Comic | Nummer 611 – Mai 2025

Kartierung der rasenden Stadt

Kartographie erforscht Buenos Aires und menschliche Beziehungen

„Das Frühstadium der urbanen Liebe ist das der Karte, das Gefühl, dass die Kartographie der geliebten Stadt alle anderen überlagert“, schreibt der spanische Philosoph und Queer-Theoretiker Paul Preciado. Als ich Kartographie lese, sitze ich auf einem Dach und lasse meinen Blick über die Stadt schweifen, gleiche die aufragenden Landmarken und Wahrzeichen mit meiner eigenen Kartographie ab. „Du wirst mich fliegen sehen / durch die rasende Stadt“, singt Gustavo Cerati 1988 mit Soda Stereo in „En la ciudad de la furia“ über Buenos Aires. Dieses Lied hallt in meinem Kopf, während ich über den Dächern Berlins Mate trinke und Sike in seiner autofiktionalen Graphic Novel in die argentinische Hauptstadt folge.

Von Jara Frey-Schaaber
Bereits der einband eine Karte Sike lässt sich in und durch Buenos Aires trreiben (Foto: Avant Verlag)

Aufgewachsen in Lissabon und Barcelona kehrt der argentinische Illustrator und Zeichner als junger Erwachsener nach Buenos Aires zurück. Auf langen Streifzügen entdeckt er die Stadt wieder, getrieben von unersättlicher Neugier und der Angst, sich an die Bequemlichkeit der bekannten Orte und der schnell einschleichenden Routine zu halten. Dem gezeichneten Gesicht seines Protagonisten fehlen Augen und Nase und so beobachten wir weniger ihn als die Welt, auf die er mit fotografischer Präzision blickt. Wir lernen Freund*innen und Bekannte kennen, sehen, wie sich erinnerte Orte der Stadt wie losgelöste Inseln zu einer individuellen Karte zusammenfügen. Wie die argentinische Comic Autorin und Illustratorin Maria Alcobre in ihrem Vorwort schreibt: „Die Hauptfigur leiht uns ihre Augen. Es sind die eines jungen Suchenden“. Doch bald lösen wir uns von den Spuren der Hauptfigur und den wunderschön detailreich gezeichneten Momentaufnahmen der Straßen und Viertel der argentinischen Hauptstadt und geraten auf assoziative Abschweifungen.

So führt beispielsweise die Erkenntnis, dass die villas, die zahlreichen Armenviertel in Buenos Aires, lange Zeit nicht auf den Online-Kartendiensten auftauchten, zu einem Exkurs, der aufdeckt, dass in der Vergangenheit immer wieder Orte, die dem makellosen Bild einer Stadt schaden, auf Karten nicht abgebildet wurden – dass Karten eben nicht neutral und objektiv sind. Die Tochter eines Freundes, die Videospiele spielt, lässt den Protagonisten über den militärischen Hintergrund von Computerspielen sinnieren und nachzeichnen, wie eng die technische Entwicklung in der Geschichte mit militärischer Forschung verknüpft war. Von Cyborgs kommt Sike zurück auf die Stadt als Körper, aber auch als gigantischer Datenspeicher, der sich auf einer statischen Karte nicht abbilden lässt. Von dem konkreten Treibenlassen in der Stadt, vorbei an den „Orten, die Heimweh in mir wecken“, werden dessen Überlegungen abstrakter, hin zu einer mystischen Kartographie des Körpers, in der Grenzen verschwimmen und überlappen.

Der Protagonist schweift ab, verliert sich in Erinnerungen und im Rausch. Besonders deutlich wird dies in einer expliziten, kinky Sexszene, in der jegliche Eindeutigkeiten in Bezug auf Gender und Beziehungen spielerisch verschwinden. Überhaupt ist es oft weniger die Geschichte, die diese Graphic Novel trägt, als die Stimmung, die sie in wenigen Farben – leuchtendes orange und blau – aber verschiedenen, aufwendigen Techniken und Stilen einfängt. Die Originalauflage wurde in Riso Druck publiziert, die Stilvielfalt ist in der im avant-verlag erschienenen Ausgabe gewohnt hochwertig wiedergegeben. Allein der Einband mit seinen verschnörkelten, rätselhaften, organischen Strukturen ist selbst eine Art Karte. Gekonnt übersetzt von Lea Hübner, die den rasanten Ton gelungen einfängt. Nach dieser Nacht voller Party, Alkohol, Drogen, Sex und Erinnerungen zieht es unseren Protagonisten wieder auf die Straße, zu einer Demo am Kongress gegen die Lockerung des Arbeitsrechts unter der Regierung von Mauricio Macri. Dynamische Szenen, in denen die Spannung spürbar wird, die die Straßen „in ein Becken voll Benzin verwandelt“ hat. Unweigerlich denkt man an die aktuell brutal unterdrückten wöchentlichen Proteste der Rentner*innen (siehe LN 608).

Die hochgerüsteten Robocops im Comic tragen Tränen­gaswerfer mit sich, ähnlich derer, mit denen Einsatzkräfte der Gendarmerie den Fotografen Pablo Grillo am 12. März durch einen illegalen, gezielten Schuss lebensgefährlich am Kopf verletzten. Auch der Protagonist wird, nachdem er zwischen Tränengaswolken und Wasserwerfern zu einer guten Freundin und Fotografin zu gelangen versucht, von der Polizei zusammengeschlagen. Es folgt eine lange, traum(a)artige Sequenz der Bewusstlosigkeit, voll von mythologischen Anleihen und Comicmotiven.

Der Comic schließt mit einer traumhaften Reise in den Norden. Die Weite der Landschaft fängt Sike in Bildern ein, deren Betrachtung dazu einlädt, sich in ihnen zu verlieren. Auch der Anhang hält eine schöne Überraschung parat. Die eigenen Karten sind im steten Wandel begriffen, erkennt der Protagonist am Ende, und dass er auch eine Karte für andere ist – dass es schließlich Beziehungen sind, die wirklich bedeutsame Netze spannen. So wie die Figur von Cerati aus „En la ciudad de la Furia”, die eine symbiotische Beziehung mit der Stadt eingeht, abstürzt und doch wiederkehrt.

Sike // Kartographie // avant-verlag // 2024 // Aus dem Spanischen von Lea Hübner // 128 Seiten // 25 Euro


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