Jenseits der Grenzen
Das Treffen der indigenen Völker Amerikas und die Schwierigkeiten einer indigenen Identität
Im Jahr 1927 verkündete die Southern Pacific Railroad stolz die Fertigstellung einer neuen Eisenbahnlinie. Seitdem führt eine Bahntrasse von der mexikanischen Stadt Nogales, an der Grenze zum US-amerikanischen Arizona, quer durch den im Norden Mexikos gelegenen Bundesstaat Sonora bis nach Guadalajara im Zentrum des Landes. Einige Minuten oberhalb des 27. Grades nördlicher Breite verlaufen die Bahnschienen durch eine kleine Stadt namens Vícam und zerteilen den Ort in zwei ungleiche Hälften. Auf der einen Seite der Trasse beherbergen steinerne Häuser ihre BewohnerInnen, und zwei an der Bundesstraße gelegene 24-Stunden-Supermärkte konkurrieren um Kundschaft.
Auf der anderen Seite der Schienen leben die Menschen in aus Holz gezimmerten Eigenbauten im Schatten der örtlichen Betonfabrik, und nicht einmal ein Lebensmittelladen buhlt um ihre Kaufkraft. Auf dieser anderen Seite sind jene zu Hause, die sich dem „Stamm der Yaqui“ zurechnen. Und auf dieser anderen Seite auch, auf dem staubigen Feld zwischen Kirche und Gemeindezentrum, organisierten der Nationale Indigene Kongress (CNI), die EZLN und eine Fraktion des „Stammes der Yaqui“ Mitte Oktober das „Treffen der indigenen Völker Amerikas“.
Natürlich sind es nicht nur Eisenbahnschienen, welche die Grenze zwischen den beiden Teilen Vícams markieren. Sie sind nicht mehr als die bauliche Vergegenständlichung der Teilung der amerikanischen Gesellschaften per se: jener nunmehr 515 Jahre andauernden Trennung in einen indigenen und einen nicht-indigenen Teil der Bevölkerung des Kontinents. Für diejenigen, die sich selbst als Spanier, Weiße oder Mestizen betrachteten und betrachten, waren die „anderen“ selten mehr als „Indios“. Im Gegenzug bezeichnen jene, die sich Yaquis nennen und genannt werden, alle nicht-indigenen Menschen als yoris – ein von negativen Konnotationen nicht immer freier Sammelbegriff.
Beide Begrifflichkeiten zur Bezeichnung des „Anderen“ – sowohl Indio als auch yori – haben in den letzten Jahrzehnten tief greifende Bedeutungsverschiebungen erfahren. „Mit dem Begriff Indio hat man uns beleidigt, hat man uns erniedrigt und kolonisiert. Mit diesem selben Begriff, Indio, werden wir uns erheben, compañeros!“, ruft Víctor Morocho den etwa 5000 Anwesenden, von denen mehr als 600 Delegierte indigener Gruppen aus ganz Amerika sind, von der Bühne aus zu. Und fügt hinzu: „Indígena zu sein bedeutet, der Stolz Amerikas zu sein!“ Das neue Selbstverständnis der indigenen Bewegungen Amerikas spricht aus den Worten des Delegierten des Nationalen Bündnisses der Bauern-, Indigenen und Farbigenorganisationen Ecuadors FENOCIN.
„Es geht auf diesem Treffen um die Zukunft unserer indigenen Völker, um unsere Autonomie“, gibt Juan Domingo, technischer Koordinator einer der traditionellen Autoritäten der yaquis, zu verstehen. „Es ist das erste Mal, dass wir uns in die Augen schauen und Freundschaften schließen können – das ist ein erster, fundamentaler Schritt auf dem Weg zu einer Einheit der indigenen Gruppen Amerikas.“
Im Kern des Wunsches nach einer großen, vereinten indigenen Bewegung findet sich aber auch die Frage nach dem vertrackten Verhältnis zwischen dem Partikularen und dem Universellen, welche die Bewegungen zu lösen haben. Denn der Suche der ethnischen Gruppen Amerikas nach dem „gemeinsamen Indigenen“ haftet stets der immanente Widerspruch an, im Grunde nicht viel mehr gemein zu haben als die koloniale Kollektivbestimmung als „Indios“ – und die damit verbundene Erfahrung rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung. Ausgerechnet das Konzept „Indio“, das dem Herrschaftsdiskurs entstammt und hinter dem sich tatsächlich eine Vielzahl sehr verschiedener Gruppen verbirgt, soll diesen Gruppen also heute dazu dienen, die fragmentierten Kämpfe zu koordinieren und ein gemeinsames politisches und soziales Projekt zu entwerfen.
So herrscht vor allem in der Definition des gemeinsamen Feindes relative Einmütigkeit: Die Mutter Erde soll verteidigt werden, wie Juan Chávez vom Nationalen Indigenen Kongress (CNI) fordert, gegen Ökozid, Ethnozid und Genozid des Kapitalismus. Die Winterolympiade 2010 in Kanada soll ein Kristallisationspunkt des Widerstands werden.
Doch in den konkreten politischen Ansprüche zeigen sich die Unterschiede: Während für die große Mehrheit der nordamerikanischen RednerInnen eine Neuordnung des politischen Systems in weiter Ferne erscheint, haben die indigenen Bewegungen Lateinamerikas im Verlauf der letzten Jahre zum Teil weit reichende politische, soziale und kulturelle Veränderungen erstritten. „Der Kolonialismus und seine weiter bestehenden Konsequenzen haben uns in einem genutzt: wir lernten, uns zu organisieren“, erklärt Victor Morocho, seines Zeichens Quechua. „Wir in Ecuador haben in weniger als zehn Jahren drei Regierungen gestürzt, und dies ist der politischen Arbeit der indigenen Bewegung zu verdanken. Nicht nur hat unsere neue Regierung die Existenz der indigenen Völker anerkannt – per Dekret muss das Quechua heute in jeder Schule als Fach angeboten werden“, verkündet er stolz, und erntet den der Bewegung gebührenden Beifall.
Für die Delegierten des Indigenen Volksrat Oaxacas Ricardo Flores Magón (CIPO-RFM) hingegen steht die Mitarbeit in staatlichen Institutionen nicht zur Debatte. Vertreten wird die Organisation, die sich auf die Ideen des mexikanischen Anarchisten Ricardo Flores Magón beruft, von aus dem südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca angereisten zapotecos. Sie berichten, dass verschiedene Gruppen der zapotecos sich angesichts der Kämpfe und der Repression in Oaxaca entschlossen hätten, am Kampf der Versammlung der Völker Oaxacas APPO teilzunehmen. „Denn wir haben festgestellt, dass wir unseren Kampf nicht allein ausfechten können. Wir brauchen die Unterstützung von allen, nicht nur denen, die Teil einer indigenen Kultur sind, sondern all denen, die eine bessere Welt wollen.“
Doch nicht allein am Gesagten lassen sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der indigenen Gruppen Amerikas ablesen – auch das Nicht-Gesagte ist aufschlussreich. So bringen einzig die ZapatistInnen die Geschlechterthematik explizit zur Sprache. Nur eine Handvoll Frauen aus den Yaqui-Gemeinden ist anwesend, während die Gruppe weiblicher Delegierter die Grundlinien des vor knapp 15 Jahren verabschiedeten „Revolutionären Gesetzes der Frauen der EZLN“ erläutert und über Probleme und Fortschritte des Kampfes um Gleichberechtigung referiert. Die Yaqui-Frauen, heißt es auf Nachfragen, müssten auf den Feldern arbeiten.
Die Suche nach einer Gesprächspartnerin aus den Yaqui-Gemeinden gestaltet sich schwierig – die wenigen anwesenden Frauen wollen nicht über ihre Situation sprechen. Schließlich erklärt sich Angelina Galindo aus dem nahe gelegenen Sarmiento bereit, Auskunft zu geben. Sarmiento ist eine von der Organisation Mujeres Esperanza (Frauen der Hoffnung) ins Leben gerufene, tiefkatholische Gemeinde, in der verwitwete oder aus tyrannischen Ehebeziehungen geflüchtete Frauen aus den Gemeinden der Yaquis die Möglichkeit haben, durch eigene Arbeit für ihren Lebensunterhalt aufzukommen – und daneben kirchliche Funktionen wahrzunehmen.
„Die Frauen kommen aus Angst nicht zu diesem Treffen“, meint Angelina. „Ihre Ehemänner sagen ihnen, sie sollen nicht kommen – und der Mann ist es, der befiehlt.“ Auf die Frage, ob die Frauen sich denn auf irgendeine Art Organisation innerhalb der Gemeinden stützen könnten, antwortet Angelina mit Bestimmheit. „Nein. Die Yaqui-Frau hat weder eine Stimme noch das Recht auf Teilnahme an Entscheidungen. Und von Mujeres Esperanza abgesehen gibt es keinerlei Organisation von Yaqui-Frauen.“
Es sei sehr mutig von Angelina, hier zu sein und dazu noch ein Interview zu geben, sagt Mary Carrazco von Mujeres Esperanza, die Angelina begleitet. „Drei Tage vor Beginn des Treffens bekam unsere Organisation einen Brief von Frauen aus den Yaqui-Gemeinden, in dem sie uns davor warnten, an dem Treffen teilzunehmen.“
Erst am letzten Tag des Treffens – ein kulturellen Feierlichkeiten gewidmeter Sonntag – nimmt die Präsenz weiblicher yaquis unter dem Schatten spendenden Stoffdach zu. Auch für die Lehrerin Tomasa María Valenzuela, die auf Spanisch und yaqui unterrichtet, ist der letzte Tag der Veranstaltung der erste, an dem sie anwesend ist. „Es sind vor allem die Frauen, die unsere Werte und Traditionen weitergeben und dafür sorgen, dass unsere Sprache weiterhin gesprochen wird“, sagt Tomasa. Der weiblichen Emanzipation steht sie deshalb mit gemischten Gefühlen gegenüber: „Wir versuchen einige Dinge zu ändern, aber ohne unsere Werte und Traditionen zu verlieren“, erklärt sie.
Dass die Befreiung der Frau aus ihrer angestammten Rolle unter Beibehaltung der Tradition sich als schwierig gestaltet, liegt nicht an einem immanenten Widerspruch, sondern derzeit vor allem an der Art und Weise der Befreiung: „Beinahe alle Frauen sind heute dazu gezwungen, in den maquiladoras im nahe gelegenen Empalme zu arbeiten“ sagt Tomasa. „Nachdem die Männer sich bei der Bank verschuldeten, um die notwendigen Landmaschinen kaufen zu können, mussten sie nach und nach ihre Ländereien verpachten. Jetzt arbeiten alle, die Männer und die Frauen, um diese Schulden abzubezahlen.“
Unzählige Kinder aus der Gemeinde haben jeden Winkel des staubigen Platzes für Ballspiele in Beschlag genommen. Das violette Licht der über Sonora untergehenden Sonne scheint auf Francisco Palma, raramuri aus Chihuahua, während er die Erklärung von Vícam verliest. „Mit dem Schmerz, den der andauernde koloniale und kapitalistische Krieg gegen uns hervorruft, wächst auch der Widerstand unserer Völker. Wir lehnen diesen Krieg ab, den Unternehmen und Staaten führen, wie auch die Plünderung der Mutter Erde. Wir wehren uns gegen die Privatisierung des Wassers, der Erde, der Wälder und Küsten, der Luft, des Regens, des traditionellen Wissens und allem, was aus der Erde geboren wird.“
Wenig später spricht Víctor Morocho, Quechua aus Ecuador, die abschließenden Worte: „Wir hatten so wenig Zeit, es reichte gerade eben, uns gegenseitig ein wenig kennenzulernen, ein wenig über die Erfahrungen von Diskriminierung und Kampf der indigenen Völker zu lernen. Mit diesem Treffen haben wir eine Tür geöffnet, und jetzt gilt es, eine gemeinsame Identität zu entwerfen.“
Nur die Scheinwerfer der Bühne und die Lampen der Betonfabrik spenden noch Licht, als die letzte Eisenbahn des Tages vorbei rollt. Eine kilometerlange Reihe von Waggons schleppt sich Richtung Norden, wahrscheinlich kommen sie aus Empalme, wahrscheinlich bringen sie Produkte aus den maquiladoras an die Grenze zu Arizona. „Wir stehen am Anfang des Weges“, ruft Víctor gegen den Lärm des Zuges an, „ein Weg, der uns zur Einheit aller Armen dieser Welt führt, und zu einem weltweiten interkulturellen Lebensprojekt.“