Brasilien | Nummer 510 – Dezember 2016

INTRIGENSPIEL GEGEN LULA

Mit der Verhaftung des Ex-Unterhauspräsidenten Eduardo Cunha geht Brasiliens Politkrimi in die nächste Runde – aber noch lange nicht zu Ende

Die Korruptionsermittlungen um den Petrobras-Skandal erschüttern weiter die Politik des Landes. Neue Aussagen der Führungsriege des Baukonzerns Odebrecht bergen Sprengstoff. Doch das Intrigenspiel um Korruptionsermittlungen und Machtwechsel zielt vor allem auf die Verhinderung einer erneuten Kandidatur des Ex-Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva ab.

Von Andras Behn

Mitte Oktober war es soweit. Eduardo Cunha, einst erbittertster Gegenspieler der mittlerweile abgesetzten Präsidentin Dilma Rousseff, wurde in Handschellen abgeführt. Seitdem sitzt der ehemalige Präsident der Abgeordnetenkammer in der südbrasilianischen Stadt Curitiba im Gefängnis, von der aus die Ermittlungen im Mega-Korruptionsskandal rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras geleitet werden. Der erzkonservative, evangelikale Cunha initiierte Ende vergangenen Jahres das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff und nutzte sein Amt als Unterhauspräsident, um eine große Zahl treuer Abgeordneter hinter sich zu scharen.
Aufgrund von Korruptionsvorwürfen – Cunha soll Bestechungsgeld in Millionenhöhe auf Schweizer Konten gebunkert haben – musste er bereits vor Monaten seinen Posten räumen und später auch das Abgeordnetenmandat abgeben. Mehrfach drohte er, bei einer Festnahme zahlreiche andere Politgrößen Brasiliens mit in den Abgrund zu reißen. Cunhas Mitte-rechts Partei PMDB, der auch der umstrittene neue De-facto-Präsident Michel Temer und wichtige Minister angehören, gilt als eine der korruptesten und sein Wissen über Einzelheiten dürfte viele Politiker*innen in Schwierigkeiten bringen.

Doch bisher schweigt Cunha. Es sieht so aus, als hätte er beim großen Projekt Machtwechsel seinen Dienst getan und werde nun nicht mehr benötigt. Die These ist naheliegend, dass die längst überfällige Festnahme zeigen sollte, dass sich die Korruptionsermittlungen nicht nur gegen Rousseffs Arbeiterpartei PT richten. Dies hatten diverse linke Kommentator*innen und Politiker*innen seit langem kritisiert. Ununterbrochen kommentierten die großen Medien am Tag der Festnahme, dass diese Kritik nun nicht mehr haltbar sei.
Die Episode zeigt, dass der Politkrimi in Brasilien verworren bleibt. Neben allen Gerüchten gibt es in linken Kreisen wohl nur eine Gewissheit: Den neuen Machthabern und den Petrobras-Ermittler*innen ging es nicht nur darum, Rousseff abzusetzen und eine rechtsliberale Regierung ans Ruder zu bringen. Genauso wichtig ist es, ihren Vorgänger Luiz Inácio „Lula“ da Silva ins Gefängnis zu bringen – oder zumindest zweimal verurteilen zu lassen, damit er 2018 nicht erneut kandidieren kann. Mehrfach deutete Lula diese Möglichkeit an.
In der zweiten Oktoberwoche wurde der bislang dritte Prozess gegen die Symbolfigur der PT von einem Gericht in der Hauptstadt Brasília eröffnet. Laut Staatsanwalt soll Lula während und nach seiner Amtszeit Einfluss auf die staatliche Entwicklungsbank BNDES genommen haben, um Bauvorhaben des Unternehmens Odebrecht in Angola großzügig zu finanzieren. Als Gegenleistung soll der Bauriese ihm und zehn Mitangeklagten umgerechnet rund neun Millionen Euro Bestechungsgeld gezahlt haben. Auch die beiden anderen Prozesse gegen Lula stehen im Zusammenhang mit dem Petrobras-Skandal. Ohne irgendeinen Beweis vorzulegen, nannte ein ermittelnder Staatsanwalt Lula bereits den „Obersten Chef“ des Korruptionsnetzwerks.
Obwohl die Verdachtsmomente gegen zahlreiche Vertraute von Temer und Politiker*innen anderer konservativer Parteien weit schwerwiegender sind, konzentrieren sich die Aktionen der Ermittler*innen ebenso wie die Medien-Schlagzeilen auf die PT.
Ende September wurde Guido Mantega vorübergehend festgenommen, der unter Rousseff und auch schon unter Lula Finanzminister war. Beamte der Bundespolizei führten Mantega aus einem Krankenhaus in São Paulo ab, in dem er seiner Frau Stunden vor einer komplizierten Krebsoperation beistand. Nur wenige Tage später wurde sein Vorgänger Antonio Palocci, ebenfalls langjähriges Führungsmitglied der PT, verhaftet. Auch ihm werden illegale Geschäfte im Rahmen des Petrobras-Korruptionsskandals vorgeworfen.
Vorerst letztes Kapitel der Ermittlungen ist die geplante Kronzeugenaussage der gesamten Chefetage des größten Bauunternehmens des Landes Odebrecht. Da der Baumulti die meisten Aufträge von Petrobras und anderen staatlichen Trägern einheimste, könnten die Aussagen viel Sprengstoff bergen. Zudem existiert eine Liste mit Decknamen, die zahlreiche Bestechungsgeld-Empfänger*innen und konkrete Summen benennt. Richtig publik wurde diesbezüglich bisher nur ein Name: „amigo“, was laut Presse für Lula stehen soll.
Die PT spricht von politischer Verfolgung durch Justiz und Polizei, namentlich des Bundesrichters Sérgio Moro aus Curitiba. Die spektakulären Festnahmen, über die die Medien genüsslich berichteten, sollten die PT weiter diskreditieren, nachträgliche Rechtfertigungen für die Absetzung von Rousseff im August liefern und Lulas Ansehen beschädigen.
Sprachlich erinnern die Vorwürfe der jetzigen Opposition, von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen an die Auseinandersetzung mit einem diktatorischen Regime. Auch die Machtübernahme durch Rousseffs Vizepräsidenten Temer wird als Staatsstreich oder „parlamentarischer Putsch“ bezeichnet. Fraglos ist das, was derzeit im größten Land Lateinamerikas vor sich geht, nicht mit rechtsstaatlichen Zuständen vereinbar. Es ist ein undurchsichtiges Intrigenspiel um Macht, ökonomische Interessen und die politische Ausrichtung des Landes.
Die Demontage der Demokratie Brasiliens, der seit drei Legislaturperioden regierenden Arbeiterpartei und des von ihr erstmals in der Geschichte zaghaft versuchten Sozialstaats, begann spätestens mit der Wiederwahl Rousseffs im Oktober 2014. Die Elite war offenbar nicht bereit, weitere vier Jahre auf ihre Machtpfründe im Staat zu verzichten. Die Wahl wurde auf allen möglichen Ebenen angefochten, mit massiver Unterstützung der großen Medien wurden das Land und die Wirtschaft schlecht geredet und Massendemonstrationen inszeniert. Die Umsturzstimmung begünstigte aber auch noch andere Faktoren. International machten fallende Rohstoffpreise der Ökonomie zu schaffen, und die Abnutzung anderer Linksregierungen auf dem Kontinent trug ebenfalls zu einem Imageverlust bei. Wichtiger noch waren Fehler von Rousseffs Regierung, die ihre Sozialpolitik nicht auf nachhaltige Füße gestellt hatte und sich bei ersten Finanzschwierigkeiten an den liberalen Vorstellungen ihrer undankbaren Gegner*innen orientierte und damit die eigene Basis gegen sich aufbrachte.
Zum wichtigsten Trumpf im Kampf gegen die PT-Regierung aber wurden die Korruptionsermittlungen. Pech für Rousseff, dass das auf Bestechung und illegalen Kassen beruhende Politsystem just dann in Frage gestellt wurde, als sie an der Macht war. Allerdings hat sich die PT selbst zuzuschreiben, dass sie sich nahtlos in dieses System integrierte, nachdem sie 2003 mit dem Versprechen einer neuen Politikmoral antrat.
Obwohl Rousseffs Beliebtheit im März nur noch im einstelligen Bereich lag, gelang es nicht, sie von der Macht zu verdrängen. Das lag auch daran, dass die brasilianische Verfassung die Absetzung des direkt gewählten Staatsoberhaupts nur unter extremen Bedingungen erlaubt. Deswegen setzten die führende rechte Oppositionspartei PSDB, deren Kandidat 2014 gegen Rousseff unterlag, Unternehmerverbände und das Medienmonopol auf den offenbar einzig gangbaren Weg – das Amtsenthebungsverfahren. Der Haken dabei war, dass nach einer Absetzung der Präsidentin ihr Vizepräsident die Macht übernimmt, also Temer vom wichtigsten Koalitionspartner PMDB, die seit Jahren die PT-Politik mittrug und sich gerne der sozialen Errungenschaften und Erfolge bei der Armutsbekämpfung rühmte.
Allerdings legt die PMDB kaum Wert auf ein politisches Profil und war schon an den konservativen Regierungen vor Lula an der Macht beteiligt. Ausschlaggebend für den Ausstieg aus der Koalition und damit das erfolgreiche Amtsenthebungsverfahren war aber wohl wieder der Korruptionsskandal: Die große Mehrheit der PMDB-Spitzenpolitiker*innen ist in die Affäre verstrickt. In einem im Mai veröffentlichten Gesprächsmitschnitt sagt Temers enger Vertrauter und kurzzeitige Planungsminister, Romero Jucá, das „Ausbluten“ der politischen Klasse durch die Ermittlungen müsste gestoppt werden. Gesagt, getan. Jetzt stellt die PMDB den Präsidenten, und es ist zu vermuten, dass er alles daran setzen wird, Ermittlungen in den eigenen Reihen zu behindern.
Für die PMDB ist die Machtübernahme also in erster Linie eine Schutzmaßnahme. Hinter ihr stehen diejenigen, die 14 Jahre lang nicht an der Macht waren und jetzt in einer breiten Koalition einen rasanten neoliberalen Rückschritt gestartet haben. Temer hat kein Problem, die Vorgaben als seine Politik zu verkaufen: Rentenrefom, Kürzungen und stärkere Kontrollen bei Sozialleistungen, Einfrieren der Staatsausgaben für Gesundheit und Bildung, Privatisierung von Staatsbetrieben und Öffnung aller Wirtschaftsbereiche für ausländische Investoren (siehe Artikel auf Seite 25-26). Um die Geschichte wirklich zurückzudrehen, ist sogar eine Bildungsreform geplant, die fortschrittliches Gedankengut aus den Schulbüchern verbannt.
Widerstand gegen den Trip in die Vergangenheit gibt es bislang wenig, obwohl immer wieder demonstriert und inzwischen auch gestreikt wird. Das liegt wohl auch daran, dass die PT kaum Selbstkritik übt und alle Schuld an ihrem Debakel dem politischen Gegner in die Schuhe schiebt.
Allerdings knirscht es bereits im neuen Machtgefüge. Gewohnheitsgemäß bedient die PMDB ihre große Klientel mit Gefälligkeiten, was der von der PSBD verordneten Sparpolitik zuwider läuft. Das Zweckbündnis ist alles andere als stabil. Einigkeit besteht nur darin, dass die Macht gesichert werden muss, und zwar gegen den Mann, der zu ihrem Leidwesen in Wahlumfragen für 2018 mit Abstand an der Spitze liegt: Der Ex-Gewerkschafter Lula. Trotz aller Demontage der PT ist sein Ruf noch so gut, dass er einen Sieg der Rechten an den Urnen verhindern könnte.

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