Brasilien | Nummer 608 - Februar 2025

„Jemand muss darüber sprechen“

Interview mit dem Guajajara Aktivisten Railson Guajajara

Railson Guajajara ist Aktivist und Anführer der Guajajara des Indigenen Territoriums Caru im Bundesstaat Maranhão. Nicht nur in Brasilien, auch international macht er auf die Konsequenzen der Expansion der Bergbauindustrie und hegemonialer Entwicklungsmodelle für die Indigenen Völker in Maranhão aufmerksam. Die LN trafen ihn im Oktober des vergangenen Jahres im Rahmen des Alternativen Rohstoffgipfels in Berlin.

Interview: Theresa Utzig (Übersetzung: Vincius Vigo)

Railson Guajajara, Die Guajajara sind eines der größten Indigenen Völker Brasiliens und leben in 10 verschiedenen Indigenen Territorien im Bundesstaat Maranhão (Foto: Theresa Utzig)

Warum hast du begonnen, auch internationalen Aktivismus für deine Gemeinschaft zu betreiben?

Wir leben heute in Brasilien in einer sehr schwierigen Realität aufgrund des Vormarsches der Bergbauindustrie, der Abholzung und der Brände, insbesondere im Bundesstaat Maranhão. Das betrifft alle traditionellen Völker, nicht nur die Guajajara. Es muss jemand darüber sprechen. Das kann ich sein, das kann Sônia (Sônia Guajajara, Ministerin für Indigene Völker Brasiliens, Anm. d. Red.) sein, das können andere sein. Es gibt viele Personen in anderen Regionen, die das Gleiche sagen: Wir müssen den Amazonas verteidigen, wir müssen unser Territorium und unsere Lebensweise verteidigen. Ich sehe das nicht als Aktivismus an, sondern als einen Hilferuf: Heute sind viele Kinder und ältere Menschen in ihren Gemeinschaften direkt betroffen. Wir haben die Guarani-Kaiowá im Bundestaat Mato Grosso do Sul, dort werden jeden Tag Menschen getötet. Wir haben die Awá, die freiwillig isoliert leben. Ein Volk, das vom Aussterben bedroht ist; eines der verletzlichsten Völker der Welt heute. Sie sprechen kein Portugiesisch oder eine andere Sprache, nur ihre eigene. Also ist es unsere Verantwortung, für sie zu sprechen.

Welche Folgen hat die Expansion dieser Industrien für die Indigenen Gebiete?

Der Bergbau im Bundesstaat Maranhão, ebenso wie in vielen anderen Regionen Brasiliens, hat erhebliche Auswirkungen: Speziell in Maranhão, meiner Heimat, findet die Bergbauaktivität entlang der Carajás-Eisenbahnlinie statt, eine der wichtigsten Eisenbahnen des Landes (siehe Infokasten). Diese Linie wurde zwischen 2014 und 2017 verdoppelt und mit dem Vormarsch des Bergbaus traten verschiedene Probleme auf wie Drogenhandel und -konsum, Prostitution, Gewalt sowie Morde an unserem Volk. Die direkten Probleme sind die Wasserverschmutzung, der Lärm und die verschmutzte Luft. In manchen Gegenden von Maranhão kann man nicht einmal draußen im Hof sitzen, um sich in Ruhe zu unterhalten, weil ständig Eisenpartikel vom Himmel fallen. Die Verschmutzung beeinflusst das lokale Leben tiefgreifend. Dies führt auch zur Verlandung des Flusses, an dessen Ufer die Carajás-Eisenbahn gebaut ist. Dieser Fluss ist für Tausende von Gemeinschaften, einschließlich uns, von grundlegender Bedeutung, da von ihm unser Überleben abhängt. Die Gier des weißen Mannes bringt uns viel Blut. Das Eisen, das nach Europa kommt, ist in Blut gebadet.

Welche neuen Projekte bedrohen das Indigene Territorium Caru?

Wir haben in den letzten zwei Jahren begonnen, über den Bau einer neuen Eisenbahn namens Grão-Pará zu diskutieren, die vom Hafen in Alcântara bis nach Açailândia im Bundesstaat Maranhão führen soll. Es werden bisher etwa 10 bis 15 Kilometer gebaut, die 22 Gemeinden durchqueren werden. Dieses Projekt wird uns direkt betreffen, da wir zum Überleben in einem bestimmten Gebiet von angrenzenden Regionen abhängig sind, insbesondere von denen in der Nähe von Gewässern. Die Eisenbahn wird eine der wichtigsten Regionen für ganz Maranhão durchqueren: die sogenannte Baixada Maranhense, die jährlich Tausende Tonnen Fisch produziert. Diese Fische wandern in der Regenzeit durch die Flüsse, die das Bundesland durchziehen. Das wird uns direkt beeinträchtigen. Wir leiden bereits jetzt erheblich unter den Folgen des langen Kontakts mit weißen Menschen. Jetzt stell dir die Awá vor, die keinen Kontakt zu Nicht-Indigenen haben und isoliert im Wald leben. Wie sollen sie damit umgehen? Das wäre die dritte Eisenbahn innerhalb von weniger als zehn Jahren, die Maranhão durchschneidet. Wir merken, dass Länder wie Deutschland und andere europäische Staaten viel in diese Art von Entwicklung investieren. Die Werbung, die diese Unternehmen dort machen, lautet: „Hier wird nichts zerstört, es wird die Amazonasregion nicht beeinträchtigen, es wird keine großen Auswirkungen haben.” Aber in Wirklichkeit sind die Auswirkungen immens und unermesslich. Das macht mich zutiefst wütend. Hinzu kommt das Problem der Quilombola-Gemeinschaften. Der Hafen von Alcântara, der erweitert oder neu gebaut werden soll, wird 87 Prozent des Gebiets dieser Gemeinschaft einnehmen. Wohin sollen sie gehen? Werden sie in unsere Gebiete eindringen? Wo werden diese Menschen leben?

Wie sieht es mit der Präsenz der staatlichen Behörden gegenüber den Problemen, die die Gemeinschaften betreffen, aus?

Heute ist die Präsenz des Staates in unserem Gebiet etwas kompliziert. Diese Präsenz zeigt sich nur unter Druck, wenn wir, die Indigenen Völker, uns organisieren und Proteste durchführen, wie das Blockieren der Autobahn BR oder einer Eisenbahn. Nur in diesen Momenten werden wir ein wenig gehört und auch dann nur vorübergehend. In den letzten Jahren haben wir uns stärker organisiert. Auch jetzt, am 30. Oktober 2024, werden wir die BR-316 blockieren, eine der wichtigsten Autobahnen im Maranhão, um gehört zu werden und Themen wie Gesundheit und Bildung zu besprechen. Beides ist in den Gemeinschaften extrem prekär. Darüber hinaus sind heute, insbesondere in Maranhão, führende Politiker direkt mit großen Unternehmen und Industrien verbunden. Während des Wahlkampfes, wie bei den kürzlich stattgefundenen Bürgermeisterwahlen, investieren diese Unternehmen Tausende von Dollar und Millionen brasilianischer Real, um sicherzustellen, dass bestimmte Kandidaten zum Bürgermeister gewählt werden, damit es keine Probleme oder Widerstände gegen ihre Interessen gibt.

Welche Forderungen hast du an die internationale Gemeinschaft und internationale Aktivist*innen?

Vieles der Arbeit, die ihr hier freiwillig oder anders leistet, hat bereits große Auswirkungen in Brasilien, weil die ganze Welt auf die Europäische Union blickt. Wenn ihr etwas kritisiert, halten die Menschen inne, um zuzuhören und zu verstehen, was in Brasilien passiert. Wenn wir dort etwas kritisieren, ist es nur eine Stimme von vielen, die letztendlich ignoriert wird. Dort sind praktisch alle Medien korrupt und viele haben Angst etwas anzuprangern. Hier in Europa ist es einfacher, eine Beschwerde einzureichen, Berichte, Ankündigungen und Enthüllungen zu machen, die dann bedeutende Auswirkungen auf unser Gebiet haben, als dies direkt in Brasilien zu versuchen, wo es fast keine Resonanz gibt. Die abgebauten Ressourcen gehen nach Europa, China, Deutschland, in die Vereinigten Staaten — diese erwerben immer mehr Mineralien und verbrauchen weiterhin mehr. Und wir bleiben zurück mit Hunger, Tod und Durst. Maranhão zum Beispiel ist einer der ärmsten Bundesstaaten Brasiliens und beherbergt eine der Städte, die an der Spitze der extremen Armut steht. Im Bundesstaat Pará gibt es mehr als 100 Tagebaue, darunter einen der größten der Welt. Aber wenn wir durch die Städte gehen, sehen wir Tausende von Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Gleichzeitig sehen wir Züge mit einer Länge von drei oder vier Kilometern, die 24 Stunden am Tag fahren und Reichtümer transportieren.

Wie arbeitet ihr mit anderen Indigenen Völkern zusammen, die ebenfalls betroffen sind? Ich kann über mein Territorium sprechen, aber mir ist bewusst, dass nicht alle Territorien gleich sind. Wir, die Guajajara, haben eine sehr schwierige Phase in unserer Geschichte durchlebt. In unserem Territorium haben wir beschlossen, uns mit vier nahegelegenen Indigenen Territorien zu vereinen und eine Allianz zu bilden. Wir organisieren uns so, dass ein Territorium für alle spricht und alle für eines sprechen. Wenn wir ein neues Projekt suchen, tun wir das gemeinsam. Dank dieser Zusammenarbeit haben wir in den Territorien große Fortschritte erzielt. Wir konnten die familiäre Landwirtschaft stärken und sind heute in der Lage, Einkommen innerhalb unseres Territoriums zu generieren, ohne Wälder zu roden, Flüsse zu verschmutzen oder die Umwelt zu schädigen. Diese Erfahrung teilen wir nicht nur mit den vier Territorien der Allianz, sondern auch mit 17 weiteren Indigenen Territorien im Bundesstaat Maranhão. Unser Ziel ist es, diese Initiative auf andere Bundesstaaten auszuweiten. Darüber hinaus spielen die Guajajara eine entscheidende Rolle beim Schutz isolierter Indigener Völker. Die große Diskussion, die wir führen, geschieht in ihrem Namen. Im Fall der Awá respektieren wir ihr isoliertes Leben und vermeiden jeglichen Kontakt. Wir haben Wissen über die ungefähre Anzahl der Menschen, die in den Wäldern leben. Im Jahr 2015 wurde geschätzt, dass etwa 60 Personen dort lebten und heute glauben wir, dass diese Zahl deutlich höher ist. Unsere Arbeit hat dazu beigetragen, die Entwaldung in unserem Territorium um mehr als 85 bis 90 Prozent zu reduzieren. Unsere Arbeit dient dem Schutz des Territoriums, der Familien und aller, die vom Wald abhängig sind.

Carajás-Eisenbahn

Die 892 Kilometer lange Eisenbahnlinie Carajás wird von der Bergbaugesellschaft Vale S.A. betrieben. Sie kreuzt die brasilianischen Bundesstaaten Maranhão und Pará und verbindet eine der weltweit größten, von Vale betriebenen Eisenminen: die Mina Carajás mit dem Küstenhafen Ponta da Madeira. Auf der Strecke verkehrt vor allem Gütertransport. Die 18 bis 20 Züge am Tag erreichen eine Länge von bis zu 330 Waggons. In einem Jahr werden so 120 Millionen Tonnen Bergbauprodukte transportiert. Der geplante neue Hafen Alcântara ist Teil des Infrastrukturprojekts Grão-Pará-Maranhão (GPM) der gleichnamigen Firma. Gegen diesen gibt es starken Widerstand, da er auf Quilombola-Land erbaut werden soll und 87 Prozent davon einnehmen wird, was die Zwangsumsiedlung eines Großteils der Bewohner*innen bedeutet. Die Deutsche Bahn AG (DB) hat 2023 einen Vertrag über 3 Milliarden Euro mit GPM unterzeichnet, der beinhaltet, dass die DB Betreiber der neuen Eisenbahnlinie zum Hafen wird.


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