Chile | Nummer 241/242 - Juli/August 1994

Insektizide auf Santiago

Wie chilenische Behörden den Obstexport schützen

Santiago de Chile, 3.März 1994. Ein ganz normaler Sommertag in La Cisterna, einem ärmlichen Stadtviertel im Süden Santiagos. Kinder spielen auf der Straße, Wäsche hängt in der glühenden Sonne zum Trocknen auf der Leine, Mütter gehen mit ihren Kleinkindern auf dem Arm zum Einkaufen auf den Gemüsemarkt, fliegende HändlerInnen haben ihre Waren ausgebreitet. Un­vermittelt tauchen kleine Flugzeuge wie giftige Insekten im Tiefflug über den Häusern auf. Und bedrohlich und giftig sind sie in der Tat: Sie versprühen über das gesamte Wohngebiet Malathion, ein hochtoxisches Insektizid. Das Gift legt sich auf Bäume, Häuser, Autos, Wäsche und Spielplätze. Es fällt auf den trok­kenen Staub und wird von jedem Windstoß, von jedem vorbeifahrenden Fahr­zeug neu aufgewirbelt. Es legt sich auf Haare, Gesichter und Hände der Men­schen, die sich im Freien aufhalten. Die Luft ist verseucht, alle atmen das Gift. Es dringt durch Türen und Fenster in die Häuser. Niemand ist darauf vorbe­reitet. Niemand wei゚ zunächst, was eigentlich los ist. Zwei weitere Kommunen, ebenfalls im Süden Santiagos, werden an diesem Tag besprüht: El Bosque und San Ramón. Auch hier leben vor allem Menschen, ca. 400.000, die vom “Modell Chile” kaum profitieren.

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Der Insektizideinsatz über Santiago wurde mit der Entdeckung von rund 20 Frucht­fliegen, Schädlingen an Obstbäumen, be­gründet. Sie waren den Angestellten des “Servicio Agrícola y Ganadero” (SAG – Land- und Viehwirtschaftsbehörde) am 21. Februar bei den regelmäßig stattfin­denden Kontrollen aufgefallen. Zehn Tage ließ die Behörde danach verstreichen, um dann am 2. März völlig unvermittelt mit der Sprühaktion zu beginnen, ohne die zu­ständigen Ratsmitglieder und die Bevölke­rung zu informieren. Am 5.März kündigte der Leiter des SAG an, innerhalb der nächsten vier Wochen seien weitere vier bis neun Sprühflüge über denselben Stadtvierteln notwendig. Die Versuche der BewohnerInnen, sich mit Papiertüchern vor dem Mund zu schützen, konnten dabei nicht mehr sein als eine hilflose Geste.
Schon nach der ersten Sprühaktion herrschte in den betroffenen Gebieten Empörung und Unverständnis. In den Zeitungen wurde relativ breit darüber be­richtet, vor dem SAG-Gebäude fanden Kundgebungen von Umweltschutz-und Jugendorganisationen statt. Die zu Pro­testversammlungen zusammengekomme­nen lokalen BürgermeisterInnen sprachen sich allerdings mehrheitlich nicht gegen die Aktion als solche aus, sondern gegen den Mangel an Information und Abspra­che seitens des SAG. Bei den späteren Sprühflügen wurden die lokalen Stadt­verwaltungen und die Öffentlichkeit vor­her zumindest über den Termin informiert.
Tierfutter ins Haus!
Zur Kanalisation der Unruhe richteten die Kommunen ein Beschwerdetelefon ein. In den ersten drei Tagen gingen dort 460 An­rufe ein. Gemeldet wurden u.a. 97 Asth­maanfälle, 82 Fälle von Augenreizungen, mindestens zehn Menschen mit erhöhtem Blutdruck. Es gab auch einen Todesfall – jeglicher Zusammenhang mit der Be­sprühung wurde allerdings von den Be­hörden kategorisch abgestritten. Über­haupt wurde die Behörde nicht müde zu beteuern, wie absolut ungefährlich Mala­thion für Menschen und Tiere sei, und daß – trotz der gemeldeten und belegten Ge­sundheitsbeschwerden der BewohnerIn­nen – keinerlei Risiko bestehe. Paradox mutet da die Empfehlung an, als Vor­sichtsmaßnahme kein Tierfutter draußen stehen zu lassen, keine Wäsche aufzuhän­gen und im Haus zu bleiben, wenn die Flugzeuge kommen. Das hochtoxische Nervengift beschrieb die Behörde als “Sexuallockstoff für die Fruchtfliegen”, was sich wesentlich freundlicher anhört, aber kaum haltbar sein dürfte.
Exporterfolg Obst
Der Obstexport ist im “Modell Chile” ein so wichtiger Pfeiler der Wirtschaft gewor­den, daß die Behörden zu so drastischen Maßnahmen greifen. Der Präsident der Sociedad Nacional de Agricultura (SNA, Nationale Landwirtschaftsgesellschaft) Ernesto Correa sprach offen aus, worum es geht. Er bezeichnet die Besprühung der Stadtviertel als “tolle Sache” und be­glückwünschte den SAG dazu. Correa weiter: “Wieviele Proteste es auch geben mag, es ist unbedingt notwendig, einen guten Hygienestand zu haben, um Märkte (für Fruchtexporte-Verf.) zu öffnen und weiterhin in andere Länder zu exportie­ren… um den komparativen Vorteil (Chiles gegenüber anderen Obstexport­ländern) zu sichern.” Auch der Präsident der Vereinigung der Exporteure, Ronald Brown, warb bei der Bevölkerung um Verständnis für die “Lösung dieses Pro­blems, das die Wirtschaft des Landes be­einträchtigen kann”. Der Leiter des SAG, Sánchez, prognostizierte, die Lage auf den internationalen Märkten werde sich ver­komplizieren, gelinge es nicht, die Frucht­fliege schnell unter Kontrolle zu bringen. Denn die Importeure chilenischen Obstes, allen voran die USA, die allein 60 Prozent der chilenischen Früchte abnehmen, rea­gierten empfindlich. So mußte das Auf­tauchen der Fruchtfliege umgehend dem Landwirtschaftsministerium der USA ge­meldet werden. Wird die Fruchtfliege dann nicht mit allen Mitteln bekämpft, werden Importbeschränkungen ausgespro­chen.
Die Konkurrenten würde es freuen. Süd­afrika, Neuseeland, Spanien, Italien, Bra­silien und Argentinien bieten ebenfalls Obst an. Für Chile ist es zunehmend schwieriger geworden, seine Früchte auf dem immer weiter abgeschotteten EG-Markt, nach den USA zweitwichtigster Handelspartner, loszuwerden. 1993 be­legte die EG die chilenischen Äpfel mit Schutzzöllen, die Folge waren Verluste von 129 Mio. US-Dollar für die chileni­schen Exporteure. Nur noch halb soviele chilenischen Kiwis dürfen verglichen mit dem Vorjahr auf den EG-Markt, und das noch dazu zu einem schlechteren Preis. Neue Märkte sollen diese Verluste aus­gleichen. Die Exporte in die lateinameri­kanischen Nachbarstaaten konnten von 1993 auf 1994 um 54 Prozent gesteigert werden. Angesichts des enormen Konkur­renzdrucks der beteiligten Länder unter­einander dürften diese Märkte jedoch be­grenzt bleiben. Im März 1994 führte der Fund einer einzigen Raupe in einer La­dung chilenischen Obstes in Mexiko zu einem Importverbot für die gesamte be­troffene Fracht im Gesamtwert von sechs Millionen US-Dollar.
Der Obstanbau für den Export wurde wäh­rend der Pinochet-Diktatur im Rahmen der neoliberalen Umgestaltung besonders gefördert und machte eine atemberau­bende Entwicklung durch. Der “Erfolg” war so groß, daß der Obstexport als einer der Motoren des Modells bezeichnet wurde. In den 80er Jahren entwickelten sich die Obstanbau und Fischerei zu den nach dem Kupferbergbau zweitwichtig­sten Exportbereichen.
1973 exportierte Chile lediglich 45,1 Ton­nen frisches Obst, 1992 1,2 Mio. Tonnen. Chile hat heute einen Weltmarktanteil am Handel mit nicht-tropischen Früchten von 13 Prozent. Der Exportwert der Früchte machte 1987 527 Mio. US-Dollar aus. Der Anteil des Obstes am Gesamtexport Chi­les belief sich 1989 auf 11 Prozent. 1991 hatte sich dieser Betrag fast verdoppelt (993 Mio. US-$) und fiel 1992 wieder leicht.
Monokulturen für Devisen
Die Exporte verteilen sich auf fünf Früchte: Pflaumen, Kiwis, Äpfel, Birnen und vor allem Weintrauben, die 1992 al­lein 425 Mio. US-Dollar ausmachten. Die Zahl der Arbeitsplätze im Obstanbau, von denen die meisten saisonal begrenzt sind, stieg dagegen nur von 33.000 zwischen 1970 und 1973 auf 88.000 im Jahr 1993.
Die extreme Erhöhung der Produktivität in den achtziger Jahren ist darauf zurück­zuführen, daß in der Zeit der Pinochet-Diktatur transnationale Konzerne riesige Ländereien aufkauften, um dort pestizid- und düngeintensive Monokulturen für den Export entstehen zu lassen. Zur Zeit gibt es etwa 300 Exportunternehmen, von denen nur 30 Prozent überhaupt einen nennenswerten Marktanteil haben. Die größten zehn Unternehmen teilen sich da­bei 60 Prozent des Exportvolumens.
Viele ehemalige Kleinbauern ziehen in­zwischen als Saisonkräfte durch das ganze Land, je nachdem, wo gerade Erntezeit ist. Zwar gab es auch schon vor der Um­strukturierung SaisonarbeiterInnen, aber damals kamen auf eine Saisonkraft vier LandarbeiterInnen mit fester Arbeit. Heute ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die Zahl der SaisonarbeiterInnen in diesem Bereich bewegt sich zwischen 500.000 und 800.000 bei einer Gesamtbevölkerung von nur 13 Mio. Menschen. Angesichts dieser Zahlen werden auch die offiziellen Ar­beitslosenstatistiken besser verständlich. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Chile lediglich bei ca. fünf Prozent. Die Saisonarbeitskräfte, die keine feste Arbeit haben und immer wieder Zeiten der Ar­beitslosigkeit überbrücken müssen, finden in dieser Berechnung keinerlei Berück­sichtigung.

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