Berlinale | Nummer 525 - März 2018

IM ROSTIGEN KÄFIG

Las Herederas ist eine gekonnte Parabel über Freiheit und Zwänge von Frauen in Paraguay

Von Dominik Zimmer


„Ganz Paraguay ist ein großes Gefängnis“ sagt Regisseur Marcelo Martinessi auf der Pressekonferenz zu Las Herederas. Das repressive politische System, das 2012 nach einer kurzen Phase der Lockerung durch einen kalten Putsch ins Land zurückgekehrt ist, lässt ungute Erinnerungen an das jahrzehntelange brutale Regime von Alfredo Stroessner, einer der letzten Militärdiktaturen Lateinamerikas, wach werden. Insofern ist es eine kleine Sensation, dass in diesem Klima der erste paraguayische Spielfilm aller Zeiten entstanden ist, der es in den Wettbewerb eines großen Filmfestivals geschafft hat. Martinessi, der bereits 2016 in Venedig den Preis für den besten Kurzfilm mit einem Beitrag über das Massaker an der Zivilbevölkerung in Curuguaty gewonnen hat, wählt mit Las Herederas eine für das männlich dominierte Paraguay ungewöhnliche, aber genau aus diesem Grund auch logische Perspektive: Der Fokus liegt komplett auf dem Privatleben mehrerer älterer Frauen.

Die Geschichte folgt Chela (herausragend in ihrem ersten Kinofilm: Ana Brun), einer in die Jahre gekommenen Dame der besseren Gesellschaft in Paraguay. Sie wohnt in einer nicht öffentlich ausgelebten Partnerschaft mit ihrer Freundin Chiquita (Margarita Irún) unter einem gemeinsamen Dach. Aber die Zeiten werden magerer und das Geld aus einer Erbschaft (vermutlich aus einer vorangegangen heterosexuellen Ehe) ist aufgebraucht. Deshalb wird im Laufe des Films nach und nach im wahrsten Sinne das Tafelsilber der beiden Herederas (Erbinnen) verscherbelt: Besteck, Tisch, Klavier. Als Chiquita wegen ihrer Schulden für kurze Zeit ins Gefängnis muss, sieht sich Chela, die ihr ganzes Leben lang nie selbstständig agieren konnte – oder durfte – plötzlich völlig auf sich allein gestellt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten findet sie sich jedoch schnell zurecht und baut mehr oder weniger durch Zufall einen Fahrservice für Frauen auf. Auf diese Weise macht sie die Bekanntschaft der lebenslustigen Angy (Ana Ivanova), zu der sie sich mehr und mehr hingezogen fühlt.

Martinessi geht im Film mehrere wichtige soziale Themen an, ohne dabei die Brechstange auspacken zu müssen. Das Getratsche der Frauen über ihre Hausangestellten aus der unteren sozialen Klasse, auf die selbst die quasi bankrotten von ihnen nicht verzichten wollen, ist eines davon. Ein anderes ist die völlige Ausblendung der gesellschaftlichen Realitäten, von denen die Frauen bei ihren Kaffeekränzchen und Dominozirkeln nichts mitbekommen. Erst durch Chiquitas Zwangsaufenthalt im Frauengefängnis kommen sie damit in Kontakt – und überraschenderweise finden sie dort trotz der teilweise chaotischen Verhältnisse sogar in gewisser Weise mehr Freiheit als in ihrem geordneten, aber von gesellschaftlichen Zwängen eingeengten Leben draußen. Zudem setzt auch der goldene Käfig, in dem viele von ihnen jahrzehntelang gut gelebt haben, durch die finanziellen Schwierigkeiten langsam immer mehr Rost an und bietet keinen Schutz mehr.

Las Herederas ist ein Film, der in leisen und subtilen Tönen ein komplexes Gesellschaftsporträt der (weiblichen) Oberschicht Paraguays entwirft. Die Protagonistinnen gehören zu einer „verlorenen Frauengeneration“ des Landes, die fast ihr komplettes Leben unter der Stroessner-Diktatur verbracht hat und niemals ihre Bedürfnisse jedweder Art offen ausleben konnte. Das Ergebnis war ein völliger Rückzug ins Privatleben und eine Unterordnung der Bedürfnisse unter ökonomischen Wohlstand, während das politische und gesellschaftliche Leben fast ausschließlich von Männern bestimmt wurde. Wie Martinessi diesen Spieß umdreht, wie er jedes Mal, wenn ein Mann im Film beginnt, zu sprechen (und das ist äußerst selten der Fall) die Kamera unscharf zoomt, das ist so bemerkenswert wie mutig. Kein einziger Mann nimmt auch nur im Ansatz eine Rolle ein, die über reine Dekoration hinausgeht. Und so öffnet sich der Blick auf eine Perspektive, die von teils sichtbaren, teils verborgenen Strukturen über Jahrzehnte fast unsichtbar bleib.So transportiert der Film feministische Ideen, ohne sie direkt anzusprechen.

Ein Interview mit dem Regisseur Marcelo Martinessi erscheint in der März-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten.

Las Herederas lief im Wettbewerb der Berlinale. Die Hauptdarstellerin Ana Brun bekam den Silberen Bären für ihre schauspielerische Leistung. Der Film wurde außerdem mit dem Alfred-Bauer-Preist für Filme, die neue Perspektiven eröffnen, ausgezeichnet.

Las Herederas von Marcelo Martinessi // Paraguay / Uruguay / Deutschland / Brasilien / Norwegen / Frankreich 2018 // Spanisch // 95 Min

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren