Im Sog der Integrationswelle
Der MERCOSUR wagt sich einen Schritt weiter
WirtschaftswissenschaftlerInnen bekommen bei Begriffen wie Freihandelszone, Zollunion oder gar Gemeinsamer Markt feuchte Augen. Wachsende Märkte ohne Grenzen bedeuten steigenden Handel, erhöhte Binnennachfrage und intensivierte Investitionstätigkeit, Produktivitätsgewinne und freien Kapital- und Personenverkehr. Soviel zur Theorie.
Die Europäische Union (EU) hat vorgeführt, wie ein Zusammenschluß funktioniert: Zunächst wird eine Freihandelszone vereinbart, innerhalb der die Zölle schrittweise abgebaut werden. Dann folgt der Übergang zu einer Zollunion mit gemeinsamem Außenzoll und immer mal wieder werden ein paar neue Mitglieder aufgenommen. Schließlich versucht mensch sich am Gemeinsamen Markt, also der makroökonomischen Koordinierung und Harmonisierung des Personen-, Kapital-, Güter- und Technologieverkehrs und stößt dabei auf Grenzen, wie die Rückschläge bei der angestrebten Währungsunion zeigen.
Der Trend des Sich-Zusammenschließens ist also nicht neu; wohl aber hat er sich seit Anfang der 90er Jahre weltweit enorm verstärkt. Nach der jahrzehntelangen Binnenorientierung, die mit der Zahlungsunfähigkeit Mexikos 1982 ein abruptes Ende nahm, kann sich auch Lateinamerika der zunehmenden Blockbildung nicht mehr entziehen, wenn es auf dem Weltmarkt bestehen will. Einzelne Länder erweisen sich gegenüber den Kolossen in Europa, Asien und Nordamerika als Peanuts, deren Handlungsfähigkeit und Beeinflussungsmöglichkeiten des Weltmarktes ständig weiter sinken.
Von den vielen subregionalen Freihandelszonen, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in Lateinamerika gebildet haben, heben sich die beiden jüngsten – MERCOSUR und NAFTA – durch ihre Größe und das Tempo hervor, mit dem sie in Kraft traten: Der MERCOSUR hat bereits den Sprung zur Zollunion zumindest einbeinig vollbracht.
Appetithappen Uruguay
Der MERCOSUR besteht aus äußerst ungleichen Ländern, was sich sowohl auf die geographische als auch auf die wirtschaftliche Größe bezieht.
Brasilien dominiert den MERCOSUR wirtschaftlich und ist gleichzeitig auch das von diesem Markt unabhängigste Land, da es nur jeweils 14 Prozent seiner Ex- und Importe mit den Nachbarländern abwikkelt. Diese Dominanz drückt sich vor allem in einem wettbewerbs- und damit exportfähigen Industriesektor, insbesondere dem Kraftfahrzeug- und Maschinenbau, aus. Brasilien hat daher seit Einrichtung der Freihandelszone 1991 am meisten profitiert, indem es seine Exporte um knapp 130 Prozent steigern konnte. Seit Cardosos Wahl redet auch niemand mehr von der Instabilität des Landes in Sachen Währung und Inflation. Auch die von Mexiko ausgehende Finanzkrise wird das Land aufgrund seiner exportorientierten Technologiesektoren nicht so schwer treffen wie den Partner Argentinien. Brasilien ist der unangefochtene Motor des Integrationsprojektes MERCOSUR. Wie auch im Falle Deutschlands in der EU zeigt sich, daß das dominante Land die positivsten wirtschaftlichen Effekte aus fortschreitenden Wirtschaftszusammenschlüssen für sich verbuchen kann.
Argentinien folgt Brasilien mit weitem Abstand, trotz des angegebenen höchsten Pro-Kopf-Einkommens. Während Brasilien hauptsächlich kapitalintensive Industriegüter nach Argentinien exportiert, bewegen sich die Exporte in die andere Richtung vorwiegend im traditionellen Bereich der Rohstoffe und der wenig verarbeiteten Produkte. Das Land muß nach der derzeitigen mexikanischen Finanzkrise am stärksten mit dem Übergreifen dieser Krise, dem sogenannten “Tequila-Effekt”, rechnen. Schließlich gilt Argentinien als Abwertungs- und Krisenkandidat Nummer eins. Jahrelanges Festhalten am per Gesetz festgelegten 1:1-Wechselkurs zum US-Dollar haben zu einer starken Überbewertung des Pesos geführt, da die Inflationsraten der beiden Länder weit auseinander liegen. Durch hohe Zinsen wurden massiv Kapitalanlagen aus dem Ausland angezogen – allerdings nur kurzfristige. Für Investitionen sind jedoch mittel- und langfristige Kredite erforderlich, für deren Vergabe die Banken wiederum mittel- und langfristige Einlagen von KapitalanlegerInnen benötigen. So wurde Argentinien die letzten vier Jahre stabilisiert, ohne daß starke Produktivitätssteigerungen durch Investitionen ereicht wurden. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ist zu kurz gekommen, das Handelsbilanzdefizit gestiegen. Sollte es noch vor oder kurz nach dem Ende der Amtszeit Menems zu einer Abwertung kommen, die auf bis zu 45 Prozent geschätzt wird, so wäre kurzfristig mit einer weiteren Verschlechterung der Handelsbilanz zu rechnen, da inbesondere Großunternehmen, die hohe Importrechnungen zu begleichen haben, in arge Zahlungsschwierigkeiten geraten würden.
Die Einbeziehung Uruguays und Paraguays hat rein strategische Gründe. Böse Zungen behaupten, Paraguay sei nur in den MERCOSUR gekommen, weil es über genügend Wasser für die Stromversorgung der Nachbarländer verfügt (vgl. hierzu den Paraguay-Artikel über den Yasyretá-Staudamm in diesem Heft). Uruguay liegt als kleiner Sandwichhappen zwischen Brasilien und Argentinien. Während in vielen Ländern der Kauf eines direkt am Heimatland liegenden Grundstückes durch AusländerInnen verboten ist, ist in Uruguay der Nordosten des Landes mittlerweile sozusagen eine Provinz von Südbrasilien geworden: Brasilianische UnternehmerInnen beschäftigen brasilianische ArbeitnehmerInnen.
Als Trostpflaster und zur Beruhigung der Uruguayos ist in Montevideo das ständige Sekretariat des MERCOSUR eingerichtet worden, durch welches die weitere Integration koordiniert werden soll.
Die beiden kleinen Länder haben Angst davor, von den großen – zumindest wirtschaftlich – geschluckt zu werden, können sich aber gleichzeitig nicht alleine auf dem Weltmarkt behaupten und sind daher auf eine Integration angewiesen. Sowohl Paraguay als auch Uruguay sind extrem abhängig von ihren Nachbarländern: Für Uruguay liegt die Exportquote in die MERCOSUR-Länder bei 42 Prozent, die Importe bei 56 Prozent, für Paraguay nur unwesentlich darunter. Beide Staaten versuchen, den Integrationsprozeß so weit wie möglich zu bremsen, ohne tatsächlich hinausgeworfen zu werden. Ihre Anpassungslast an zunehmende Konkurrenz soll durch Ausnahmeregelungen und Kompensationsmechanismen verringert werden. Viele der Ausnahmen der verkappten Zollunion, für die noch kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte und die bis zum Jahre 2006 beseitigt sein sollen, beruhen auf paraguayischen und uruguayischen Einwänden.
Die Ungleichgewichte werden sich in absehbarer Zeit kaum abbauen lassen. Selbst in der EU, die über einen Regionalfonds als Kompensationsinstrument verfügt, kann von einer merklichen Angleichung kaum die Rede sein: Portugal und Griechenland bilden weiterhin die Schlußlichter der Gemeinschaft, und auch die übrigen “rückständigen” Regionen kommen durch die Fondszahlungen kaum an die “fortschrittlichen” heran.
Gewissensfrage: NAFTA oder MERCOSUR?
Trotz der Schwierigkeiten bei der Verwirklichung der Zollunion, haben sich bereits weitere Kandidaten für den Beitritt ausgesprochen. Bolivien hat Interesse an einer Aufnahme angemeldet – in der Region um Santa Cruz haben sich immer mehr brasilianische Unternehmen angesiedelt und sind zu einem wichtigen Faktor der bolivianischen Wirtschaft geworden -, eventuell wollen auch Kolumbien und Venezuela beitreten. Chile ist grundsätzlich interessiert, hat aber seinen Spagat zwischen NAFTA und MERCOSUR durch die Verhandlungsaufnahme mit der NAFTA seit kurzem sogar noch vergrößert.
Hat der MERCOSUR Chancen gegen die NAFTA? Das US-Angebot des NAFTA-Beitritts könnte auf der einen Seite gerade durch die Mexiko-Krise für andere Länder attraktiv werden: massive Zahlungen des reichen Partners im Norden sollen ein komplettes Ausscheren Mexikos verhindern. Innerhalb des MERCOSURS verfügt kein Land über ausreichende Möglichkeiten, die Krise eines anderen aufzufangen: Brasilien steht noch am Anfang einer Stabilitätsphase und Argentinien am Ende. Beide Länder werden sich hüten, kriselnde MERCOSUR-Mitglieder durch Stützungskäufe zu retten.
Auf der anderen Seite zeigt die Mexikokrise, wie schwierig eine Integration selbst für ein im lateinamerikanischen Raum wirtschaftlich so fortschrittliches Land wie Mexiko sein kann. Eine großamerikanische Gemeinschaft rückt erst einmal in weite Ferne; wer sich der NAFTA anschließt, muß sich auf eine längere Zeit der lockeren Zusammenarbeit einrichten.
Derweil hat sich der MERCOSUR schon einen Schritt weiter gewagt als die NAFTA und will zum Ende der 90er Jahre eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, mit der er dann geschlossen in Verhandlungen mit anderen Blöcken auftreten kann, beispielsweise eben mit der NAFTA. Ein regionaler Zusammenschluß, der ausnahmsweise nicht unter der Herrschaft Nordamerikas steht, sondern eine eigene Regionalmacht – Brasilien – hat, ist eine nicht zu unterschätzende Option, um den USA nicht nur als Rohstoffversorger und verlängerte Werkbank zu dienen.