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Im Widerstand gegen die Großprojekte

Der Kampf der von Staudämmen betroffenen Gruppen in Brasilien

Die Energiegewinnung durch Wasserkraft hat negative soziale und ökologische Folgen und führt zur Vertiefung der Ungleichheit in Brasilien. Francisco Kelvim von der Bundeskoordination der Bewegung der von Staudämmen Betroffenen (MAB) aus Brasilien berichtet über den Widerstand vor Ort gegen Staudämme.

Francisco Kelvim und Christian Russau

Kampf um den freien Wasserfluss Gemeinden, die an und mit Flüssen leben, wollen sauberes Wasser statt riesiger Dämme (Foto: Wesley Braun)

Derzeit fließen weltweit nur noch 37 Prozent der Flüsse mit einer Länge von mehr als 1.000 km über ihren gesamten Verlauf frei. Dämme und Wehre sind die Hauptursachen für den Verlust des freien Wasserflusses. In Brasilien hat der Bau von Staudämmen insbesondere im Zusammenhang mit der Umstrukturierung des nationalen Energiemodells seit den 1970er Jahren während der Militärdiktatur zu einer erzwungenen gravierenden Neugestaltung von Territorien geführt und vielfältige ökologische und soziale Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung gehabt, die bis heute spürbar sind.
Als Reaktion auf diese Situation organisierten sich die betroffenen Gemeinden ab Ende der 1970er Jahre im Widerstand gegen die Großprojekte, was sich im Jahre 1986 unter dem Namen der Bewegung der von Staudämmen Betroffenen (MAB) sammelte. Im April 1989 führte sie den ersten Nationalkongress der von Staudämmen Betroffenen in Goiânia durch, bevor sich im März 1991 formell die Bewegung der von Staudämmen Betroffenen gründete. Seither setzt sich die MAB für Veränderungen im brasilianischen Energiemodell ein, um die Rechte der betroffenen Bevölkerung zu gewährleisten und, in jüngerer Zeit, um der Klimakrise entgegenzuwirken und deren Auswirkungen abzuschwächen.


Laut dem landesweiten Instrument zur Kontrolle und Überwachung von Dämmen in Brasilien, dem Informationssystem für Dammsicherheit, gibt es heute mehr als 29.000 Dämme: Staudämme zur Energiegewinnung, zur Trinkwassergewinnung oder Bewässerung sowie Dämme von Rückhaltebecken von teils hochtoxischer Bergbauschlämme. Vor 25 Jahren stellte der Bericht der Weltkommission für Staudämme fest, dass in Brasilien etwa eine Million Menschen von Staudämmen betroffen waren. Laut der Oswaldo Cruz-Stiftung (Fiocruz) beläuft sich diese Zahl heute auf mindestens vier Millionen Menschen. In den letzten Jahren hat die Zahl der potenziell mit ökologischen und sozialen Risiken einhergehenden Staudammprojekte zugenommen, wie beispielsweise die (Umwelt-)Katastrophen durch die Staudämme Fundão in Mariana im Jahr 2015 und 2019 durch Mine Córrego do Feijão in Brumadinho aufzeigen.


Die Klimakrise, die wir derzeit erleben, ist zweifelsohne eine direkte Folge des kapitalistischen Produktions- und Konsumptionsmodells, der Treibhausgas-Emissionen der fossil-basierten Weltwirtschaft und der mit der Ausbeutung natürlicher Ressourcen einhergehenden Naturzerstörung. Angesichts der Notwendigkeit, die Wirtschaft zu dekarbonisieren, wurde ausgehend von den Ländern des Globalen Nordens eine Energiewende weg von fossilen Energieträgern eingeläutet.
Was jedoch eine historische Chance für Brasilien sein könnte, hat zu einer Vertiefung einer durch Konzentration von Reichtum und Abhängigkeit gekennzeichneten Energiepolitik geführt. Um die Nachfrage aus dem Ausland nach unabdingbaren Rohstoffen für die Umsetzung der Energiewende zu befriedigen, baut das Land die Gewinnung von kritischen Mineralien und Seltenen Erden für den Export aus und erweitert das Angebot an Strom aus erneuerbaren Energien wie Wind- und Solarenergie und seit kurzem auch grünem Wasserstoff. All dies ist oftmals mit derselben systematischen Verletzung von Rechten der lokalen Bevölkerung verbunden, wie im Fall der Staudämme.
Trotz der nachgewiesenen negativen ökologischen und sozialen Folgewirkungen sowie der chronischen Verletzung der Rechte der lokalen Bevölkerung wurde und wird die Energiegewinnung durch Wasserkraft auch in anderen Ländern Lateinamerikas sowie in Afrika und Asien ausgebaut und mittlerweile als „grüne Energie“ als adäquate Lösung zur Reduktion der Treibhausgas-Emissionen bei der Energieerzeugung und für eine Dekarbonisierung der Wirtschaft propagiert.
Vor diesem Hintergrund wird die internationale Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den von Staudammprojekten betroffenen Bevölkerungsgruppen immer wichtiger. Aktuell wird deshalb ein historischer Prozess internationaler Treffen wieder aufgenommen, der 1997 begann. Das Movimiento de Afectados por Represas (MAR) hat für November 2025 das IV. Internationale Treffen der von Staudämmen und der Klimakrise betroffenen Gemeinschaften einberufen, das in Belém do Pará, Brasilien, stattfinden wird.

Francisco Kelvim ist Mitglied der nationalen Koordination der Bewegung der von Staudämmen Betroffenen (MAB – Movimento dos Atingidos por Barragens).

Staudämme in Brasilien: Fortschritt für wen?

Die Geschichte der Staudämme in Brasilien wird oft gelesen als eine Geschichte des Fortschritts. Doch offenbart der Blick auf die Ausweitung von Staudamm-Megaprojekten (nicht nur) in Brasilien, dass dieser „Fortschritt“ eine Geschichte von leeren Versprechungen ist und zu Lasten der Umwelt und lokalen Bevölkerung geht. 

Für den größten Staudamm des Landes, Itaipu (14 GW Nennleistung), wurden 40.000 Menschen zwangsumgesiedelt, darunter Kleinbäuerinnen und -bauern und Indigene Völker der Guaraní, die bis heute keine volle Entschädigung erhalten haben. Anfang 2025 gab es eine symbolische Übertragung von 3.000 Hektar Land an die Avá-Guaraní sowie erstmalig Entschädigungszahlungen – mehr als 50 Jahre nach Beginn des Staudammbaus. Für den Bau von Itaipu wurde Regenwald geflutet, kulturhistorische Stätten wurden zerstört, Sozialstrukturen zerschlagen. Beim Bau starben über 100 Arbeiter:innen, es kam zu 43.000 Arbeitsunfällen. Die Militärdiktatur hatte ganze Arbeit geleistet – und die Firmen Siemens und Voith aus Deutschland haben an Itaipu kräftig mitverdient.

Für den zweitgrößten Staudamm, Belo Monte (11 GW Nennleistung) wurden ebenfalls bis zu 40.000 Menschen zwangsumgesiedelt, die Große Flussschleife der Volta Grande do Xingu verlor infolge des Baus bis zu 80 Prozent seines Wassers, im stehenden Gewässer vermehren sich Malariamücken, die Flussanrainer können den Fluss wegen Niedrigwasser nicht mehr benutzen, die Fischpopulationen kollabieren, Wanderfischarten kommen wegen der Dämme nicht mehr zum Laichen und der Zierfischhandel ist eingebrochen. Die als Entschädigung gebauten Ersatzhäuser der Umgesiedelten waren kurz nach Einzug baufällig und nicht ans amazonische Klima angepasst, so dass nur Ventilatoren Kühlung verschaffen konnten, was die monatliche Stromrechnung für die Umgesiedelten unbezahlbar machte. Und Belo Monte selbst produziert nur einen Bruchteil des vollmundig angekündigten Stroms, da die saisonalen Wasserpegelschwankungen auch infolge des Klimawandels die Auslastung der Turbinen nicht gewährleisten – alles, wovor die Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen gewarnt haben, ist eingetroffen. Die deutsche Allianz und die MunichRe erklärten damals noch stolz, dass sie den Bau dieser Anlagen „grüner Energie“ rückversichert haben – und Voith lieferte ein Drittel der Turbinen.

Am Teles Pires existieren vier Großstaudämme; Sinop (400 MW Nennleistung) , Colíder (306 MW Nennleistung), Teles Pires (1,8 GW Nennleistung) und São Manoel (700 MW Nennleistung). Colider musste gerade wegen akuter Bruchgefahr auf behördliche Anhörung den Wasserpegel rapide senken. Dem Damm Teles Pires attestierte ein Gerichtsurteil 2015, verantwortlich zu sein für „die Verringerung der Fischarten, die Verseuchung des Flusswassers, die Abholzung [von Regenwald] und dass die natürlichen Ressourcen in Mitleidenschaft gezogen“ wurden. Das Gericht führte in seiner Urteilsbegründung zudem an, dass durch den Staudammbau und die Flutung von 150 Quadratkilometer Landschaft die Stromschnellen Sete Quedas zerstört wurden. Diese Stromschnellen von Sete Quedas am Fluss Teles Pires aber, so das Gericht, seien für die indigenen Munduruku, die Kayabi und Apiaká heilige Orte. Dort lagerten bis zur Flutung für den Bau des Staudamms Teles Pires im Jahr 2013 die heiligen Urnen der Ahnen der Munduruku, Kayabi und Apiaká. Nur zwölf der Urnen wurden gerettet und im Museum der Kleinstadt Alta Floresta gelagert. Wegen der Unantastbarkeit heiliger, sakraler Stätten sei eine Befragung und Zustimmung nach den Regeln der ILO-Konvention 169 zur freien, vorherigen und informierten Zustimmung (FPIC) unerlässlich, so das Gericht in seiner Entscheidung vom Dezember 2015. Bis heute wurde keine Konsultation im Sinne der ILO 169 durchgeführt. Den Bau des Dammes von Teles Pires hat u.a. die MunichRe rückversichert.

Am Rio Madeira produzieren die Staudämme Jirau (3,75 GW Nennleistung) und Santo Antonio (3,58 GW Nennleistung) zwar den vorhergesagten Strom, aber es kommt lokal zu einer Häufung von Überschwemmungen. Hinzu kommt das Sedimentproblem: Die Dämme blockieren das Sediment, das eigentlich alle paar Jahre ausgebaggert und flussabwärts hinter die Dämme verbracht werden müsste. Das aber ist teuer – da ist es praktischer, wenn die brasilianischen Staudammfirmen flussaufwärts die bolivianischen Akteur*innen aus Politik und Wirtschaft überzeugen, dort selbst Dämme zu errichten. Für den Fortschritt, aber dann haben die Bolivianer*innen das Sedimentproblem. Reibach gemacht haben bei Jirau und Santo Antonio u.a. wiederum: die deutsche Allianz und die MunichRe, die den Bau (rück-)versichert hatten.


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