„Kein Megaprojekt, sondern ein Gigaprojekt“
Interview zum Interozeanischen Korridor und seinen zerstörerischen Folgen
Worum geht es beim Interozeanischen Korridor?
Der Interozeanische Korridor soll Atlantik und Pazifik durch eine Güterzugstrecke verbinden. Damit wäre ein neuer, schneller Warentransportweg geschafften, der dem Wasserweg des Panamakanals klar überlegen wäre. Ein Schiff braucht dort mindestens eine Woche für die Überquerung. Mit dem Korridor hingegen läge die Transportzeit inklusive Be- und Entladen nach technischen Berechnungen bei nur 14 Stunden.
Eigentlich handelt es sich aber bei dem Projekt um ein Paket von zwölf Megaprojekten, zu denen der Bau von Windparks, der Ausbau zweier petrochemischer Anlagen, eine neue Raffinerie in Dos Bocas (Tabasco) und zehn Industrieparks gehören. In letzteren sollen sich Autofabriken, Mineralaufbereitungsanlagen und maquiladoras (Billiglohnfabriken) aller Art ansiedeln. Hinzu kommen noch die Öko- bzw. Elitetourismusprojekte der multinationalen Konzerne.
Wer profitiert davon?
All diese Projekte gehen an multinationale Unternehmen, die vor allem in den USA ansässig sind. Die mexikanische Regierung bietet ausländischen Investoren Steuerbefreiungen und stellt ihnen auch die nötige Infrastruktur zur Verfügung. Der Interozeanische Korridor ist kein Mega-, sondern ein Gigaprojekt.
Sie bezeichnen den Interozeanischen Korridor als „recyceltes Projekt“, warum?
Konkret wurde das Projekt, das heute den Namen Interozeanischer Korridor trägt, 1996 vom PRI-Präsidenten Ernesto Zedillo vorgestellt. Er nannte es „Programm zur Integralen Entwicklung des Isthmus von Tehuantepec“, was mit dem aktuellen Projekt identisch ist. Mexikos heutiger Präsident Andrés Manuel López Obrador erweiterte das Projekt von 10 auf nun 13 Megastrukturprojekte. Hinzugekommen sind die Windparks sowie Bergbau- und Wasserkraftprojekte.
Hier in Deutschland wird zwar das Megaprojekt Tren Maya (siehe LN 567) langsam bekannter. Wieso ist der Interozeanischen Korridor fast unbekannt?
Der achte Abschnitt des Tren Maya führt von Palenque zum Hafen in Coatzacoalcos an der Atlantikküste. Damit ist er direkt mit dem Interozeanischen Korridor verbunden. Manchmal denke ich, dass der Tren Maya ein Ablenkungsmanöver der Regierung ist. Ich meine damit nicht, dass er keine katastrophale Auswirkungen hat. Schließlich haben die Schäden an den archäologischen Städten, die Abholzung des Regenwaldes und die Zerstörung der unterirdischen Flüsse und Cenoten durch das Zugprojekt auch international Aufmerksamkeit erregt. Aber diese Aufmerksamkeit verdeckt die folgenschweren Interessen hinter dem Interozeanischen Korridor.
Welche Folgen meinen Sie?
Wenn das Gigaprojekt im geplanten Ausmaß fertiggestellt wird, verändert das nicht nur den Isthmus, sondern auch den gesamten Südosten des Landes auf brutale Weise. Der Isthmus von Tehuantepec ist das biologisch vielfältigste Gebiet Mexikos, er vereint alle Klimazonen des Landes bis auf Wüsten und Eiswüsten. Die Region ist der größte Produzent von Wasser und Sauerstoff, indem sie Kohlendioxid auffängt, umwandelt und somit das klimatische Gleichgewicht aufrechterhält. Der Interozeanische Korridor beeinträchtigt nicht nur alle Ökosysteme direkt negativ, sondern wird auf den Südosten Mexikos und den gesamten Planeten nachteilige Auswirkungen haben. Die Verwüstung wird zunehmen und eine brutale Umwandlung der gegenwärtigen Ökosysteme stattfinden.
Welche Probleme sehen Sie neben den schwerwiegenden Folgen für die Umwelt?
Mexiko ist zum einen das Land mit der fünftgrößten biologischen Vielfalt der Welt. Zum anderen steht es im Ländervergleich an sechster Stelle bei der kulturellen Vielfalt, also der Anzahl indigener Völker mit eigener Kultur und Sprache. Innerhalb Mexikos nimmt Oaxaca bei der biologischen und kulturellen Vielfalt den ersten Platz ein. Erstens ist also die Natur direkt betroffen. Zweitens zerstört das Projekt damit auch die Lebensgrundlage der indigenen Gemeinschaften und der Schwarzen Bevölkerung. Es wird also nicht nur einen Ökozid, sondern gleichzeitig einen Ethnozid an 13 indigenen Bevölkerungsgruppen geben, die in der Region leben. Drittens ist die nationale Souveränität bedroht, denn dieser Korridor sichert vor allem die Wirtschaftsinteressen multinationaler Konzerne und die geopolitischen Interessen der Vereinigten Staaten ab.
Warum führt der Ökozid zum Ethnozid?
Ein konkretes Beispiel: An der Pazifikküste im Süden des Isthmus leben die Huave, die Bevölkerungsgruppe ist auch unter dem Namen Mareños bekannt. Sie besteht aus fünf Gemeinden, die vom Fischfang leben. Sie fischen aber nicht auf hoher See, sondern in den zwei Lagunen der Binnenmeere. Diese beiden Lagunen werden sowohl durch das Salzwasser aus dem Meer als auch durch die Flüsse aus dem Chimalapas-Regenwald gespeist. Diese Mischung aus Salz- und Süßwasser verleiht den Lagunen die Eigenschaften eines Mangroven-Ökosystems mit einer immensen Vielfalt an Meeresbewohnern. Die Huave fischen dort mit einem wirklich beeindruckenden traditionellen System und verkaufen Fisch, Garnelen und andere Meeresfrüchte in der Region. Wenn das Megaprojekt zur Modernisierung vom Hafen von Salina Cruz umgesetzt wird, werden Millionen Tonnen von Sand aus der Bucht ausgebaggert, damit große Schiffe in Salina Cruz einlaufen können. Das gesamte marine Ökosystem einschließlich der beiden Lagunen würde sich verändern und das Verschwinden der Huave-Kultur zur Folge haben. Dies ist ein klassisches Beispiel für kombinierten Öko- und Ethnozid.
In der Regenwaldregion Chimalapas leben 13 indigene Gemeinschaften. Hat das Projekt Auswirkungen auf sie alle?
Eigentlich leben mit der Schwarzen Bevölkerung in der Region sogar 14 indigene Bevölkerungsgruppen. Diese Menschen wurden als Sklaven für die Zuckerrohrplantagen nach Coatzalcualcos und Salina Cruz gebracht und sind im mexikanischen Recht bereits als eigene Bevölkerungsgruppe anerkannt. Sie werden jedoch immer noch sehr stark diskriminiert. Auch sie wären betroffen, da sie ähnlich wie die indigenen Gemeinden leben, die seit tausenden von Jahren eine starke Verbindung zur Natur haben, sie betrachten die Natur als Mutter. Und wenn Mutter Erde zerstört wird, werden die Menschen ebenfalls zerstört, sie werden vertrieben und verlieren ihre Lebensgrundlage. Außerdem entstehen mit der urban-industriellen Entwicklung zahlreiche soziale Probleme: Alkoholismus, Drogensucht, häusliche Gewalt, Gewalt gegen Frauen und Feminizide. Das sind Erfahrungen, die man schon an vielen anderen Orten der Welt mit dieser Form der „Entwicklung“ gemacht hat.
Was können Sie uns über die Militarisierung durch die Projekte sagen?
Der Präsident hat die Verantwortung für Teilstrecken des Tren Maya an die Armee übergeben. Den Interozeanischen Korridor hat er der Marine mit der Begründung überlassen, dass er die Verbindung zwischen zwei Ozeanen herstellt.
Forschende am Observatorium für Geopolitik der UNAM (Nationale Autonome Universität von Mexiko) haben in einer Studie darauf hingewiesen, dass der Isthmus von Tehuantepec das am stärksten militarisierte Gebiet des Landes ist. Dort ist mehr Marine, Armee und Nationalgarde präsent als in den Hauptgebieten der Drogenkartelle und sogar mehr als an der Grenze zu Guatemala und Belize.
Seit 2018, als der Interozeanischen Korridor wiederbelebt wurde, sprechen wir in der Region von einer „grünen Mauer”. Diese Mauer ist nicht grün, weil sie ökologisch ist, sondern weil das Militär mit ihren grünen Uniformen vor Ort ist, um Migrant*innen aufzuhalten. Das Militär werde diese mit allen Mitteln stoppen, hat López Obrador seinem US-Amtskollegen Biden versprochen. Abgesehen von der Abschreckung durch das Militär bietet das Giga-Strukturprojekt den Migrant*innen 30.000 Arbeitsplätze an, um sie in der Region zu binden. Das Versprechen, Arbeitsplätze in einer armen Region an Migrant*innen zu vergeben, wird außerdem die Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung schüren.
Wie sehen Sie die Region in 10 bis 15 Jahren?
Ich sehe die Region und besonders den Isthmus von Oaxaca im Kampf und im Widerstand. Denn der Isthmus hat seit Jahrhunderten, in spanischer und sogar in vorspanischer Zeit organisierten Widerstand gegen Eroberung und Kolonisierung geleistet. Auch 1996 gab es gegen das Projekt von Zedillo einen sehr gut artikulierten, kongruenten Widerstand. Ich glaube also, dass sich die Region auch in Zukunft im Kampf um eine Neuordnung befinden wird.
Eine traditionelle Form des Kampfes in der Region sind Straßenblockaden. Stellen Sie sich vor, dass die indigenen zapotekischen Genoss*innen aus Donaji oder Juchitán die interozeanischen Züge blockieren könnten. Dabei würde der Weltkapitalismus jede Minute Geld verlieren und wird versuchen, den Protest dem Erdboden gleichmachen. Deshalb müssen wir sehr wachsam und solidarisch mit der gesamten Bewegung sein.
Protestkarawane „El Sur Resiste“ – „Der Süden leistet Widerstand!“
Vom 25. April bis 5. Mai 2023 laden der landesweite indigene Kongress CNI und der indigene Regierungsrat CIG zu einer Rundreise in die vom Tren Maya und dem Interozeanischen Korridor betroffenen Gebiete im Südsüdosten Mexikos ein. Die internationale Karawane „Der Süden leistet Widerstand!“ soll die indigenen, kleinbäuerlichen, feministischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich im Widerstand gegen verschiedene Formen von Raub und Enteignung durch Staat und globales Kapital befinden, besuchen und vernetzen. Zum Abschluss der Rundreise wird es am 6. und 7. Mai im zapatistischen Caracol Jacinto Canek in San Cristóbal ein internationales Treffen geben, um sich über Schmerzen und Hoffnungen sowie entwickelte Strategien auszutauschen. Das Ziel ist es, von Kämpfen in anderen Regionen zu lernen und starke weltweite solidarische Netzwerke des Widerstands und der Rebellionen zu knüpfen. Mehr Infos zur Karawane gibt es auf den Twitter-Kanälen von TrenMayaStoppen und AgRecherche sowie auf deinebahn.com und netz-der-rebellion.org/aktuelles/. // Recherche-AG
Miguel Ángel García
Mitglied der Organisation Maderas del Pueblo del Sureste A.C und der weltweiten Bewegung des „El Istmo es Nuestro” („Der Isthmus gehört uns“). Er kämpft seit Jahren gegen das Infrastruktur-Megaprojekt Interozeanischer Korridor im Südosten Mexikos. (Foto: Recherche-AG)