Keine Antworten in Ciudad Juárez
Die Ermittlungen der Frauenmorde in Ciudad Juárez führen nicht weiter
Zwölf Jahre nach Beginn der Mordserie von mittlerweile über 400 Frauen in Ciudad Juárez im Norden Mexikos an der Grenze zu El Paso (Texas) sind im Rahmen der Ermittlungen im März fünf Tatverdächtige festgenommen worden. Sie werden von der Generalstaatsanwaltschaft in Mexiko-Stadt für Morde zwischen 1997 und 2005 verantwortlich gemacht. Vier der Verdächtigen wurden in Mexiko festgenommen, der fünfte in El Paso. Schon im Januar wurden, nach zum Teil achtjährigen Verfahren, zehn Mitglieder von Banden zu Gefängnisstrafen zwischen 24 und 40 Jahren wegen der Ermordung von zwölf Frauen verurteilt. Die Verurteilten sehen sich als „Sündenböcke“ und werfen den Behörden die Verzögerung des Verfahrens vor. Außerdem seien sie durch Folter zu Schuldeingeständnissen gezwungen worden. Nun scheint sich endlich etwas im Norden Mexikos zu bewegen. Doch der Schein trügt. Bis April des laufenden Jahres wurden wieder zehn Frauen tot in Ciudad Juárez aufgefunden.
Internationaler Druck
So klagen die NGOs in Ciudad Juárez weiter über die Straflosigkeit und fordern die Bestrafung der wahren Schuldigen. Dafür gehen sie mittlerweile immer weitere Wege, zum Beispiel Norma Andrade, die Geschäftsführerin der NGO Nuestras Hijas de Regreso a Casa („Für die Heimkehr unserer Töchter“), die Ende März in Spanien Interviews gegeben hat. Eine breite Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen aus der ganzen Welt begleitet den Kampf der regionalen NGOs, es werden immer wieder unabhängige Aktionen gestartet. Mit der verstärkten Ausweitung der Kampagne der NGOs in den letzten beiden Jahren zunehmend auch nach Europa konnte so eine internationale Öffentlichkeit erreicht und mobilisiert werden. Obwohl der Druck auf Mexiko mittlerweile sehr groß ist, gibt es auch im elften Jahr nach Beginn der Kampagne im Jahr 1994 keine konkrete Verbesserung der Situation in Ciudad Juárez. Eine Lösung des Problems in absehbarer Zeit ist nicht in Sicht.
Denn auch die für Menschenrechte zuständigen multilateralen Organisationen haben von der Regierung zum wiederholten Male Aktionen und eine umfassende Aufklärung des Feminizids gefordert. Die Menschenrechtskommission der UN und die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) haben schon 2003 eigene Berichte vorgelegt. Am 27. Januar dieses Jahres wurde nun auch der ausführliche Bericht der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) über die kritische Situation in Ciudad Juárez veröffentlicht. Er fordert von Mexiko die Einhaltung der Konvention, eine Reihe von Verbesserungen im Rahmen der Ermittlungen und eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft. Mexiko hatte das fakultative Protokoll der CEDAW am 15. März 2002 ratifiziert. Die Untersuchung der CEDAW fand auf Anstoß der mexikanischen NGO Casa Amiga und der US-amerikanischen Organisation Equality Now statt. Bereits im Jahr 2002 hatte die CEDAW in ihrem fünften Bericht über die Situation in Mexiko die Ergebnislosigkeit der Ermittlungen im Fall der Frauenmorde angemahnt.
Alibiaktionen der Regierung
Die mexikanischen Behörden spielen jedoch das Ausmaß der Verbrechen herunter und zögern die notwendigen Schritte so lange wie möglich hinaus. Die Einrichtung einer von den NGOs von Anfang an geforderten Sonderstaatsanwaltschaft in Chihuahua zur Untersuchung der Frauenmorde ließ vier Jahre auf sich warten, bis sie 1998 endlich auf den größer werdenden nationalen Druck hin ihren Dienst aufnahm. Der mexikanische Präsident Vicente Fox reagierte erst 2003 auf die Situation in Ciudad Juárez, im Zugzwang durch die Berichte der UN und CIDH, mit der Verkündigung eines 40-Punkte-Programms. Das Programm sah als zentralen Punkt die Einrichtung eines Sekretariats zur Koordination der Prävention und Verhinderung der Gewalt gegen Frauen in Ciudad Juárez mit Beteiligung von NGOs vor und ernannte die anerkannte Menschenrechtlerin und Juristin Guadalupe Morfín Otero zur Sonderbevollmächtigten. Diese verfügte jedoch lange Zeit nicht einmal über ein Büro oder über juristische Befugnisse zur Akteneinsicht.
Außerdem sollte eine gemischte Polizeibehörde der nationalen und bundesstaatlichen Polizei die Bearbeitung der grundsätzlich als Angelegenheit des Bundesstaats Chihuahua betrachteten Frauenmorde erleichtern. In der Praxis funktioniert die gemeinsame Arbeit nur bedingt, da von Seiten der Beamten in Chihuahua Informationen vorenthalten werden. Da hat es auch die Sonderermittlerin der Generalstaatsanwaltschaft María López Urbina nicht leicht. „Es gab eine offenkundige Tatenlosigkeit und Nachlässigkeit, so dass wichtige Beweise verloren gingen“, sagte sie über die Arbeit der Polizeibeamten im Juni 2004 bei der Vorstellung ihres ersten Berichts. Im Rahmen der Dokumentation der Unregelmäßigkeiten bei der Beweisaufnahme und Identifizierung der Toten konnten nach dem dritten Bericht der Sonderermittlerin im letzten Jahr bei 42 administrativen Prozessen neun direkte Anweisungen gegen Beamte durchgeführt werden, darunter auch zwei Haftbefehle gegen die ehemalige bundesstaatliche Sonderermittlerin Sully Ponce.
Internationale Organisationen forderten immer wieder die Weiterbildung der zuständigen Polizeibeamten im Bereich kriminalistischer Untersuchung von frauenspezifischen Delikten. Mitte April hat die Sonderermittlerin López Urbina den Ausbildungskurs nun eröffnet.
Es ist aber zu bezweifeln, dass die mittlerweile bestehende Vielzahl an Kommissionen, Ausschüssen und Beauftragten für Ciudad Juárez tatsächlich Ergebnisse bringen. Neben den unklaren Kompetenzfragen liegt das auch daran, dass Präsident Fox und die auf nationaler Ebene eingerichteten Institutionen auf regionaler Ebene nicht genug Macht haben. Drogenmafia, Korruption und lokale Interesen sind zu stark in den Fall verwickelt, wie auch NGOs wie Nuestras Hijas de Regreso a Casa immer wieder betonen. Die Schuldigen sind nach Norma Andrade „mächtige Personen mit Geld und politischer Macht, denn obwohl die Zahl der Opfer so hoch ist, passieren weitere Morde und die Schuldigen werden nicht gefunden. Außerdem werden viele am helllichten Tag gekidnappt und niemand sieht oder hört etwas.“ Solange die Jurisdiktion des Staates Chihuahua zuständig ist, werden, wie auch die Sonderbeauftragte Guadalupe Morfin vermutet, offensichtlich Schuldige, die sich auch in den Reihen der Polizei befinden, gedeckt oder aus Angst nicht weiterermittelt. Eine langjährige Forderung der NGOs und auch der internationalen Organisationen wie der CEDAW ist die vollständige Übertragung der Verantwortlichkeit der Untersuchungen auf die nationale Ebene. Zurzeit geschieht dies zwar in 14 Fällen, eine umfassende Ermittlung wäre aber nur dann möglich, wenn die Frauenmorde als ein Problem nationaler Sicherheit anerkannt werden.
Frauenmorde nur ein Imageproblem?
Der Ende 2004 neu gewählte Gouverneur Chihuahuas José Reyes Baeza Terrazas (PRI) hat zwar für April die ersten Maßnahmen wie die Einrichtung eines integralen Pakets zur Hilfe der Angehörigen mit der Einrichtung eines Zentrums für die Betreuung der Betroffenen und die Bereitstellung eines Budgets von 61 Milionen Pesos (4 Millionen Euro) in Angriff genommen. Die Frauenmorde existieren für ihn andererseits jedoch nur in den Medien und ruinieren das „Image“ der Stadt für potenzielle Investoren. Sie seien Vorwand für „eine strukturierte, systematische und langfristige Kampagne, die versucht, das Bild von Ciudad Juárez zu beschmutzen.“ Auch der aktuelle Bundesstaatsanwalt Jesús Antonio Piñón Jiménez ist für eine ähnliche Meinung bekannt. So ist es kein Wunder, dass die Straflosigkeit weiterhin das einzige konstante Element im Feminizid ist.
Die NGOs hingegen fahren mittlerweile verschiedene Strategien. Während die NGO Casa Amiga unter der Direktorin Esther Chávez Cano viele der Morde auf Aggressionen von Ehepartnern, Brüdern oder Vätern zurückführt und als grundlegendes Problem der Gesellschaft anspricht, sehen andere NGO-Aktivistinnen alle Morde unter dem gleichen Deckmantel. Diese Verallgemeinerung birgt jedoch die Gefahr, wie Silke Helfrich, Geschäftsführerin der Heinrich-Böll-Stifung in Mexiko-Stadt sagt, dass die Frauenmorde dekontextualisiert werden, um so ein möglichst großes Aufsehen zu erregen. Tatsächlich sind sowohl nach den Zahlen der Behörden als auch der NGOs nur etwa ein Drittel der Morde Grund sexueller Gewalt, die anderen sind Folge häuslicher und interfamiliärer Übergriffe, Drogenhandel oder Raubmord.
Frauenmorde als Strukturproblem
Immer mehr wird deutlich, dass Ciudad Juárez nicht als Einzelfall zu betrachten ist. Denn auch in der Hauptstadt Chihuahua des gleichnamigen Bundesstaates gibt es Morde gleichen Musters. Aus anderen Bundesstaaten Mexikos wie Oaxaca oder Guerrero werden ebenso erschreckend hohe Zahlen von Frauenmorden gemeldet. Und auch im zentralamerikanischen Staat Guatemala wurden im Jahr 2004 über 500 tote Frauen gezählt, mehr als in Ciudad Juárez in über zehn Jahren. Der Bericht der CEDAW vom Januar diesen Jahres macht deutlich: „Es wird nach und nach erkannt, dass es um weit mehr geht als um vereinzelte Fälle von Gewalt in einer strukturell gewalttätigen Gesellschaft. Unter diesen Umständen ist es keine Lösung, die zu Grunde liegenden sozialen und kulturellen Probleme zu lösen, indem man sich nur auf die Morde und Verschwundenen konzentriert.“ Eine Medienkampagne allein kann dieses fundamentale Problem nicht lösen.
Gesellschaftliche Dimension der Problemlösung
Der Einbezug des kulturellen Umfelds ist für eine nachhaltige Lösung in Ciudad Juárez und Mexiko unerlässlich. Gerade an der Grenze wird dies durch eine kulturell neuwertige Situation noch verstärkt, da dort die Frauen durch ihre Arbeit in den Maquiladoras auch zu Ernährerinnen der Familie werden und somit die bisherige soziale Stellung des Mannes in Frage stellen. In den Worten von Esther Chávez Cano sind die Morde an den Frauen teilweise eine direkte Folge davon: „Jeder kann sich rächen oder gewalttätig eine Frau töten und sie irgendwohin wegwerfen. Sie ist Müll. Denn die Männer erleben die Frustration, dass sie nicht das werden konnten, was man ihnen versprochen hatte: stark, mutig und triumphierend.“ Den Opfern in Ciudad Juárez wird von offizieller Seite immer wieder vorgeworfen, sich anzüglich angezogen zu haben und abends mit Männern zum Tanzen ausgegangen zu sein und damit eine Teilschuld zugesprochen. Diese Aussagen machen deutlich, dass weiterhin viel getan werden muss, um das kulturelle Umfeld zu beeinflussen.
Frauenmorde Ausdruck des gewaltbereiten Klimas
Kulturell orientierte Lösungsstrategien können aber nur aus der mexikanischen Gesellschaft selbst stammen. Die zunehmende Entwicklung und Professionalisierung der Zivilgesellschaft und der Frauenbewegung im Speziellen ist nur ein Beispiel, wie dies in Ansätzen schon geschieht.
Neben der Aufklärung der Frauenmorde geht es nach dem CEDAW-Bericht ebenso darum, „gegen die Gründe der geschlechtsspezifischen Gewalt in ihrer strukturellen Dimension und allen ihren Formen, sei es familiäre Gewalt oder sexuelle Ausbeutung, Morde, Entführungen oder Verschwinden, zu kämpfen, spezifische Politiken anzuwenden, die eine Gleichberechtigung ermöglichen und eine Gender-Perspektive in der öffentlichen Politik schaffen.“
Außerdem wird deutlich, dass die BewohnerInnen in Ciudad Juárez aus Angst vor Rache und Straflosigkeit lieber nichts sehen als auszusagen. Ein Problem, das in ganz Mexiko existiert. Gegenüber der Polizei und der Staatsgewalt herrscht kein Vertrauen. Die Politikwissenschaftlerin und Kolumnistin der liberalen Tageszeitung Reforma, Denise Dresser, beschreibt deswegen Ciudad Juárez als Mikrokosmos des Elends, das Mexiko heimsucht: die Korruption, die Gewalt gegen Frauen und die anwachsende Brutalität, die in jeder großen Stadt Mexikos vorherrscht. Denn nicht nur die Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig, sondern auch die unter Männern. Gerade an der Grenze.
Dass aber hinter den Frauenmorden von Ciudad Juárez eine Professionalität steckt und sich der Seriencharakter nicht verbergen lässt, zeigt eine Untersuchung von Georgina Martínez der Autonomen Universität Ciudad Juárez (UACJ) und Cheryll Howard der Universität Texas (UTEP) aus dem Jahr 1998. Danach werden in Ciudad Juárez etwa dreieinhalb Mal so viele Frauen ermordet wie in der Grenzstadt Tijuana, während die Mordrate der Männer in beiden Städten ähnlich ist.
Der Verweis auf ein zu Grunde liegendes kulturelles Problem darf aber nicht dazu führen, dass den Behörden die Pflicht zu handeln aus der Hand genommen wird. Denn auch wenn der Machismus und die Gewaltbereitschaft gesamtgesellschaftliche Probleme sind, die nur in einem langen Prozess überwunden werden können, müssen dennoch Verbrecher schuldig gesprochen und den Frauen der Schutz garantiert werden, der ihnen zusteht.