Nummer 455 - Mai 2012 | Venezuela

,,Jeder Elfte hat seinen Dreizehnten“

Interview mit dem Autor und Venezuela-Experten Gregory Wilpert

Im April feierten die Venezolaner_innen das Scheitern des Putsches gegen ihren gewählten Präsidenten Hugo Chávez vor zehn Jahren. Die bisherigen Eliten hatten die Unterstützung der Bevölkerung für den Präsidenten damals völlig falsch eingeschätzt. Am Abend des 13. April kehrte Chávez per Hubschrauber in den Präsidentenpalast zurück und hat ihn seitdem nicht wieder verlassen. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit dem Politikprofessor Gregory Wilpert über die Entwicklungen Venezuelas in den letzten zehn Jahren und die bevorstehenden Wahlen am 7. Oktober 2012.

Interview: Angela Isphording

Inwiefern hat der Putsch die Rolle Chávez‘ in der venezolanischen Gesellschaft geprägt?
Der Putsch hat die Regierung grundlegend verändert. Mehr Bedeutung als der Putsch vom 11. April 2002 hatte allerdings der Versuch der Erdölmanager, die Regierung von Chávez im Dezember desselben Jahres zu stürzen. Ab da hat sich die Regierung zunehmend radikalisiert. Die Opposition wurde als klarer Widersacher erkannt und eine grundlegende wirtschaftliche und politische Transformation des Landes in Angriff genommen. Zwei Jahre später hat sich Chávez dann ja auch zum Sozialismus bekannt.
Eine andere Auswirkung der gescheiterten Umsturzversuche war die absolute Delegitimierung der Opposition. Bis dahin wurde ja gerne behauptet, dass der Präsident keine Unterstützung in der Bevölkerung habe und seine Position jeder Legitimation entbehre. Das wurde durch die massive Positionierung breiter Teile der Bevölkerung gegen den Staatsstreich ad absurdum geführt. Das ist auch heute noch wichtig und wird von Chávez immer wieder aufgegriffen. Der oft verwendete Slogan „jeder Elfte hat seinen Dreizehnten“ bedeutet, dass jeder Versuch der Opposition, Chávez zu stürzen, nicht funktionieren wird.

Ist Venezuela heute, zehn Jahre nach dem Putsch, im Sozialismus des 21. Jahrhunderts angekommen?
Venezuela ist immer noch ein sehr kapitalistisches Land, aber es befindet sich eindeutig im Umbruch. Die große Debatte unter Linken dreht sich darum, ob Venezuela eher sozialdemokratisch oder eher autoritär-staatssozialistisch ist. Oder ob tatsächlich etwas Neues geschaffen wurde, was am ehesten mit einer Art partizipativem Sozialismus beschrieben werden könnte. Meiner Meinung nach ist es die dritte Variante, obwohl in ihr natürlich auch Elemente der anderen beiden enthalten sind.

Inwiefern?
Chávez konzentriert schon ziemlich viel Macht in seiner Person, was allerdings in dieser Phase der Transformation auch absolut nötig ist. Und natürlich gibt es auch sozialdemokratische Elemente, wie die verschiedenen Formen von Sozialprogrammen, die darauf hinauslaufen, dass es eine gerechtere Gesellschaft gibt, ohne jedoch die Systemfrage zu stellen. Es gibt aber Bereiche, in denen es tatsächlich einen Übergang hin zum partizipativen Sozialismus gibt, zum Beispiel die Kommunalen Räte. Und auch in der Wirtschaft werden die Mitbestimmung und die Beteiligung in den staatlichen Unternehmen gefördert. Diese demokratischen, partizipativen Elemente sind einer der Hauptgründe, warum die bolivarianische Revolution so viel Unterstützung von der Bevölkerung bekommt. Natürlich sind auch die Sozialprogramme sehr wichtig für die Zustimmung der Menschen, aber eben nicht alleine.

Wird die Transformation der Bürger_innen hin zu einem politisch-partizipativen Wesen immer noch sehr von oben bestimmt, oder hat eine Verinnerlichung dieser Werte bei den Menschen stattgefunden?
Es kommt zum größten Teil von oben, dadurch dass Chávez und sein innerster Kreis diese Ideen haben. Andererseits gibt es aber auch Druck von unten. Das Problem liegt eher in der Mitte, also beim Staatsapparat und der innerparteilichen Bürokratie, die sich oft gegen Veränderungen sträuben. Das ist das eigentliche Problem und es wird auch als solches gesehen.
Nach Umfragen unterstützt etwa die Hälfte der Bevölkerung den Sozialismus. Die Tatsache, dass die Leute ein sozialistisches Projekt unterstützen, heißt natürlich nicht automatisch, dass sie auch wissen, was es genau bedeutet, beziehungsweise wie man damit umgeht. Ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ist der Umgang mit Macht in den Kommunalen Räten. Dort kommen immer wieder alte Muster zu Tage und Leute werden ausgeschlossen, wenn sie politisch anderer Meinung sind. Es gibt auch immer noch viel Korruption, Klientelismus und viele andere Praktiken, die eine demokratische Partizipation verhindern. Die Regierung weiß um dieses Problem. Es wird viel davon geredet, eine sozialistische Ethik zu entwickeln, aber das Wie ist nicht sehr klar.

Wie ist es denn um die Diskussionen innerhalb der Linken bestellt? Hier hört man ja immer wieder, dass Leute mundtot gemacht und konträre Meinungen nicht akzeptiert werden.
Ich sehe das sehr differenziert. Es kommt auf jeden Fall vor, dass Leute mundtot gemacht werden, wenn sie sehr hart und kritisch gegenüber der Regierung oder der Partei sind. Andererseits gibt es auch sehr offene Diskussionen. Weder Regierung noch Partei sind monolithisch. Es gibt eine sehr aktive Debatte über die Zukunft Venezuelas innerhalb von Partei und Regierung, aber auch mit Leuten, die nicht Teil davon sind.

Wie äußert sich deren Beteiligung an Gesetzesvorhaben denn konkret, gibt es da Beispiele?
Ein gutes Beispiel dafür ist das neue Arbeitsgesetz, das am 1. Mai verabschiedet werden soll [Chávez hat das Gesetz am 30. April per Dekret verabschiedet, Anm. d. Red.]. Dort wird es Belegschaftsräte geben, was den Arbeiterinnen und Arbeitern aller Unternehmen, auch den privaten, einen erheblichen Beteiligungsspielraum geben wird. Zur Entwicklung des Gesetzes wurden viele, viele Diskussionen geführt und Tausende von Artikeln eingereicht. Andererseits – und das ist der Widerspruch – wird das Gesetz nun von Chávez und seinem innersten Kreis entschieden, weil es ihm zu lange dauert. So etwas passiert immer wieder: die basisdemokratischen Prozesse sind so langwierig und kompliziert, dass Chávez dann irgendwann ein Machtwort spricht und vorgibt, wie es weitergehen soll. Aber es ist offensichtlich, dass viel mehr Leute am politischen Prozess beteiligt sind. Nach Umfrage des Latinobarometro ist Venezuela heute das Land Lateinamerikas, in dem sich die meisten Leute für Politik interessieren und sich auch am meisten an ihr beteiligen.

Was für Parallelen und was für Unterschiede sehen Sie zu der Politik der linken Regierungen in Bolivien und Ecuador?
Ich glaube, Venezuela ist ganz anders. Zum einen hat das Land nicht so eine gut organisierte Zivilgesellschaft. Die sozialen Bewegungen in Venezuela sind schon immer sehr fragmentiert gewesen. Die einzigen, die ein Gegengewicht in der Gesellschaft darstellen, sind die Stadtteilorganisationen, aber die sind sehr klein, verstreut und unabhängig, ohne nationales Profil. Das ist ganz anders als in Ecuador oder Bolivien, wo es sehr starke soziale und vor allen Dingen indigene Bewegungen gibt.
Auf der anderen Seite, also auf der Regierungsseite gibt es auch große Unterschiede. Obwohl die Regierungen sowohl in Ecuador als auch in Bolivien sehr viel Spielraum haben, das heißt sehr viel machen könnten, ist bis jetzt nicht wirklich viel passiert. Dagegen hat die Regierung in Venezuela wichtige Unternehmen nationalisiert, die Kommunalen Räte etabliert und massive Sozialprogramme durchgeführt. Die Sozialausgaben in Venezuela haben sich in Verhältnis zum Bruttosozialprodukt mehr als verdoppelt. Es wird heute viel mehr Reichtum umverteilt als früher in Venezuela. Das hat es, glaube ich, in Ecuador und Bolivien noch nicht gegeben. Man wirft die drei Länder zwar immer wieder in einen Topf, aber das ist nicht stimmig.

Im Oktober wird in Venezuela gewählt – welches sind die Befürchtungen und die Hoffnungen in Bezug auf die Wahlen?
Bis jetzt war die ganze Wahlkampagne total überschattet von Chávez Krankheit. Ihm selbst hat das einen gewissen Vorteil gebracht und er hat Sympathiepunkte gewonnen. Der Oppositionskandidat Henrique Capriles Radonski, der aus einer der reichsten Familien Venezuelas stammt, hat dagegen im Moment einen schweren Stand. Und das obwohl er intelligent und ein guter Kommunikator ist und die Opposition vereinter auftritt denn je zuvor. Und obwohl seine Familie die größte private Zeitung des Landes besitzt, schafft er es mit seinen Inhalten nicht in die Medien – nicht mal in seine eigenen, da immer wieder die Krankheit von Chávez Thema ist. Deshalb bescheinigen ihm die Umfragen bis jetzt nur 30 Prozent der Stimmen im Vergleich zu Chávez mit 60 Prozent. Für Chávez‘ Popularität ist die Krankheit also von Vorteil, aber es ist durchaus möglich, dass er die Wahl nicht erlebt.

Wer wird denn überhaupt als Nachfolger von Chávez gehandelt? Wird das öffentlich diskutiert?
Unter Chávez-Anhängern wird das nicht öffentlich diskutiert, denn die Parole ist „Chávez ist unser Kandidat“. Natürlich zirkulieren hinter den Kulissen und auch in der Opposition verschiedene Namen: Die wichtigsten vier Kandidaten sind der Außenminister Nicolás Maduro, der Präsident der Nationalversammlung Diosdado Cabello, der Vizepräsident Elías Jaúa und vielleicht der Bruder von Chávez, Adán Chávez, der jetzt Gouverneur ist. Die größten Chancen haben wahrscheinlich Jaúa oder der Außenminister.
Aber wie gesagt, die beiden haben nicht die Ausstrahlung von Chávez. Und um die Wahlen zu gewinnen, bräuchten sie eine Organisation hinter sich, die sein Charisma ersetzen kann und die gibt es noch nicht. Es gibt schon die Vereinigte Sozialistische Partei von Venezuela, die Chávez vor ein paar Jahren gegründet hat, aber es ist noch kein richtiger Apparat, der seine Person ersetzen könnte.
Es steht auch nicht nur die Wahl auf dem Spiel, sondern auch der Zusammenhalt der Koalition, die Chávez unterstützt. Dass sich das Bündnis fragmentieren könnte, wird noch nicht so richtig diskutiert, aber für mich als Sozialwissenschaftler ist das ziemlich klar. So wie in Argentinien nach Perón.

Wenn Chávez oder einer seiner Vertreter_innen die Wahl gewinnen – was sind die größten Herausforderungen für die bolivarianische Revolution?
Es gibt praktische und es gibt theoretische Herausforderungen. Mit praktisch meine ich die größten sozialen Probleme, die bisher noch nicht in Angriff genommen, beziehungsweise gelöst werden konnten: die Kriminalität und die Wohnungsfrage. Zur Bekämpfung beider Probleme hat Chávez im letzten Jahr riesige Programme gestartet.
Und dann gibt es noch die abstrakteren Probleme. Zum einen muss die Bewegung unabhängiger von Chávez werden, egal, ob er stirbt oder nicht. Weiterhin muss sie eine klarere politische Richtung finden. Wie gesagt, Venezuela will einen partizipativen Sozialismus etablieren, aber es ist immer noch unklar, was das genau bedeutet und wie man dahin kommen soll. Das müsste noch klarer definiert werden und zwar zusammen mit der Bevölkerung.

Infokasten:

Gregory Wilpert
ist Politikprofessor am Brooklyn College und Autor des Buchs ,,Changing Venezuela by taking power“. Er gründete das englischsprachige Nachrichtenportal venezuelanalysis.com mit und war bis vor einem Jahr Projektkoordinator der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Venezuela.

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