Kinder im Knast
Kinder im Knast
Das Problem einsitzender Kinder und Jugendlicher wurde durch eine Katastrophenmeldung dem Vergessen entrissen: Im Februar starben im Gefängnis von La Serena acht Minderjährige, nachdem sie einen Brand gelegt hatten, darunter zwei Kinder im Alter von 12 und 14 Jahren. Weitere Jugendliche überlebten schwerverletzt. Eigentlich hätten sie gar nicht als Insassen in einem Gefängnis sein dürfen, denn auch nach chilenischem Recht sind Kinder nicht strafmündig. Daß sie doch dort waren, ist aber kein Einzelfall: Nach Angaben des Justizministeriums befanden sich im Juni 1993 etwa 700 Kinder in chilenischen Knästen.
Die Opfer des Brandes in La Serena waren von einem Jugendrichter eingewiesen worden, der die Haft für eine “Fürsorgemaßnahme” hielt. Für viele Kinder ist das Gefängnis eine Station zwischen ihren Heimaufenthalten. Es gibt keine Strafanstalten für Minderjährige; Allenfalls ein spezieller Trakt für Jugendliche, in dem diese zwar theoretisch, jedoch nicht tatsächlich von den erwachsenen Häftlingen getrennt untergebracht werden.
Daß Kinder im Knast sind, ist aber nur die skandalöse Oberfläche des Problems. Kaum weniger bedrückend ist die Situation der Jugendlichen, die in “Rehabilitationszentren” leben. Mit diesen geschlossenen Anstalten will sich die Gesellschaft vor einem Teil ihrer Jugend schützen, durch den sie sich bedroht fühlt. 8.000 Jugendliche kamen unter dem Pinochet-Regime jährlich hinter Gitter, in Gefängnisse oder geschlossene “Rehabilitationszentren”. Unter Aylwin sank diese Zahl auf ca. 6.500 im Jahr – eine Minderung, keinesfalls aber ein Bruch mit der gängigen Verwahrpraxis.
Klassenjustiz
Der Großteil der Jugendlichen und Kinder, die in Knästen leben, gehört den armen Bevölkerungsschichten an. Festgenommen werden sie wegen Diebstahl, Vagabundieren, Alkoholkonsum oder Klebstoffschnüffeln in der Öffentlichkeit. Die chilenische Gesellschaft bietet diesen jungen Menschen keine Chance zur Integration. Während nach offiziellen Angaben der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung während der Amtszeit Aylwins von 42 auf 33 Prozent sank, lebt die Hälfte der Kinder nach wie vor in Armut. Die Probleme bündeln sich: Zur materiellen Armut kommt oft eine generelle Vernachlässigung durch das Elternhaus. Die schlecht ausgestatteten staatlichen Kindergärten und Schulen können diese Defizite nicht ausgleichen. 60 Prozent aller chilenischen Jugendlichen besuchen kommunale Schulen. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine der teuren Privatschulen oder wenigstens auf eine staatlich subventionierte Privatschule. Beide Schultypen können ihre SchülerInnenschaft auswählen, leistungsschwache oder problematische SchülerInnen also ablehnen. Diese Selektion und die völlig unzureichende Finanzierung haben das öffentliche Schulwesen ruiniert. Der neue Erziehungsminister faßt das Versagen in folgenden Zahlen zusammen: Vier von zehn ViertklässlerInnen verstehen die Texte nicht, die sie mühsam buchstabierend lesen. An Schulen in armen Gemeinden trifft dies sogar auf drei von vier SchülerInnen zu. Wenn sie von der Schule abgehen, bleiben die meisten Jugendlichen bei der Suche nach Arbeit sich selbst überlassen. Ein berufsvorbereitendes System, das gerade Kindern armer Eltern helfen könnte, gibt es nicht.
In den vergangenen vier Jahren wurden 700.000 Jugendliche auf bloßen Verdacht hin festgenommen. Werden Jugendliche unter 16 Jahren von der Polizei aufgegriffen, gibt es zwei Möglichkeiten: Stammt der/die Betroffene aus besseren Kreisen, wird das Problem mit einem Anruf zu Hause gelöst. Ein armes Kind wird dem JugendrichterInnen vorgeführt, der/die es entweder der Familie übergibt – sofern diese Interesse daran hat – oder in ein “Rehabilitationszentrum” einweist. Während der/die RichterInnen seine/ihre Entscheidung trifft, ohne dabei an zeitliche Vorgaben gebunden zu sein, werden die Jugendlichen in einem Diagnosezentrum (COD) aufbewahrt. Mitunter verfügen RichterInnen jedoch unter klarer Rechtsbeugung, daß die Betroffenen zunächst in einem Gefängnis unterzubringen sind.
Je früher in den Knast desto besser
Chile ist das einzige Land in Lateinamerika, in dem das Strafrecht für 16 bis 18jährige Jugendliche ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert darstellt: Die Entscheidung über die strafrechtliche Urteilsfähigkeit. Kommt ein/e RichterIn anhand eines psychologischen Gutachtens zu der Überzeugung, der oder die Jugendliche habe das Unrecht der Tat erkennen können, wird er oder sie als ErwachseneR behandelt; lediglich das Strafmaß wird im Falle einer Verurteilung leicht abgeschwächt. Wird keine Strafmündigkeit unterstellt, entscheidet der/die RichterIn nach Gutdünken.
Pfiffige Jugendliche wissen das Für und Wider des Unrechtsbewußtseins abzuwägen. Mit 16 Jahren strafrechtlich als erwachsen behandelt zu werden, bringt nicht notwendigerweise Nachteile mit sich. Der/die RichterIn muß nämlich innerhalb von fünf Tagen eine konkrete Anschuldigung erheben oder aber die Freilassung aussprechen. Die Beschuldigten haben das Recht auf anwaltlichen Beistand und eventuell auf Haftverschonung.
Richterliche Willkür
Hält der/die RichterIn das Unrechtsbewußtsein für nicht gegeben, ist aber davon überzeugt, daß der oder die Jugendliche eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt, beschließt die Justiz die Einweisung in ein “Rehabilitationszentrum”. Sie entscheidet dabei nach eigenem Ermessen und ist an keinerlei Verfahren gebunden. Es gibt weder Anspruch auf einen Rechtsbeistand noch auf die Hinzuziehung von SozialarbeiterInnen. Die RichterInnen sind nicht einmal dazu verpflichtet, die Betroffenen überhaupt anzuhören. Die allgemeine Tendenz der Rechtsprechung ist nach Angaben der Kinderrechtsorganisation GAN deutlich von Medienkampagnen über steigende Jugendkriminalität abhängig. Steigt die Zahl der Delikte – sei es tatsächlich oder nur in der öffentlichen Wahrnehmung – nimmt offensichtlich auch die unterstellte Einsichtsfähigkeit der verhafteten Jugendlichen zu.
Die Chancen für eine Reform stehen schlecht. 1993 brachte die Aylwin-Regierung eine Gesetzesvorlage ein, mit der die Entscheidung über das Unrechtsbewußtsein abgeschafft werden sollte. Die ultrarechte Senatsmehrheit blockierte diese Novelle nicht nur, sondern trat im Gegenteil für eine Verschärfung des Strafrechts ein. Die Altersgrenze für Strafmündigkeit sollte auf 17 Jahre gesenkt und die Feststellung des Unrechtsbewußtseins auch auf 14jährige ausgedehnt werden. Um Schlimmeres zu verhüten, zog die Regierung ihre Vorlage zurück.
Resozialisierung: Der Einstieg in die Kriminalität
Nach Ansicht von GAN bieten weder Gefängnisse noch “Rehabilitationszentren” den Jugendlichen die Chance zur Resozialisierung. Während der langen Einschlußzeiten in den Massenzellen von 17 Uhr nachmittags bis 8 Uhr morgens bleiben die Jugendlichen sich selbst überlassen. In diesem Zeitraum entfaltet sich die interne Hierarchie der Insassen in ihrer ganzen Brutalität. Die “Sozialisierung”, die die Minderjährigen im Knast erfahren, fördert das Abrutschen in die Kriminalität.
In den “Rehabilitationszentren” mangelt es sowohl an ausgebildetem Personal als auch an sinnvollen Betreuungsprogrammen. Angesichts des Milieus, aus dem die meisten Jugendlichen kommen, müßte statt für Resozialisierung zunächst einmal für Sozialisierung gesorgt werden. Der Personalmangel macht individuelle Betreuung unmöglich. Die handwerklichen Ausbildungsprogramme sind schlecht und reichen kaum für eine berufliche Qualifizierung aus. Die Jugendlichen merken nur allzu deutlich, daß die Gesellschaft nicht bereit ist, ihnen positive Perspektiven zu bieten.
Vor wenigen Wochen wurde in Santiago, in der Kommune San Bernardo, das erste Jugendgefängnis Chiles eröffnet. In einem Pilotprojekt sollen 120 Jugendliche von SozialarbeiterInnen und PsychologInnen betreut werden und ein sinnvolles Ausbildungsprogramm angeboten bekommen. Die herkömmlichen bewaffneten Gefängniswärter sollen nur noch den Außenring der Anstalt sichern. Doch auch wenn dieses Projekt positiv verlaufen sollte, bliebe vieles zu tun.
Noch immer fehlt das öffentliche Bewußtsein darüber, Jugendkriminalität als Folge sozialer Ungerechtigkeit wahrzunehmen. Diejenigen, die lauthals nach einer Verschärfung der bestehenden Gesetze schreien, sind keinesfalls eine kleine Minderheit. Im gegenwärtigen innenpolitischen Klima für das Problem der Kinder in Knästen keine Lösung in Sicht.
Kasten:
Das Diagnosezentrum in San Joaquín
Auch wo guter Wille für den Umgang mit straffällig gewordenen Jugendlichen vorhanden ist, lassen die bestehenden Strukturen nur wenig Spielraum. Welche Möglichkeiten haben Diagnosezentren (COD), in denen Minderjährige untergebracht werden, die am Knast vorbeigekommen sind?
Bis zum Ende der Diktatur war das COD in San Joaquín, einem Stadtteil Santiagos, ein privates Unternehmen. Die ursprüngliche Belegzahl von 120 Jugendlichen im Jahr 1982 erwies sich als unrentabel. Die staatlichen Subventionen stagnierten. Um einen Gewinn zu erzielen, wurden schließlich 300 Jugendliche zusammengepfercht. Die drohenden Folgen der Überbelegung sollten durch das harte Durchgreifen des Wachpersonals unterbunden werden.
Das COD in Dan Joaquín betreut heute 120 Jungen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Die reduzierte Belegung hat dazu geführt, daß die Gewalt unter den Jugendlichen abgenommen hat. In der Regel reicht die Androhung von Rauchverbot, um Schlägereien zu verhindern. Jeden Montag werden neue Insassen vom Polizeisammelrevier für Kinder und Jugendliche “angeliefert”. Sie bleiben im Durchschnitt 29 Tage, während ein Richter über ihr weiteres Schicksal entscheidet. Einige von ihnen bringen zwei Tage in San Joaquín zu, andere warten bis zu neun Monaten. Die Dauer des Aufenthalts ist unvorhersehbar und entzieht sich dem Einfluß des COD. Entscheidet die Justiz, die Jungen nach Hause zu entlassen? Wird die Einweisung in ein Rehabilitationszentrum verfügt? In diesem Fall sucht der Leiter des COD nach einem freien Platz. In schwierigen Fällen kann dies mehrere Monate dauern. Viele Zentren weigern sich, Jugendliche aufzunehmen, die bereits mehrfach geflohen sind.
Im COD arbeiten siebzig Personen. Nach Abzug des Küchen- und Reinigungspersonals bleiben dreißig BetreuerInnen, die sich im Drei-Schicht-Betrieb um die Jugendlichen kümmern. Auf jede anwesende Betreuungsperson kommen also 12 Jugendliche. Nur insgesamt fünf BetreuerInnen sind PsychologInnen oder SozialarbeiterInnen. Ihre KollegInnen verfügen über keinerlei berufliche Ausbildung.
Die Insassen werden drei unterschiedlichen Gruppen zugeordnet: Erstzugänge, Wiederholungsfälle und Jugendliche, die wegen guter Führung oder stabilisierter familiärer Verhältnisse bald entlassen werden sollen. Die Anstalt ist zwar geschlossen, doch es gibt keine bewaffneten Wächter. Flucht ist also möglich. Nur wenige Insassen sind FreigängerInnen, die einen Arbeitsplatz haben. Eine Minderheit erhält infolge guter Führung das Recht, sich ohne Begleitung außerhalb des Zentrums aufzuhalten – etwa, um ein polizeiliches Führungszeugnis oder einen Personalausweis zu beantragen, kleinere Einkäufe zu erledigen. Das Fluchtrisiko wird bei diesen Jugendlichen einkalkuliert. Das engmaschige Betreuungssystem läßt keine weiteren Möglichkeiten zu, Eigenständigkeit zu erlernen.
In einer kleinen Werkstatt lernt ein Dutzend Jugendlicher, wie mit einfachen Werkzeugen Holz bearbeitet wird. In der Hoffnung, eines Tages eine Anstellung als Angelernter/e zu finden, ziehen die Jungen mit. Auf dem betonierten Innenhof können die Jugendlichen Fußball spielen. In einem Aufenthaltsraum steht ein Fernseher. Zwei Lehrer bieten Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen an. Darüber hinaus gibt es keine gezielten Förderprogramme. Wozu auch? Das COD dient in erster Linie als Durchgangsstation und Verwahranstalt. Daran hat sich auch nach dem Ende der Diktatur nichts geändert.