Argentinien | Nummer 608 - Februar 2025

Jeden Mittwoch am Kongress

Der Kampf der Rentner*innen ist ein kleiner Lichtblick in den finsteren Zeiten von Milei

Bilder von alten Menschen, die sich in Buenos Aires gegen Knüppel und Tränengas wehren, gingen im September um die Welt. Die Rentner*innen lassen sich die Straße nicht nehmen. Jeden Mittwoch demonstrieren sie am Kongress, umringt von martialisch ausgerüsteten Robocop-Polizisten. Immer dabei: die roten Transparente der Jubilados/as Insurgentes, der „aufständischen Rentner*innen“. Dieser Bericht aus Buenos Aires begleitet einige von ihnen.

Von Alix Arnold, Buenos Aires
Fotos: Alix Arnold

Im ersten Jahr der Regierung Milei haben Rentner*innen in Argentinien laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) mehr als ein Drittel ihrer Kaufkraft verloren. Gegen eine vom Parlament beschlossene Rentenreform, die einen Inflationsausgleich vorsah, legte Milei im August sein Veto ein. Dies war der Anlass für mehrere Demonstrationen von Rentner*innen, die von Polizei und Gendarmerie mit brutaler Gewalt angegriffen wurden.

Der nächste Schlag folgte Anfang Dezember. Die Gratismedikamente, die bisher allen Rentner*innen mit geringem Einkommen zustanden, bekommen nun nur noch diejenigen, deren Einkommen unterhalb der Mindestrente liegt. Sie müssen dafür komplizierte Anträge stellen, die für viele kaum zu bewältigen sind. Die Mindestrente beträgt knapp 300.000 Pesos, etwa 300 Euro, bei einem ähnlichen Preisniveau wie in Deutschland. Die Rentner*innen, die sich jeden Mittwoch am Kongress versammeln, mobilisierten deshalb am 4. Dezember zunächst zum PAMI, der Sozialbehörde, die für die medizinische Versorgung der Rentner*innen zuständig ist. Bei der Kundgebung, die von schwarz gekleideten Robocops auf dem Bürgersteig zusammengedrängt wurde, berichteten Betroffene über die grausamen Auswirkungen der neuen Regel: Sie müssen auf dringend benötigte Medikamente verzichten. Aufgrund dieser Dramatik kam es am nächsten Tag in Córdoba zu einer Verzweiflungstat. Ein Rentner überschüttete sich im PAMI-Büro mit Benzin und versuchte, sich anzuzünden.

In Buenos Aires machten sich die Rentner*innen nach der Kundgebung auf den Weg zum Kongress. Sie kamen durch, trotz vielfacher Behinderung durch die Robocops. Die Sympathie der Bevölkerung ist eindeutig auf ihrer Seite. Anfeuernde Rufe, solidarisches Hupen, Applaus von Angestellten der Cafés und Geschäfte, vorbeifahrende Müllarbeiter grüßten mit erhobener Faust. Die Rentner*innen antworteten mit der guten alten Parole von der Einheit der Arbeiter*innen.

“Die Rentner*innen zu beklauen, ist ein gesellschaftliches Verbrechen” Protest in Buenos Aires vs Robocop-Polizisten (Foto: Alix Arnold)

Bei den Mittwochsaktionen kommen verschiedene Gruppierungen zusammen, die über Parteien, Gewerkschaften oder Stadtteile organisiert sind. Eine der Aktivisten sind die Jubilados/as Insurgentes. Sie betonen ihre Unabhängigkeit von Parteien und Gewerkschaften. „Aufständisch ist ein Synonym für revolutionär“, sagt Ruben Cocurullo, der seit den Anfängen 2017 dabei ist. Eine Handvoll Rentner*innen machte damals die eigene Situation zum politischen Thema. Mit Flugblättern gingen sie jeden Montag zum PAMI, um dort mit den Rentner*innen zu reden. Da sich der landesweite Runde Tisch der Rentner*innen schon seit Jahrzehnten mittwochs am Kongress traf, gingen sie ebenfalls dort hin. Als ihre Gruppe auf 15 Personen angewachsen war, gaben sie sich den Namen Jubilados/as Insurgentes, „aufständische Rentner*innen“.

Die Pandemie war ein Rückschlag für die Organisierung, aber in der Gruppe gab es Leute mit Computerkenntnissen, und so begannen sie sich virtuell per Meet zu treffen. „Wir alle mussten Dinge lernen, von denen wir nichts wussten“, erzählt Ruben. „Aber wir sind auch bald wieder auf die Straße gegangen und zum Kongress.“ Dort schlug eines Tages jemand vor, eine Runde um den Kongress zu drehen, so wie die Madres, die Mütter der Verschwundenen, jede Woche die Pyramide auf der Plaza de Mayo umrunden. Ruben erinnert sich: „Manche fanden das verrückt, denn wir waren nur wenige, 20 oder 25. Aber wir hatten schon unsere selbstgemalte Fahne mit dem Namen und Schilder mit Forderungen. Wir haben es versucht, und es lief gut. Beim nächsten Mal sind wir nach der Runde auf der Straße geblieben und haben sie an der Ampel mit unseren Bannern blockiert. Bei jeder dieser Aktivitäten haben sich uns ein oder zwei Leute angeschlossen.“

Mit der Regierungsübernahme von Milei im Dezember 2023 verschärfte sich die Situation. Demonstrationen wurden zur Straftat erklärt, falls sie den Verkehr beeinträchtigen. Ab Anfang 2024 gab es heftige Auseinandersetzungen um das „Omnibus-Gesetz“, ein Gesetzespaket, mit dem sich Milei weitere Vollmachten sichern wollte (siehe LN 597). Die Jubilados/as Insurgenteswaren mit ihrem Banner für die Journalist*innen ein interessantes Motiv. Ruben berichtet von einer Demo im Februar: „Alle wollten uns fotografieren, da waren mindestens 50 Journalist*innen, die waren mehr als wir. Das wurde live im Fernsehen übertragen. Also sagte die Regierung der Polizei, sie solle die Presse vertreiben. Die sollte nicht mehr filmen, wie sie uns mit ihren Schilden gestoßen und mit Knüppeln geschlagen haben. Ich habe Tränengas abbekommen, eine compañera mit Asthma musste medizinisch versorgt werden. Mit diesen Bildern sind wir berühmt geworden! Darum geht es uns ja nicht, aber danach bekamen wir viele Mails, Leute wollten bei uns mitmachen. Unserem Facebookaccount folgten Mitte Februar schon 400 Leute, doppelt so viele wie Anfang Januar. Wenn sie uns einfach hätten demonstrieren lassen, wäre das nicht passiert.“

“Mit diesem Bildern sind wir berühmt geworden!”

Raúl Roverano kommt zu unserem Gespräch dazu. Er hat eine compañera begleitet, die aus Caleta Olivia im Süden stammt und wegen der Behandlung eines Krebsleidens in Buenos Aires ist. Raúl berichtet von ihrem Kampf gegen die Bürokratie des PAMI, um die Genehmigung der Operation und der Medikamente für die Chemotherapie durchzusetzen. Erst nachdem sie bis zum Chef der Behörde durchgedrungen waren, bekamen sie das Rezept. Raúl kritisiert die teils absurden Verfahren und das ganze System: „Die Rentenbehörden PAMI und ANSES müssten von den Rentner*innen und Arbeiter*innen verwaltet werden, nicht vom Staat, der das Geld für andere Dinge rauszieht.“ Die Medikamente seien schließlich nicht gratis, sondern von ihren Beiträgen bezahlt. Sie fordern, dass das PAMI die Bilanzen offenlegt. Die im Netz zugänglichen Daten seien nicht aktuell.

Auch Raúl gehört zu den ersten Mitgliedern der „Aufständischen“. Er fragt sich, warum sie mittwochs nur etwa 200 sind: „Bei all der Wut sollten wir dort mit Tausenden stehen!“ Aber er hat Verständnis für die Rentner*innen, denen es gesundheitlich und finanziell schlechter geht, und die es nicht auf die Straße schaffen. Raúl und Ruben arbeiten beide als Rentner noch weiter. Raúl war Ingenieur in der Atomindustrie. Ruben hat sich als Metallfacharbeiter nach zehn Fabrikjahren selbständig gemacht, er bekommt nur die Mindestrente. Er hat noch genügend Aufträge, um mit seiner Frau über die Runden zu kommen, aber sie müssen sich sehr einschränken. Kleidung kaufen oder die Kinder zu sich zum Essen einladen ist nicht mehr drin. Eine gemeinsame Forderung der Rentenproteste ist die Erhöhung der Mindestrente auf den Wert des Warenkorbes für einen älteren Erwachsenen. Das wäre fast eine Million Pesos, das Dreifache der jetzigen Mindestrente.

Das Demonstrieren ist schwierig geworden unter Milei. Viele haben im letzten Jahr Verletzungen davongetragen, und auch die vielen willkürlichen Festnahmen sollen einschüchtern. Im Juni 2024 wurden nach einer Demonstration gegen das „Omnibus-Gesetz“ 33 Menschen mit dem absurden Vorwurf des Terrorismus inhaftiert. Danach fanden deutlich weniger Demonstrationen statt.

Die Rentner*innen versuchen jeden Mittwoch, ein Stück Straße zurückzuerobern. Nach der Runde um den Kongress bleiben sie noch eine Zeitlang auf der Kreuzung, bewegen sich langsam von einer roten Ampel zur anderen, und blockieren damit wenigstens ein bisschen den Verkehr. Am 20. Dezember, dem Jahrestag des Aufstands von 2001, mit dem Argentinien damals ein Hoffnungsort der Linken wurde (siehe LN 335), gibt es eine Kundgebung auf der Plaza de Mayo. Das kleine Grüppchen der Aufständischen trifft sich auf der Avenida de Mayo und schafft es, fast einen Kilometer lang auf der Straße zu demonstrieren, bevor sie kurz vor dem Platz brutal auf den Bürgersteig abgedrängt werden.

Nur ein kleiner Landgewinn, aber er macht anderen Mut.

Ruben erzählt, dass sein Vater in den 1930er-Jahren aus Italien nach Argentinien kam, auf der Flucht vor dem Faschismus. Dass sie nun in Argentinien wieder gegen den Faschismus kämpfen müssen, macht ihn traurig und wütend. Aber die Rentner*innen von heute haben in jungen Jahren starke Klassenkämpfe und die Diktatur von 1976 bis 1983 erlebt. Von daher ist Ruben optimistisch: „Wir haben schon anderes gesehen. Wir lassen uns auch von dieser Diktatur nicht einschüchtern.“


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