Argentinien | Nummer 390 - Dezember 2006

Keine Spur von Julio López

Der Hauptbelastungszeuge im Menschenrechtsprozess ist verschwunden

Rudolfo Yazón ist Anwalt der Argentinischen Liga für Menschenrechte. Ein Gespräch über das Verschwinden des Zeugen Julio López am 18. September und die Menschenrechtspolitik der Regierung Kirchner.

Jürgen Vogt

Herr Yanzón, Julio Lopez war einer der Hauptbelastungszeugen im Gerichtsverfahren gegen Miguel Angel Etchecolatz. Welche Bedeutung hat dieser Prozess?

Miguel Angel Etchecolatz wurde Ende September wegen Mordes, Entführung und Folter zu lebenslänger Haft verurteilt. Als Polizist war Etchecolatz während der Militärdiktatur für die geheimen Gefangenenlager in der Provinz Buenos Aires zuständig. In der Urteilsbegründung sprach ein Gericht erstmal davon, dass die Straftaten unter die Konvention über den Völkermord fallen. Gleichzeitig war es der erste Prozess, der nach der Annullierung der Amnestiegesetze durch die beiden Kammern des Kongresses wiedereröffnet wurde und bei dem es zu einer Hauptverhandlung und einem Urteil kam. Aber, Etchecolatz ist ein ehemaliger Polizist. Er gehörte zur Polizei der Provinz Buenos Aires. Bis heute hat es noch keine Hauptverhandlung gegen Mitglieder der Streitkräfte, weder des Heeres, der Marine oder der Luftwaffe, gegeben.

Vor wenigen Tagen rief mich die Regierung der Provinz Buenos Aires an. Eine Stimme vom Band sagte, wenn ich etwas über den Verbleib von Julio López wisse, sollte ich mich bei der Provinzpolizei melden. Was ist über dem Verbleib von Julio Lopez bekannt?

Es gibt nur Hypothesen, nichts Konkretes, und schon gar keine Ermittlungsergebnisse. Es ist zum Heulen, dass jetzt schon bei den Auslandskorrespondenten angerufen wird, um etwas in Erfahrung zu bringen. Meine Freunde und Bekannten wurden ebenfalls mit Anrufen und SMS überschüttet. Dieser Aktionismus zeigt das ganze Ausmaß der Unfähigkeit der zuständigen Behörden. Vielleicht haben sie Informationen, aber dann geben sie sie nicht heraus. Zudem hat es lange gedauert, bis der Staat anerkannt hat, dass Lopez entführt wurde. Ich als normaler Bürger oder Rechtsanwalt kann an einer Entführung öffentlich zweifeln. Aber der Staat kann das nicht. Sowohl Präsident Kirchner als auch der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Felipe Solá, haben zunächst Verlautbarungen abgegeben, die in eine andere Richtung gingen.

Was meinen Sie, wurde er entführt?

Auch ich habe anfangs nicht daran geglaubt. Aber heute ist klar, Lopez wurde entführt und alles deutet drauf hin, dass er nicht wieder auftauchen wird. Jemand hat beschlossen, ihn verschwinden zu lassen. Dabei ist er nicht der erste Verschwundene nach dem Ende der Militärdiktatur, wie ein Großteil der argentinischen Presse es verkauft. Seit 1983 sind in verschiedenen Fällen Personen verschwunden. Aber im Rahmen der Prozesse gegen Militärs und Polizisten wegen der Menschenrechtsverbrechen der Diktatur und nach der Annullierung der Amnestiegesetze, ist es der erste Verschwundene. Und wir reden vom Ersten, das bedeutet, es kann einen Zweiten oder Dritten geben.

Wer könnte hinter dieser Entführung stecken?

Es muss untersucht werden, ob dafür Teile der Polizei der Provinz Buenos Aires verantwortlich sind. Bei der Provinzpolizei handelt es sich um eine der größten und dubiosesten Vereinigungen, die in Argentinien agiert. Dazu kommen Mitglieder des Geheimdienstes, von denen die Öffentlichkeit nicht weiß, wer sie sind. Viele von ihnen sind aus früheren Epochen recycelt worden. Sie verfügen über viel Geld und Waffen. Viele arbeiten noch immer für die Rechte oder für sich selbst. Die Regierung hat nicht die Möglichkeit sie zu führen und zu steuern. Ich glaube, könnte sie ernsthaft ermitteln, wäre der Fall schon gelöst.

Hat die Regierung die Polizei nicht im Griff?

Sie haben die Polizei der Provinz nicht im Griff, und sie haben wesentliche Teile der Streitkräfte nicht im Griff. In diesem Land gibt es viele, die nur auf persönliche Bereicherung aus sind, ohne sich an irgendwelche Regeln zu halten. Die Polizei der Provinz Buenos Aires und die politische Struktur der Provinz bis hinein in die Peronistische Partei sind geprägt von vielen Beziehungen und Seilschaften der Amtsträger zu den alten und auch neuen Institutionen. Ich weiß nicht, ob da ein Zusammenhang zum Fall López besteht. Meine Frage lautet: geht der Fall nur auf korrumpierte Strukturen in der Provinz zurück oder steht er im Zusammenhang mit den gesamten Prozessen gegen die Militärs?

López wurde nach seiner Zeugenaussage im Prozess entführt. Handelt es sich um einen Racheakt?

Die Botschaft ist eindeutig: Er wird nicht wieder auftauchen, er ist der Erste und es kann einen Zweiten oder Dritten geben. Das Ziel ist einen Zustand der Angst zu schaffen, und das ist bereits erreicht. Einige Zeugen haben schon angekündigt, sie müssten überlegen, ob sie unter den gegenwärtigen Bedingungen aussagen werden. Die Zeugen haben heute eine sehr schwache Stellung, da sie außerordentlich wenig geschützt werden. Zwar gibt es ein Gesetz, das klar formuliert, dass der Staat sich um den Schutz der Zeugen zu kümmern hat, aber es wird bis heute nichts dahingehend unternommen

Hat die Regierung von Präsident Kirchner kein Interesse daran, dass López wieder auftaucht?

Doch, gerade in diesem Fall. Wo es ging hat sie versucht, die Entwicklung der Prozesse gegen die Verantwortlichen der Militärdiktatur voranzutreiben. Und sie hat immer versucht, in der Auseinandersetzung um Menschenrechte aktiv zu sein und Präsenz zu zeigen. Und gerade das ist ein schwerer Fehler der Regierung Kirchner. Sie sollte sich auf politische Maßnahmen zur Einhaltung der Menschenrechte, wie zum Beispiel einen Zeugenschutz, konzentrieren, anstatt sich direkt in den Kampf und die Diskussionen einzumischen.

Ist es ein Fehler, dass sich die Regierung 30 Jahre nach dem Putsch für die Verbrechen der Diktatur entschuldigt und sich für deren Aufklärung einsetzt?

Die Strategie einer starken Präsenz der Regierung Kirchner in den Menschenrechtsorganisationen und deren Aktivitäten hat dazu geführt, dass einige Organisationen sich von der Regierung haben einbinden lassen oder heute offen die Regierungspolitik unterstützen. Die Menschenrechtsbewegung in Argentinien hat einen tiefen Einschnitt erfahren. Ein Teil arbeitet heute für die Regierung, viele sind Regierungsfunktionäre geworden und sie unterstützen die Politik der Regierung, selbst wenn sie mit Menschenrechten unvereinbar ist. Um in diesem Bereich zu arbeiten ist es jedoch eine Vorraussetzung, unabhängig vom Staat zu sein, da kann sich niemand das Staatstrikot überstreifen. Das ist ein originärer Widerspruch. Deshalb ist Argentinien dabei, eine der wichtigsten Stimmen der Zivilgesellschaft zu verlieren, die während vieler Jahre in diesem Land eine außerordentliche Bedeutung hatte. Es gibt Organisationen, die ihre Richtung verloren haben, die ihre Daseinsberechtigung eingebüßt haben. Die Vereinnahmung des Menschenrechtsdiskurses von Seiten der Regierung ist eine sehr ernste Angelegenheit.

Hat die allgemeine Bedrohung gegen Menschenrechtsaktivisten zugenommen?

Ja, die Zunahme ist seit gut einem Jahr zu beobachten und steht im Zusammenhang mit der Annullierung der Amnestiegesetze und der Bestätigung durch den Obersten Gerichtshofs im Juni 2005. Letztes Jahr hat es bereits einige Vorfälle gegeben, auch ich selbst bin massiv bedroht worden. Das war am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte. Sie riefen bei mir zu Hause an und eine männliche Stimmen sagte, am Sonntag werde in meinem Haus viel Blut fließen und dass sie alle töten werden. Also eine Drohung gegen die ganze Familie. Ich erstattete Anzeige bei einem Staatsanwalt, der überhaupt nicht ermittelte, mit dem Argument, er könne nichts tun, solange der Ursprung des Anrufs nicht bekannt sei. Und das war es. Aber es gab schlimmere Vorfälle, beispielsweise den Einbruch in die Büroräume der von Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel gegründeten Menschenrechtsorganisation ‘Dienst für Frieden und Gerechtigkeit’ (SERPAJ), der Angriff auf eine Frau der Mütter der Plaza de Mayo in der Stadt La Plata. Zudem hat es in den letzten drei Monaten zahlreiche direkte physische Angriffe und Attacken gegeben.

Hat das mit dem Verschwinden von López eine neue Qualität erreicht?

Das spurlose Verschwinden Lopez’ ist keine Bedrohung, das ist etwas ganz Konkretes. Und meine Frage dabei ist, beschränkt es sich auf die Provinzpolizei oder geht es darüber hinaus und hat nationale Ausmaße, ich denke dabei an die Streitkräfte. Wer auch immer dahinter steckt, zielt auf die Zeugen ab. Hier sind die Erfolgsaussichten besser als bei den Staatsanwälten und den Richtern. Dahinter steckt das Kalkül: Wenn die Prozesse mit dieser Regierung und mit der Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofs schon nicht gestoppt werden können, so soll für die bisher Straflosen eine Bestrafung wenigstens verhindern werden.


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