Jugend ohne Safe Space
Hora do recreio lässt marginalisierte Schüler*innen zu Wort kommen und Theater spielen

„Eigentlich sollte die Schule hier in Rio ein sicherer Ort für uns sein“ sagt eine Schülerin in Hora de recreio (Playtime). „Stattdessen erleiden wir ab der ersten Klasse Psycho-Terror!“ Ein ganzes Klassenzimmer voller Schüler*innen, die Diskriminierung, oft in mehreren Formen, erfahren haben, sitzt in Lucia Murats brasilianischer Dokumentation vor der Kamera. Hier reden sie sich den Frust von der Seele. Rassismus, Sexismus, Gewalt, Homofeindlichkeit – es sind erschütternde Geschichten, die die Jugendlichen, manche von ihnen fast noch Kinder, zu erzählen haben. Ein Motiv zieht sich so gut wie durch alle Geschichten: Ihre Familien sind zerbrochen, meist weil die Väter gewalttätig, drogenabhängig oder schlicht nicht mehr da waren. Bei vielen fließen Tränen, und doch hat man bei allen den Eindruck: Es ist für sie eine Befreiung, endlich über das Erlebte reden zu können. Und zu hören, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht alleine sind.
Regisseurin Lucia Murat ist eine Legende des brasilianischen Dokumentarfilms. Bekannt wurde sie vor allem durch die Doku-Fiktion Que bom te ver viva (Wie schön, dich lebendig zu sehen) aus dem Jahr 1989, in der sie Erzählungen von während der brasilianischen Militärdiktatur gefolterten Frauen verarbeitet. In Hora do recreio gibt sie nun Jugendlichen mit einer schwierigen Lebensgeschichte eine Bühne. Im wörtlichen Sinn, denn die Diskussion zu Beginn ist nur ein Teil des Films. Murat hat für die Dreharbeiten mehrere weiterführende Schulen in Brennpunktgebieten in Rio de Janeiro besucht und die Schüler*innen dort eingeladen, Theater zu spielen (daher auch der englische Titel Playtime). Dabei führen sie Übungen aus dem Theater der Unterdrückten von Augusto Boal durch und adaptieren Clara dos Anjos, ein Buch des Schwarzen brasilianischen Autors Lima Barreto. Das Ziel ist es, die Jugendlichen zu empowern und ihnen durch Kunst, verbalen und körperlichen Ausdruck zu helfen, Traumata zu überwinden und Selbstbewusstsein zu gewinnen.
Die Highlights des Films sind zweifellos die authentischen Erzählungen der Jugendlichen, die ihre eigene Situation erstaunlich reif reflektieren und politisch einordnen. In seinen besten Momenten erinnert Hora do Recreio deshalb an die preisgekrönte kolumbianische Jugend-Dokumentation Alis. Leider verliert der Film ab der Mitte seiner Laufzeit etwas an Schwung, weil er sich bei der Aufführung von Clara dos Anjos zu pädagogisch an den Parallelen der Protagonist*innen zur heutigen, fast 100 Jahre später stattfindenden Lebensrealität abarbeitet. Hier wirken die Statements der Jugendlichen oft wie erwartete Reaktionen oder sogar eingesprochene Texte. Das beraubt Hora do Recreio etwas seiner Stärken, die vor allem im ungefilterten und ehrlichen Blick junger Menschen auf soziale Realitäten bestehen. Einen Blick wert ist der Filmaber vor allem für Jugendliche allemal. Dafür steht auch die Einschätzung der Jugendjury der Berlinale, die Hora do Recreiobei der Preisverleihung der Sektion Generation 14plus eine Lobende Erwähnung aussprach.
Hora do Recreio (Playtime), Brasilien 2025, 83 Minuten, Berlinale-Sektion Generation 14plus, Portugiesisch mit englischen Untertiteln, Regie: Lucia Murat
LN-Bewertung: 3/5 Lamas