Linke in Lateinamerika | Nummer 198 - Dezember 1990

Keine Absage an keinen Sozialismus oder wie oder was?

Bert Hoffmann

Mir fällt Marx’ nettes Zitat ein, daß die Redaktion einer Zeitung eine Diktatur sein müsse. Nun, angenommen die Lateinamerika Nachrichten wären in diesem Sinne marxistisch, und weiter angenommen, ich wäre nicht einer der dann Diktierten sondern eben der eine Diktierende, mit dem ersten Diktator-Dekret würde ich aus allen Artikeln das Wort Sozialismusrausredigieren lassen – es sei denn, der Autor oder die Autorin meint damit tatsächlich etwas (und verrät den Lesenden auch, was).Ein sicheres Opfer wäre der FMLN-Artikel des letzten Heftes gewesen, dessen Zwischentitel (S.50, wer’s sich anschauen will) glaubensbekennt: “Keine Absage an den Sozia­lismus” – und das, obwohl die zititerte FMLN-Frau Rebeca Palacios im Text doch sagt: “Es ist kein sozialistisches Projekt”, kein!, und das ist doch immerhin eigentlich so ziemlich das Gegenteil, oder?!? Aber das macht ja fast gar nix, an dieser Stelle einmal ganz abgesehen davon, daß die Comandante wohl soundso nicht so genau meint, was sie da sagt (die Dialektik von Strategie und Taktik, verstehste?); die so aufgestellte Gleichung “Absage an den Sozialismus” = “sozialistisches Projekt” bringt einfach eine gegenwärtig nicht sonderlich seltene Geisteshaltung besonders gut auf den Punkt: Der Begriff Sozialismus ist derart inhaltsleer geworden, daß er beliebig zu begrüßen oder zu verwerfen ist, who cares? Ein jeder und eine jede kann seine und ihre ganz privaten Vorstellungen unter dieses Etikett batschen, und wer sollte da schon etwas dagegen sagen können? Sozialismusin umrissen. Und nicht einmal mehr der Rückgriff auf die guten Wurzeln, die leider später von den real gewachsenen Bäumen betrogen wurden, schafft die solide Gewißheit von ehedem; selbst wenn hierzulande die PDS als Gegengift zu dem Gehabten etwa die gute Rosa Luxemburg jugendschön auf’s Trapez für den anderen Sozialismus hebt, ist es nicht gerade ihre “Einführung in die Nationalökonomie” (1925; in deren Schlußsatz “tritt die Unmöglichkeit des Kapitalismus deutlich zutage”), mit deren Lektüre sich die Anwalt-für-die-Demokratie-Sozialisten der Ex-DDR ein Alternativkonzept zum BRD-“Modell Deutschland” erarbeiten werden; und ich fürchte, den diesbezüglichen Schriften der Mariáteguis, Fonsecas & co ergeht es in ihren Weltmarkt-geschüttelten Ländern kaum anders.
Alles ist möglich, anything goes, nicht mit der viel verfluchten Postmoderne sondern mit dieser Worthülse, die »Sozialismus Borge, Eduardo Galeano, Mario Benedetti, und sicherlich noch etliche mehr. Nicht nur die zweifelsohne notwendige Radikalität oder ein “revolutionäres Projekt” (das übrigens setzte die zitierte FMLN-Comandante anstelle des “sozialistischen”) werden da benötigt, sondern offensichtlich ungebrochen auch ein Begriff, der mit seinem -ismus auch 1990 so wie eh’ und je vorgaukelt, daß er ein anderes, ebenso greifbares und wirkliches Weltsystem darstellt wie die -ismen der Herrschenden, diesem so elendig realen Kapitalismus und diesem so gewaltsam existierenden Imperialismus. Ein Abschiednehmen von dieser Illusion, vom Begriff »Sozialismus« wäre belebender, “der Sache dienlicher”, als eben diesen zum Schützengraben der zukünftigen Kämpfe und zur Lackmus-Probe politischer Positionsbestimmungen zu erklären. Aber keine Sorge, lieber Leser und liebe Leserin, die Lateinamerika Nachrich¬ten sind alles andere als im obigen Sinne marxistisch, und die lebende Wort-Leiche “Sozialismus“ wird noch des öfteren putzmunter und so inbrunstvoll wie inhaltsleer durch die Zeilen dieses Heftes stolzieren, darauf kann getrost gewettet werden.

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