Pille von Raumschiff Enterprise. Dass es diese ÄrztInnen inzwischen gibt, bezeugt Valerias Arbeit. Mittlerweile verfügt das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe über einen Pool von 80 ÄrztInnen, Hebammen und PsychologInnen, die PatientInnen ohne Papiere anonym und kostenlos behandeln. Zweimal die Woche versucht Valeria, Behandlungen für MigrantInnen zu vermitteln. Über 1000 Vermittlungen sind es im Jahr. „Ich denke, heute ist unsere Vermittlungstätigkeit schon etwas entkriminalisierter als noch vor ein paar Jahren“, sagt sie, „und auch unser Büro ist inzwischen zu einer relativ akzeptierten Einrichtung geworden. Natürlich birgt diese Akzeptanz auch die Gefahr, zu einer professionellen Hilfsorganisation zu werden. Deshalb ist unsere politische Arbeit, die Forderung nach einem Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle, neben der alltäglichen praktischen Arbeit auch so wichtig.“ Sie selber hat durch ihr Studentenvisum eine Krankenversicherung, aber eine Aufenthaltserlaubnis über den Zeitraum des Studiums hinaus, wird auch sie kaum erhalten.

Entrechtung sichtbar machen
Von der Charité geht es weiter zum Checkpoint Charlie, wo im Mauermuseum Fluchthelfer noch als ehrenwerte Personen dargestellt werden. Ein Hochzeits-Autokorso wird kurzfristig von der Polizei wieder verboten und findet nun eher leise zu Fuß statt. Es soll auf die Strategie der Schutzheirat als Möglichkeit, seinen Status zu legalisieren, aufmerksam machen. „Für mich hat diese Aktion zwei Seiten“, sagt Valeria, die neben dem weißen Kittel jetzt auch einen weißen Brautschleier trägt und auf der letzten Etappe des heutigen Tages einen Heiratsratgeber mit dem Titel „Welche Farbe hat deine Zahnbürste?“ an Passanten verteilt, der wissenswertes über Schutzheiraten erzählt. „Einerseits geht es für mich darum, darauf aufmerksam machen, wie weit man mit untergehen muss, um hier Rechte zu haben; andererseits geht es auch darum, zu sagen, hey, guckt mal, das ist o.k., so etwas zu machen.“
Um die Sichtbarmachung dieser unterschiedlichen Legalisierungsstrategien und Protestmöglichkeiten geht es der Gesellschaft für Legalisierung mit ihrer Offensive. Ihr Ansatzpunkt sind die alltäglichen Kämpfe für individuelle und kollektive Rechte, die in verschiedenen Bereichen schon stattfinden. Sie orientiert sich nicht an Forderungen nach einer „Stichtagregelung“, wie es sie in anderen Ländern gibt, sondern will die Spannbreite der Entrechtungen von MigrantInnen deutlich machen, von denen die Papierlosen nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Fragt man Valeria, wie es weiter geht, wenn sie mit Ende ihres Studiums ihren Aufenthaltstitel verliert, lacht sie. „Wie mein persönlicher Kampf um Rechte aussieht, möchte ich hier nicht erzählen. Doch eins ist sicher: Ich werde hier bleiben, hier arbeiten und weiter politisch aktiv sein“, sagt sie und winkt mit einer der großen Taschen. „Ich hoffe nur, dass ich dann nicht aus einer dieser Taschen sprechen muss.“

Infos:
Gesellschaft für Legalisierung: www.rechtauflegalisierung.de
RESPECT-Netzwerk :
www.respect-netz.de
Medizinische Flüchtlingshilfe:
www.medizinische-flüchtlingshilfe.org
Kanak Attak: www.kanakattak.de


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