Argentinien | Nummer 353 - November 2003

Kirchners ambitionierter Wirtschaftskurs

Radikale Entschuldung soll soziale Akzente ermöglichen

Politisch standen die Zeichen im Conosur nie günstiger. Mit Néstor Kirchner in Argentinien und Luiz Inácio „Lula“ da Silva in Brasilien amtieren zwei Präsidenten, die sich sozialen Belangen verpflichtet fühlen. Dabei konnte Kirchner bei den Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und mit Schuldenerlassforderungen erste Akzente setzen. Achtungserfolge deren Tragweite bis auf weiteres begrenzt sind.

Martin Ling

Sie üben den Schulterschluss: Néstor Kirchner und Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Ob bei der WTO-Ministerratstagung im September im mexikanischen Cancún oder beim argentinisch-brasilianischen Gipfeltreffen Mitte Oktober in Buenos Aires. Dort beschlossen sie den so genannten Konsens von Buenos Aires. Künftig wollen die beiden Länder die Rückzahlung ihrer Außenschulden von der internen sozialen Lage abhängig machen, heißt es unter anderem in der Absichtserklärung. Die „Schaffung von Reichtum und Arbeitsplätzen“ sowie die „Reduzierung der Armut“ habe Vorrang vor der Schuldenbedienung. „Mit diesem Abkommen konsolidieren wir eine gemeinsame Position gegenüber der Welt“, erklärte Kirchner. Überhaupt ist eine verstärkte Süd-Süd Zusammenarbeit ein Baustein der wirtschaftspolitischen Strategie Kirchners. Deswegen wurde in Buenos Aires auch vereinbart, nur gemeinsam und mit den anderen Ländern des Mercosur über die von den USA forcierte kontinentale Freihandelszone (ALCA) zu verhandeln.

Schuldenfrage steht im Zentrum

Auch bei der Schuldenfrage drängt Kirchner darauf, sie auf die regionale Agenda zu setzen, um gemeinsam eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Vorerst müht sich Argentinien als Einzelkämpfer um Zugeständnisse des Internationalen Währungsfonds (IWF) und um Schuldennachlass bei seinen privaten Gläubigern. Und immerhin rang Kirchner zusammen mit seinem vom Vorgänger Eduardo Duhalde übernommenen Wirtschaftsminister Roberto Lavagna dem IWF ein relativ moderates Abkommen ab. Die Strategie: Verhandeln bis zur letzten Minute.
Wie schon im Januar ließ Argentinien eine Zahlungsfrist verstreichen, um den Einigungsdruck zu erhöhen und letzte Details herauszuholen. „Ich werde nicht um jeden Preis unterschreiben“, hatte Kirchner noch wenige Stunden vor Fristablauf für eine 2,9 Milliarden US-Dollar-Rate verkündet, die dann auch prompt nicht pünktlich überwiesen wurde. Vor allem gegen die geforderte Erhöhung der Preise für Strom, Gas und andere Dienstleistungen begehrte er auf. Per Gerichtsbeschluss wurden die einschlägigen Tarife in der Krise eingefroren, was den privaten Anbietern ein Dorn im Auge ist, die in der Privatisierungswelle in den Neunzigern die öffentlichen Dienstleistungen übernahmen. Zumal sie statt der investierten US-Dollars nun Pesos erhalten. Kirchner warf dem IWF vor, Lobbypolitik für bestimmte Unternehmenssektoren zu betreiben. Der IWF gab nach, die Erhöhung wurde aufgeschoben. Argentinien verpflichtete sich lediglich, eine Lösung mit den Betreibern zu suchen. Dabei ist selbst die Nachverhandlung der Verträge als Möglichkeit eingeschlossen, was bei der Bevölkerung auf hohe Zustimmung stößt.
Auch ansonsten zeichnet sich das Abkommen durch eine für den IWF ungewohnte Unverbindlichkeit aus. Die argentinische Regierung hat zugesagt, die Finanzen zu konsolidieren. Ein klares Haushaltsziel wurde aber nur für das laufende Jahr festgelegt: Drei Prozent soll der Primärüberschuss des öffentlichen Sektors betragen, also vor Zahlung des Schuldendienstes. Die Zielwerte für 2004 und 2005 sollen in Abhängigkeit von Wachstum, Beschäftigung und Armut zu einem späteren Zeitpunkt festgelegt werden. Aus sozialen Gründen sei mehr nicht denkbar, wies die argentinische Regierung den Hinweis auf Brasilien zurück, wo Lula freiwillig die IWF-Vorgabe von 3,75 Prozent auf 4,25 Prozent erhöhte. Schließlich lebe die Hälfte der Bevölkerung Argentiniens in Armut und daran trage nicht zuletzt der IWF Mitverantwortung. Auch eine Verpflichtung, den Banken des Landes für die im Zusammenhang mit der Abwertung des Pesos erlittenen Verluste eine Entschädigung zu gewähren, wurde vermieden.
Das Programm ist auf drei Jahre angelegt und stellt Argentinien keine zusätzlichen Finanzhilfen in Aussicht. Als Gegenleistung für das Reformpaket stundet der IWF im Vertragszeitraum die Rückzahlung bestehender Verbindlichkeiten in Höhe von 12,5 Milliarden US-Dollar. Zahlen muss das Land lediglich die Zinszahlungen von rund zwei Milliarden US-Dollar. Auch die Rückzahlung von 8,5 Milliarden US-Dollar an die multilateralen Geber Weltbank und Interamerikanische Entwicklungsbank wird gestundet. Die zeitweilige Entlastung auf der multilateralen Ebene reicht jedoch nicht aus, um die von Kirchner anvisierte grundlegende Wiederbelebung der Wirtschaft zu erreichen. Drei Millionen Wohnungen und fünf Millionen Arbeitsplätze hatte Kirchner im Wahlkampf versprochen. Davon ist noch nichts zu sehen, auch wenn für dieses Jahr fünf Prozent Wachstum in Aussicht sind und selbst die Supermärkte im Juli zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren ein Umsatzplus verzeichneten. Ein Indiz für wachsenden Optimismus und Vertrauen der Bevölkerung in die wirtschaftliche Erholung.

Offensive gegen die Gläubiger

Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein legte die argentinische Regierung auch bei der IWF-Herbsttagung Ende September in Dubai an den Tag. Bestärkt von dem eine Woche zuvor geschlossenen Abkommen mit dem IWF präsentierte Wirtschaftsminister Roberto Lavagna den privaten Gläubigern seinen Umschuldungsplan: Argentinien verlangt von seinen Gläubigern den Verzicht auf 75 Prozent ihrer Forderungen, die auf rund 90 Milliarden US-Dollar taxiert werden. Und auch die seit der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit im Januar 2002 aufgelaufenen Zinsen von 15 Milliarden US-Dollar müssten die Anleger in den Wind schreiben, ging Lavagna in die Offensive. Jetzt liegen die Karten auf dem Tisch und die Gläubiger sind am Zug. Ob sich Argentinien mit diesem Umschuldungsvorschlag durchsetzen kann, steht in den Sternen. Zwar machte Lavagna noch in Dubai klar, dass er nicht gedenke, sein Angebot zu modifizieren, doch damit die Umschuldung vonstatten gehen kann, muss ein Großteil der Gläubiger zustimmen. Das kann dauern, denn die vielen kleinen Privatanleger zeigten sich alles andere als erfreut. Am stärksten betroffen ist Italien, wo 340.000 Anleger ein Volumen von 13,5 Milliarden US-Dollar halten, gefolgt von Deutschland mit einem Volumen von 8,7 Milliarden US-Dollar, verteilt auf 200.000 Anleger. Viele Anleger haben sich in Interessengemeinschaften zusammengeschlossen und Klagen gegen den argentinischen Staat erhoben. Auch in Deutschland. Das erste Opfer war der geplante Deutschlandbesuch Kirchners Anfang Oktober. Kirchner sagte ab, weil die bundesdeutsche Regierung ihm keine hundertprozentige Sicherheit dafür gewähren konnte, dass das Präsidentenflugzeug Tango 01 nicht auf Anlegerbegehren gepfändet werden würde. Ein Linienflug sei unter der Würde eines argentinischen Präsidenten, ließ Kirchner verlauten und blieb Zuhause.
Viel erreicht hat Kirchner wirtschaftspolitisch noch nicht, aber einiges bewegt. In Zeiten, in denen fast flächendeckend dem Neoliberalismus gehuldigt wird, ist es bemerkenswert, soziale Aspekte gegenüber dem IWF durchzusetzen. Ebenso der offensive Umgang mit der Auslandsverschuldung. Doch was das nach wie vor zahlungsunfähige Argentinien bräuchte, wäre ein geregeltes Insolvenzverfahren, bei dem auch der IWF auf eigene Forderungen verzichten müsste. Davon ist sowenig die Rede wie von den illegitimen Schulden aus der Militärdiktatur, die den Ausgangspunkt der astronomischen Auslandsverschuldung Argentiniens von inzwischen 175 Milliarden US-Dollar bilden. Kirchner hat noch einen weiten Weg vor sich.

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