Brasilien | Nummer 357 - März 2004

Indígenas erzielen mit Landbesetzungen erste Erfolge

Die Guaranís haben von der Landlosenbewegung MST gelernt und zwingen die Regierung zum Handeln

Das Verhältnis zwischen Guaraní-Indígenas und Großfarmern in Südbrasilien ist angespannt. Grund hierfür ist der Kampf der Indígenas um ihre Landrecht. Die Ausweisung von Indianerland wird als „unaufschiebbare Aufgabe“ der Regierung Lula deklariert.

Gerhard Dilger

Iguatemi, eine ländliche Gemeinde im brasilianischen Mittelwesten. Die Mittagssonne brennt auf das weite, fruchtbare Land. Mit Traktoren und kleinen Lastwagen blockieren 500 weiße Farmer und Landarbeiter eine schmale Brücke. Sie wollen einer ebenso großen Gruppe von Guaraní-Indígenas den Weg in deren Dorf Porto Lindo abschneiden.
Unter Kriegsgeheul stürmen die mit Pfeil und Bogen, Stöcken, Macheten und alten Flinten ausgerüsteten Guaranís auf die Blockierer zu. Ihr berittener Anführer in Federschmuck und schwarz-roter Kriegsbemalung schwingt ein Buschmesser und schreit: „Schießt doch! Tötet uns doch! Dieses Land gehört uns!“ Die ebenfalls bewaffneten Farmer rufen, ihr Protest sei friedlich. Im anschließenden Handgemenge weichen sie zurück und verständigen die Polizei.
Der Zusammenstoß im Januar endete glimpflich, auf beiden Seiten kam es nur zu Schrammen. Doch die Lage im Süden des Bundesstaates Mato Grosso do Sul bleibt angespannt. Ende Dezember hatten 3.000 Guaranís 14 Farmen besetzt, um ihrer Forderung nach Ausweitung des Reservats Porto Lindo Nachdruck zu verleihen. Statt der 1.600 Hektar Land, die ihnen 1928 zugestanden wurden, fordern sie 9.400 Hektar. „In Puerto Lindo herrscht ein offensichtliches Ungleichgewicht zwischen der Zahl der dort lebenden Menschen und dem zur Verfügung stehenden Land“, sagt der Anthropologe Rubém Almeida. In 30 Jahren hat sich die Zahl der Dorfbewohner auf heute 3.000 verfünffacht. Mit 34.000 Mitgliedern sind die Guaranís die größte indigene Volksgruppe Brasiliens. Ihre Vorfahren bewohnten zu Beginn der europäischen Kolonialherrschaft weite Teile des heutigen Südbrasiliens und Paraguays. Im 20. Jahrhundert wurden sie von Farmern auf kleine, isolierte Parzellen abgedrängt. Ihre dramatische soziale Lage äußerte sich in den vergangenen 20 Jahren in einer unheimlichen Selbstmord-Serie: Mehr als 300 Indígenas, vor allem Guaraní-Kaiowá-Jugendliche, wählten den Freitod. Mato Grosso do Sul gehört zu jenen Staaten, in denen das Agrobusiness boomt – Viehzucht, Zuckerrohrplantagen und in den letzten Jahren vor allem der Sojaanbau.

Der MST als Vorbild der Guaranís
Nun haben die Guaranís die Methoden der Landlosenbewegung MST kopiert: Sie vermeiden es, einzelne Sprecher zu exponieren, lassen bei ihren Demonstrationen Kinder mitmarschieren und werden bei ihren Aktionen von engagierten Katholiken unterstützt. Beim brasilianischen Sozialforum im vergangenen November hatten die MST und indigene Gruppen vereinbart, enger zusammenzuarbeiten.
Die Farmer, die das Land zum Teil seit Jahrzehnten bestellen, halten dagegen. Vor Gericht erwirkten sie zunächst einen Räumungsbefehl, der aber mittlerweile wieder aufgehoben wurde.
Den Staat wollen sie auf Entschädigung für die Einbußen an ihren Viehherden und Sojafeldern verklagen. Pedro Fernandes, einer ihrer Wortführer, kündigte gar „Selbstjustiz mit allen Mitteln“ an.
Wie bei vielen Landkonflikten steckt die Regierung Lula in einer Zwickmühle: Einerseits gesteht sie den Indígenas prinzipiell das Recht auf mehr Land zu, andererseits möchte sie es sich auch nicht mit den Farmern verderben. In Mato Grosso do Sul sympathisiert der Gouverneur, ein Parteifreund von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, offen mit den Großbauern. So war die Versuchung groß, die Konflikte zu verschleppen.

Mit Landbesetzungen Fakten schaffen
Mit der überraschenden Landbesetzung haben die Guaranís neue Fakten geschaffen. Lula müsse endlich begreifen, dass die Ausweisung von Indianerland zu seinen „unaufschiebbaren Aufgaben“ gehöre, sagt Egon Heck vom katholischen Indianermissionsrat Cimi. Auch Mércio Pereira Gomes, der die Indianerbehörde Funai in Brasília leitet, hält die Forderungen der Guaranís für berechtigt. Nun sicherte er ihnen zu, bis Ende Februar werde ein anthropologisches Gutachten, das ihre Ansprüche auf das besetzte Land untermauert, zur offiziellen Grundlage der Politik in der Region gemacht. Im Gegenzug räumten die Guaranís elf der 14 Farmen.

Das koloniale Erbe der Großbauern
Die Farmer lehnen das Abkommen zwischen der Funai und den Guaranís ab: „Uns hat man nicht angehört.“ Lokalblätter berichten von bewaffneten Schlägertrupps, die die drei übrigen Fazendas im Auftrag ihrer Besitzer räumen sollen. Der Bürgermeister von Japorão, einer der beiden Gemeinden in der betroffenen Region, warnte sogar vor einem drohenden Massaker. Ein Guaraní trug bereits eine Schusswunde davon.
Viele der weißen Farmer behaupten, im Besitz von Dokumenten zu sein, die ihre Rechte auf das umstrittene Land belegen. In zahlreichen Fällen handelt es sich inzwischen um die Nachfahren der ursprünglichen „Eigentümer“, die das Land vor 50 oder 80 Jahren mit Billigung der damaligen Regierung in Besitz genommen hatten.

Keine Fortschritte bei versprochener Landrückgabe
Nach der Verfassung von 1988 sollen in ganz Brasilien die Gebiete, die nachweislich von Indígenas bewohnt worden waren, diesen zurückgegeben werden. Die betroffenen Farmer müssen für die von ihnen durchgeführte Erschließung der Gebiete entschädigt werden. Doch 2003 gab es in dieser Hinsicht kaum Fortschritte im Vergleich zur Ära Cardoso (1995-2002). Entsprechend harsch fiel die Kritik des Cimi an der Regierung Lula aus, der er im November die Fortsetzung einer „kolonialen Politik“ vorwarf.
In mehreren Landesteilen bleibt die Lage explosiv: Die Ausweisung des Reservats Raposa/Serra do Sol im Amazonas-Bundesstaat Roraima, die Justizminister Márcio Thomaz Bastos mehrfach angekündigt hatte, steht immer noch aus. In Mato Grosso do Sul kam es Anfang Februar zu einer weiteren Landbesetzung. Und im südlichen Bundesstaat Santa Catarina wurde ein Farmer erschossen.

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