Kolumbien | Nummer 507/508 - Sept./Okt. 2016

IM SCHATTEN DER KOKA-PFLANZE

KOLUMBIENS KLEINBÄUER*INNEN WERDEN MIT REPRESSION ÜBERZOGEN, DIE VERSPROCHENEN EINKOMMENSALTERNATIVEN BLEIBEN AUS

Der kolumbianische Bundesstaat Putumayo an der Grenze zu Ecuador ist eine Hochburg der Revolutionären Bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens (FARC). Daher sieht sich die Bevölkerung konstant militärischer und paramilitärischer Gewalt ausgesetzt.

Von David Graaff
Kein Karamell: Ein Kleinbauer kocht Kokapaste (Fotos:David Graaff)
Kein Karamell: Ein Kleinbauer kocht Kokapaste (Fotos:David Graaff)

Das „Zauberstäbchen“ der Kokabäuer*innen vom Putumayo-Fluss ist ein vier Meter langer Bambusstamm und bewirkt Wundersames. Mit ihm blockieren sie eine staubige Schotterpiste, über die sonst im Minutentakt mit Rohöl beladene Lkw ächzen. Kommt das „Zauberstäbchen“ zum Einsatz, ist der Förderbetrieb erheblich gestört und flugs zeigen sich Erdölunternehmen, Regierungs- und Behördenvertreter*innen dialogbereit. Es ist ein drastisches, aber effizientes Mittel, um sich Gehör zu verschaffen. Das Ausreißen ihrer Kokapflanzen durch die Polizei, Schikanen der Militärs, die Verschmutzung von Wasserquellen durch die Erdölfirma, nicht eingehaltene Zusagen zur Gesundheitsversorgung: Die Liste der Bäuer*innen ist lang.
Vor einigen Tagen nutzen sie wieder einmal den „Zauberstab“. Nun sitzen alle in der feuchtheißen Luft unter einem Wellblechdach und diskutieren: ein Vertreter des Innenministeriums, jemand von der Nationalen Agentur für fossile Brennstoffe, der Beauftragte der Umweltbehörde, drei Angestellte des Erdölunternehmens, der Bürgermeister, die Bäuer*innen und zu deren Unterstützung Mensch-enrechtsaktivist*innen. Immer dann, wenn einer der Lkw lautstark vorbeidonnert, bricht das Gespräch kurz ab. „Um geeignete Bedingungen für dieses Treffen zu garantieren, schlage ich vor, den Verkehr für die Dauer unserer Zusammenkunft zu unterbrechen“, schlägt einer der Bauern mit einem spitzbübischen Lächeln vor. „Auf gar keinen Fall!“, antwortet der Gesandte der Erdölfirma aufbrausend, dessen Bemühung um Contenance ihm den langen Tag über deutlich anzusehen ist.
Die stundenlange Diskussion ist so wie das Klima hier im Dschungel des Putumayo nahe der Grenze zu Ecuador: hitzig, zäh, schweißtreibend. Es geht um Umweltkontrollen, Einsatz mobiler Ärzteteams und die Militärpräsenz, aber auch darum, dass die Erdölfirma kaum Menschen aus den Weilern anstellt, in deren Gebiet sie operiert. Die gegenseitige Skepsis ist groß. Denn hier stehen sich nicht nur studierte Hemdenträger*innen mit Gummistiefeln beschuhten Bäuer*innen gegenüber. Hier trifft jenes „moderne“ Kolumbien, mit seinem auf Ausbeutung von Primärressourcen basierenden Wirtschaftsmodell auf die kleinbäuerliche Lebensweise; der zeitgenössische Nationalstaat neoliberaler Prägung auf die Forderung nach sozialstaatlichen Maßnahmen.
Das Misstrauen der Bäuer*innen sitzt tief. Denn jahrzehntelang hat sich bei ihnen kaum jemand blicken lassen. Angezogen vom Kokaboom, drängten die Siedler*innen seit den 70er-Jahren aus der Andenregion hinab ins nahezu unbewohnte amazonische Tiefland. Ihnen folgte die Guerilla und ersetzte den Staat, stellte Regeln auf, schlichtete Streitigkeiten.

Kokablätter rupfen und ernten: Kleinbauer Gilberto bei der Arbeit
Kokablätter rupfen und ernten: Kleinbauer Gilberto bei der Arbeit

Anfang des neuen Jahrtausends kam das Militär und bekämpfte im Rahmen des „Plan Colombia“, mit dem die kolumbianische Regierung unterstützt von den Vereinigten Staaten dem Drogenhandel den Krieg erklärte, die als „Narco-Terroristen“ bezeichnete FARC-Guerilla. Auf die Soldaten folgten die Erdölunternehmen. Doch auf den damit einhergehenden versprochenen Fortschritt und soziale Investitionen warten die Bäuer*innen bis heute. Statt staatlicher Unterstützung wurden sie als Guerillerxs stigmatisiert. Statt mit Schulen und Gesundheitsversorgung wurden sie mit dem Ausreißen und Besprühen jener Sträucher bedacht, mit deren Ertrag sie ihre Familien ernährten und ihre Kinder zur Schule schickten – aber aus deren Blättern auch jenes weiße Pulver gewonnen wird, das im globalen Norden geschnupft, besungen und oft kultisch verehrt wird: Kokain.
In Produktionsländern wie Kolumbien wirkt das weltweite Kokain-Geschäft mit einem Umsatz von geschätzt 80 Milliarden Dollar wie ein Brandbeschleuniger auf bewaffnete Konflikte, befördert Korruption und zerstört Kulturen und Ökosysteme.
Am Beginn der Produktionskette stehen Leute wie Gilberto, Hugo und Javier. Auf einer schwer zugänglichen Plantage an einem Zufluss des Río Putumayo verarbeiten sie die Kokablätter zu Kokapaste. Gilberto rupft die goldgrünen Blätter von den Sträuchern und trägt sie in ein „Labor“, ein Verschlag aus Holzstämmen und Plastikplanen, in dem es nach Benzin, Schweiß und Kokain riecht. Hier bestreut Hugo die Blätter mit Zement und zerhackt sie mit einem Handmäher. Javier gewinnt mit Benzin, Pflanzenschutzmittel und Schwefelsäure jene graue klebrige Masse, die sie bei der nächsten Gelegenheit an Händler weiterverkaufen. Das Kilo zu rund 500 Euro. „Reich werden wir damit nicht“, sagt Gilberto und seine Mitstreiter nicken. „Schau dir unsere Hütten doch an“ – Er weist auf ein mit Brettern zusammengenageltes Holzhaus.
Die Kokabäuer*innen sind das ökonomisch und sozial schwächste Glied in der Produktionskette des Kokains. Die großen Gewinnmargen streichen die Händler ein, die das Endprodukt, Kokain-Chlorhydrat, weiterverkaufen. Die Repressalien aber, das Ausreißen der Sträucher durch die Anti-Drogen-Einheiten der Polizei und die hoch umstrittenen Besprühungen der Pflanzungen mit dem eigentlich als Unkrautmittel produzierten Glyphosat sowie die Stigmatisierung als Guerilla-Unterstützer*innen, darunter leiden zuerst die Bäuer*innen.
Die Männer im Labor sind sich einig: Das Koka ist eine Pflanze wie jede andere auch. Sie würden sie durch legale Pflanzungen ersetzen, doch sie brauchen „Garantien“, wie sie sagen. Damit sind feste Zusagen gemeint, dass die Bäuer*innen ihre Anbauprodukte auch gewinnbringend verkaufen können. Denn die Preise für Agrarprodukte sind schwankend und Maßnahmen wie feste Preise oder Abnahmegarantien gibt es nicht. Zudem ist der Transport in die Stadt sehr kostspielig. Der Preis für Koka-Paste hingegen ist relativ konstant und die Ware passt im Gegensatz zu einer Bananenstaude oder Reis in eine kleine Tasche. Die Händler*innen, bislang unter Erlaubnis und Besteuerung der örtlichen Guerilla-Einheit, holen die Ware quasi an der Haustür ab. Ohnehin: die Guerilla. Seit Jahrzehnten kontrollieren die FARC das Gebiet. In einem anderen Teil der Gemeinde Puerto Asis befindet sich eine der landesweit 28 Zonen, in den sich die Guerillerxs sammeln und ihre Waffen abgeben werden.

Kokalabor im Dschungel: Einkommen oder Verbrechen?
Kokalabor im Dschungel: Einkommen oder Verbrechen?

Die Kokasiedler*innen selbst sind keine Guerillerxs, doch sie haben mehr Vertrauen in die Aufständischen als in den Staat. Die Guerilla hat die Siedler*innen über Jahrzehnte vor dem meist repressiven Staat beschützt und ihnen Konstanz garantiert. Kritische Worte über die „Organisation“, wie die FARC hier heißen, sind kaum zu hören.
Was wird geschehen, wenn die Guerilla sich nun, nach dem offiziellen Abschluss der Friedensgespräche, demobilisiert? Darüber macht sich Jani Silva von der Kleinbauernorganisation ADISPA Gedanken. Sie sitzt an einem viel zu kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer ihres Hauses in der Kleinstadt Puerto Asis. „Das Dorf“, wie es Jani nennt, hat rund 60.000 Einwohner*innen und seine junge Geschichte ist eng mit dem Kokaboom verbunden. Koka hat die Stadt aufgebaut und prägt sie bis heute. Luxuriöse Shopping-Malls sucht man hier vergebens, dafür wimmelt es von Einzelhandelsgeschäften für die kaufkräftige Kundschaft. Straßenbeleuchtung, ein Abwassersystem oder asphaltierte Straßen aber gibt es nur im Zentrum. „Der Kokaanbau“, sagt Silva, hat unsere kleinbäuerliche Identität zerstört und uns zu Konsumenten gemacht, die Grundnahrungsmittel im Supermarkt einkaufen, statt sie selbst anzubauen.“ In der anstehenden Post-Konflikt-Phase sei es wichtig, so Silva, dass die Menschen selbst entscheiden könnten, wie sie in ihren Gebieten leben und wirtschaften wollen. „Wir bestimmen, was in unserem Territorium geschieht“, sagt die 53-Jährige. Wenn die Guerilla nicht mehr da sei, dann liege der zivile Kampf um die soziale und wirtschaftliche Zukunft der Region allein auf den Schultern der sozialen Organisationen, auf dem organisierten Kleinbäuer*innentum.
Mit ihrer Organisation setzt Silva sich für die Schaffung einer sogenannten kleinbäuerlichen Schutzzone ein. Diese soll ermöglichen, dass die Menschen wieder als campesinxs leben und dank nachhaltiger Landwirtschaft ihre Kultur und Identität wiedererlangen können. Doch der Investitionsdruck auf die an fruchtbaren Böden, Wasser und Erdölreiche Region wird hoch sein. Und die Kontrolle über den Kokainhandel werden andere Akteure von den FARC übernehmen wollen. „Deshalb müssen wir als soziale Organisation stark sein und kontrollieren, wer unser Gebiet betritt und wer nicht, aber ohne Waffen“, sagt Silva. Das „Zauberstäbchen“ wird wohl noch öfters zum Einsatz kommen.

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