Kirche | Nummer 294 - Dezember 1998 | Theologie der Befreiung

Kirche im Untergrund

Der Klassenkampf von ChristInnen in Kolumbien

In Kolumbien gab es schon einige Jahre vor der Konferenz von Medellín einen Polarisierungsprozeß innnerhalb der katholischen Kirche. Repräsentiert wurde dieser Trend vor allem vom Bogotaner Universitätspfarrer Camilo Torres Restrepo, der in Lateinamerika als Vorreiter des sogenannten „revolutionären Christentums“ gilt.

Raul Zelik

Der 1929 geborene, aus einer Oberschichtsfamilie stammende Torres wurde 1954 zum Priester geweiht. Zu diesem Zeitpunkt war Torres politisch nicht weiter interessiert, er hatte allerdings Verbindungen zu französisch-belgischen Arbeiterpriestern gehabt, die von der Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Kirche und Unterklassen sprachen. Camilo Torres’ Kontakte mit diesen und anderen oppositionellen Gruppen intensivierten sich während eines Europa-Aufenthalts. Doch auch nach seiner Rückkehr nach Kolumbien 1958 trat er zunächst nicht als Linker in Erscheinung. 1959 wurde Torres zum Hilfskaplan der Nationaluniversität ernannt, begann, Soziologie zu unterrichten, und beteiligte sich an der staatlichen Kommission zur Förderung der Landreform.
Erst die StudentInnenunruhen im Juni 1962 lösten bei ihm eine grundlegende Radikalisierung aus. Auf Druck des Kardinals mußte er sich wegen seiner Unterstützung der protestierenden StudentInnen von der Universität zurückziehen. Wenig später ließ die Regierung die Bauernselbstverwaltung im Südwesten des Landes angreifen. Torres war von der zunehmenden Repression seitens der politischen Eliten derart angewidert, daß er das Entstehen einer oppositionellen Massenbewegung vorantrieb. In der Frente Unido del Pueblo versammelte sich 1964 die gesamte Opposition gegen das liberal-konservative Zweiparteiensystem.
Camilo stieg innerhalb kürzester Zeit zum wichtigsten revolutionären Wortführer auf. Die Geschwindigkeit seiner Entwicklung ist aus heutiger Sicht fast ebenso schwer zu begreifen wie seine charismatische Wirkung auf die kolumbianische Bevölkerung. 1964/65 wurden Hunderttausende durch seinen Einfluß mobilisiert.

Revolutionäre Gewalt als moralische Pflicht

Umso bedeutender war schließlich Ende 1965 Torres’ Entscheidung für den bewaffneten Kampf. Der ehemalige Universitätspfarrer und Soziologielehrer kommt zu dem Ergebnis, daß revolutionäre Gewalt in Kolumbien zur moralischen Pflicht geworden sei, weil sich die Situation auf legalem Weg nicht mehr verändern ließe. Im Oktober 1965 schloß sich Torres der guevaristischen ELN an, in deren Reihen er bei seinem ersten Gefecht im Februar 1966 starb.
Wenige Biographien in Lateinamerika haben eine derartige Wirkung besessen wie die von Torres. Seine Konsequenz im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit wurde für eine ganze Generation linker ChristInnen zum Vorbild. Torres verwandelte sich trotz der durchaus vorhandenen Kritik an der Anwendung politischer Gewalt in die Ikone einer den Armen verpflichteten Kirche, die soziales Unrecht nicht nur lindern, sondern beseitigen wollte.
Während allerdings die meisten ChristInnen auf dem Kontinent Camilos Entscheidung für den bewaffneten Kampf zumindest persönlich ablehnten, entstand in Kolumbien eine Strömung, die die Verbindung mit den Guerilla-Organisationen, vor allem mit der ELN, suchte. So entwickelte sich mit der Bewegung Golconda eine Art Untergrundkirche, die soziale Basisarbeit organisierte und logistische Unterstützung für die Guerilla leistete. Die Größe dieser Gruppe ist schwer zu schätzen. Wahrscheinlich waren letztendlich nur ein paar Dutzend Pfarrer und Nonnen aktiv an ihr beteiligt, aber ihre Wirkung ging weit über den unmittelbaren Kreis hinaus. Immer wieder schlossen sich Golconda-ChristInnen der ELN an, die von nun an das Bündnis von ChristInnen und MarxistInnen zu repräsentieren schien.
1969 tauchten in Kolumbien auch drei spanische Pfarrer unter, deren Namen ebenfalls weltweit bekannt wurden: Manuel Pérez Martínez, José Antonio Jiménez und Domingo Laín. Die drei stammten aus der nordspanischen Provinz Aragón und hatten zunächst in Haiti, der Dominikanischen Republik und an der kolumbianischen Karibikküste versucht, die Massen in den Elendsquartieren zu organisieren. Nach mehrfacher Ausweisung durch die jeweiligen Regierungen gelangten sie schließlich zur Guerilla, in der Jiménez und Laín nach kurzer Zeit starben.
Auch Manuel Pérez, als Dritter im Bund, entkam nur knapp dem Tod. 1973 wurde die ELN, damals nur eine Gruppe von 200 Guerilleros, in Añorí-Antioquia von der Armee eingekesselt. Pérez gehörte zu den wenigen Überlebenden dieser Operation und irrte danach wochenlang allein durch den Dschungel, ohne allerdings auf den Gedanken zu kommen, seine Waffen zu verstecken und zu fliehen.
Dieses Verhalten ist in vielerlei Hinsicht charakteristisch für Pérez und die christliche Strömung innerhalb der kolumbianischen Guerilla. Sie besitzt eine kompromißlose, manchmal mystisch anmutende Konsequenz, ohne dabei allerdings wie wirkliche Fanatiker den Blick für das menschliche Individuum zu verlieren.
Es ist diese persönlich-moralische Integrität, die der ELN einen großen Respekt eingebracht hat und die ChristInnen in der Organisation ungeachtet interner Debatten stärkte. Manuel Pérez wurde 1981 politischer Verantwortlicher der Organisation und prägte ihren Wiederaufbau zu einer Guerilla, die eine Art Selbstverwaltungssozialismus befürwortet. Pérez blieb bis zu seinem Hepathitis-Tod im Frühjahr 1998 ein schlichter Guerillaführer, der keine Privilegien in Anspruch nahm und als ausgesprochen unautoritär galt.
Die Tatsache, daß sich in Kolumbien eine Strömung wie die Golconda-Gruppe herausbilden konnte, hatte nicht nur mit dem persönlichen Gewicht von Camilo Torres, oder später Manuel Pérez zu tun. Die Kräftekonstellation in der katholischen Kirche war anders als in den meisten Nachbarländern. In vielen Ländern des Subkontinents bildete sich nach der Konferenz von Medellín auch in der Amtskirche eine befreiungstheologische Strömung heraus. So galten in Brasilien zeitweise drei Viertel der Bischofskonferenz als fortschrittlich oder sogar links. Und fast in jedem Land gab es Bischöfe, die wie Samuel Ruiz oder Oscar Romero die Kirche der Armen innerhalb der offiziellen Hierarchie repräsentierten. In Kolumbien hingegen wurde – in den eigenen Worten der Golconda-ChristInnen – der Klassenkampf auch in der Kirche ausgetragen. Während die Hierarchie stramm rechts blieb und zum Teil sogar beste Verbindungen zum Paramilitarismus unterhielt, konzentrierten sich die fortschrittlichen ChristInnen auf den Aufbau von Basisgemeinden. Versöhnliche Mittelpositionen gab es kaum.

Guerillaführer Manuel Pérez

Zwar war die radikale Basiskirche in Kolumbien weniger groß als in anderen Ländern Lateinamerikas und auch das Gewicht der Kirche in der Gesellschaft allgemein geringer als etwa in Brasilien oder Guatemala, aber die Wirkung der Golconda-ChristInnen in Kolumbien erklärte sich vor allem mit ihrer Vorreiterrolle. Sie brachen nämlich gleich mehrere Tabus: Sie verbanden christliche Moral mit revolutionärer Gewalt, suchten eine Synthese zwischen marxistischer Analyse und christlicher Solidarität, und versöhnten zentralistische Organisationsprinzipien mit einem bedingungslosen Humanismus. Leute wie Camilo Torres und Manuel Pérez stießen damit weit über die Landesgrenzen hinaus Türen auf.
Die Präsenz von BasischristInnen in der salvadorianischen und guatemaltekischen Guerilla, die offene Parteinahme der brasilianischen Bischöfe für die Sem-Terras (Landlosen) oder der Brückenschlag der chiapanekischen Amtskirche zur EZLN wäre ohne die Radikalität von Camilo Torres und den Golcondas in dieser Form wohl kaum möglich gewesen.

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