Karibische Winterreise
Auf seinem neuen Album Mariposas zelebriert Silvio Rodríguez melancholische Kammermusik
Was macht diesen Mann bloß so attraktiv? Ungeachtet der geheimnisvollen Aura, die den Privatmann Silvio Rodríguez seit jeher umweht, gibt der Künstler, der öffentliche Mensch, genug Rätsel auf. Wer Uneingeweihten sein Werk nahezubringen versucht, stellt bisweilen fest: Das ist doch keine Stimme! Da quetscht und krächzt ein nasales Organ aus dem Lautsprecher, mindestens eine Oktave über dem guten Geschmack. Die Texte? Selbst empfindsame und belesene KubanerInnen müssen auf Nachfrage zugeben, dass sie in vielen seiner größten Hits keine kohärente Aussage, wenn überhaupt eine, erkennen können. Ist der Mann ein Virtuose auf der Gitarre? Nun, unbegabt ist er nicht, aber auf seinem aktuellen Album Mariposas hat er sich mit den Hintergrundakkorden begnügt und den Hauptpart dem Gitarristen Rey Guerra überlassen, eine deutlich hörbare Qualitätssteigerung. Die geniale Musik? Vielleicht; aber mit einer solch komplexen, manchmal fast wirren Melodik lockt doch sonst auch niemand Tausende in Konzertsäle und Stadien! Rätselhaft.
Natürlich zehrt Silvio Rodríguez Domínguez immer noch vom Rebellenimage jener Tage, in denen er die Nueva Trova mitbegründete und als Jungredakteur des kubanischen Fernsehens seinen Job riskierte, indem er sich als Beatles-Fan outete. Aber das war irgendwann um 1970, und sein Konterfei auf dem Cover der 1999 erschienenen CD Descartes spricht Bände. Mit Glatze, Schmerbauch und Brille bewehrt steht er da verloren vor einer Hauswand, ein Revolutionär in den Wechseljahren, dem der Rum viel zu gut schmeckt.
Die Summe all dessen erklärt also kaum die ungeheure Popularität eines Sängers, der sich auf eingefleischte Fans in ganz Lateinamerika, in Spanien und darüber hinaus verlassen kann. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Eben weil Silvios Melodien so versponnen und seine Worte so intim wie dunkel sind, eben weil diese Musik so wenig Stromlinie hat, geht sie so nahe, nistet sich gern in tieferen Bewußtseinsschichten ein, um von dort aus unerwartet und fragmentarisch an die Oberfläche zu dringen – seltsam ergreifende Ohrwürmer sind das.
Auf Mariposas bleibt Silvio seinem zuletzt gepflegten Minimalstil treu. Längst vergessen ist der pompöse Klang seiner Zusammenarbeit mit Gruppen wie „Afrocuba“ und „Irakere“, einer Symbiose, die bei seinen AnhängerInnen ohnehin gemischte Gefühle hervorgerufen hatte. Silvio 2000 ist ganz Stimme, zerbrechlicher denn je, kongenial begleitet von Guerras filigraner Gitarre, deren Arabesken und Läufe so klassisch wirken, als habe man es hier mit einem karibischen Liederzyklus von Schubert zu tun. Wo die Liedtexte ihre hermetische Symbolik verlassen, erzählen – man möchte sagen: raunen – sie von schemenhaften Gestalten, die einsame Nächte durchwachen, grübelnd an Plastikblumen schnuppern und alte Bücher streicheln. Vielleicht sind das Selbstportraits; mit Sicherheit ist es eine weitere Distanzierung vom revolutionären Pathos, das noch aus manchen seiner frühen Lieder strahlte. Der Neue Mensch ist in die Jahre gekommen und macht sich Gedanken über die Liebe und den Tod. Und weil das ganz zauberhaft klingt, hören wir ihm gerne noch ein Weilchen dabei zu.
Silvio Rodríguez / Rey Guerra: „Mariposas“, Fonomusic S.A.,
Spanien 1999.
http://www.fonomusic.com