Brasilien | Nummer 286 - April 1998

Klare Sache in Brasilien

Cardoso gegen Lula, die zweite

Im Oktober diesen Jahres werden in Brasilien Präsidentschafts- und Gouverneurswahlen sowie Wahlen der Bundes- und Länderparlamente stattfinden. Die Konturen des Präsidentschaftswahlkampfes sind inzwischen klar erkennbar: Der amtierende Präsident Fernando Henrique Cardoso ist klarer Favorit in diesem Rennen und wird von einem breiten Bündnis fast aller bürgerlichen Parteien unterstützt. Wichtigster Herausforderer ist erneut Luis Inácio “Lula” da Silva, der versucht, ein Bündnis seiner Arbeiterpartei PT mit der populistischen Demokratischen
Arbeiterpartei PDT Brizolas zu besiegeln.

Oliver Sieg

Während Lula lange gezögert hat, zum dritten Mal als Präsidentschaftskandidat anzutreten, steckt Cardoso, der davon profitierte, daß eine Verfassungsänderung seine Wiederwahl ermöglicht hat, bereits in vollem Vorwahlkampf. Er gibt lockere und joviale Interviews, reist durchs Land und hat eine ganze Serie von Einweihungen öffentlicher Bauten begonnen, die sich noch bis zur Wahl hinziehen wird.
Kaum jemand wagt zu bezweifeln, daß Cardoso die Wahlen gewinnen wird. Trotz der wirtschaftlichen Stagnation, steigender Arbeitslosigkeit und nicht eingelöster Wahlversprechen ist der Amtsvorteil zu groß. Damit bewegt er sich ganz auf der Linie, die der mexikanische Politologe Jorge Castañeda einmal treffend beschrieben hat: In Lateinamerika wird im Grunde jeder Präsident wiedergewählt, weil die gesetzlichen Kontrollen zu schwach sind und das mit dem Amt verbundene Prestige zu groß ist – unabhängig davon, ob die Politik des Amtsinhabers erfolgreich und populär ist oder nicht.
Abgesehen von seinem Amtsvorteil nützt Cardoso auch das breite Bündnis konservativer und liberaler Parteien, das ihn unterstützt und das fast 80 Prozent der Kongreßsitze und damit auch einen entsprechenden Anteil an Fernsehspots umfaßt. In dieser Konstellation erscheint eine Niederlage des amtierenden Präsidenten unwahrscheinlich.

Vorsprung für Cardoso

Sein Herausforderer Lula ist sich dagegen seiner ungünstigen Startbedingungen durchaus bewußt. Aus diesem Grunde knüpft er innerhalb seiner Partei, der PT, seine Kandidatur an die Bedingung, freie Hand in der Bündnispolitik und der Wahlkampfgestaltung zu bekommen. Bisher hat die sozialistisch orientierte PT ein Bündnis mit Brizolas linkspopulistischer und stark geschrumpfter PDT geschlossen, das aber im Gegenzug an die Bedingung geknüpft ist, in Rio de Janeiro den Kandidaten der PDT zu unterstützen. Zu Lulas ersten Wahlkampf-Aktivitäten gehörten auch Besuche bei der Landlosenbewegung MST und in kleinen Städten, wo er nach lokalen Allianzen sucht.
Außer Lula konkurriert auf der Linken noch Circo Gomes, ehemaliger Finanzminister und Verbündeter Cardosos, der sich aber seit 1995 vom Präsidenten abgesetzt hat. Er wirft Cardoso vor, zu stark mit den konservativen Parteien zu kooperieren und Verrat an alten Idealen begangen zu haben. Nun kandidiert er für die aus der ehemaligen kommunistischen Partei hervorgegangene PPS. Große Chancen kann man ihm nicht einräumen: Programmatisch grenzt er sich nicht klar von Cardoso ab; als linker Kandidat steht er jedoch ganz im Windschatten von Lula.

Das konservative Bündnis

In Cardosos Wahlallianz treffen sich aus der Partei der ehemaligen Militärdiktatur Aliança Renovadora Nacional ARENA hervorgegangene Parteien mit solchen, die aus der damaligen Opposition entstanden sind. Gemeinsam ist ihnen vor allem ein schwacher Parteizusammenhalt und ein unklares Programm. Entgegen ihren meist progressiven Namen und Rhetorik kennzeichnet sie eine konservative Programmatik. So stellen sie sich gegen Reformen, die Chancen für eine Verringerung der extremen sozialen Ungleichheit in Brasilien bieten würden, so eine Steuerreform, eine Agrarreform oder eine Reform des Bildungswesens. Sie sind ganz orientiert an neoliberaler Weltmarktpolitik und konzentrieren sich im wesentlichen darauf, die Geldwertstabilität auch in Zukunft zu erhalten und die Basis für ein höheres Wirtschaftswachstum zu schaffen. Bisher ist die niedrige Inflation stark vom Zufluß ausländischen Kapitals abhängig, wodurch die Auslands- und die Staatsverschuldung stetig anwachsen. Der Präsident versucht, Verfassungsreformen durch den Kongreß zu bringen, um das Haushaltsdefizit zu verringern, außerdem wurden wichtige Staatsbetriebe privatisiert. Analysen zeigen, daß der Erfolg dieser Reformen tatsächlich zum Wirtschaftswachstum, jedoch wohl eher nicht zu einer Verringerung der sozialen Ungleichheit führt.

Stiefkind Armut

So hat Cardosos Regierung bisher kein besonderes Engagement in der Sozialpolitik gezeigt. Zwar hat Renato Souza, Erziehungsminister und Vertrauter Cardosos, einige progressive Vorschläge im Grundschulbereich gemacht. Da aber für die Schulpolitik die Bundesstaaten verantwortlich sind, sind es bisher Vorschläge geblieben. Auch die Situation im Gesundheitswesen ist katastrophal.
Dem MST gegenüber hat sich die Regierungspolitik in den letzten Monaten sehr verhärtet: Verhandlungen mit den Landbesetzern wurden explizit verboten, nur ‘allgemeine’ Gespräche sind erlaubt.

Seltsame Freunde

Cardosos Hauptverbündete stammen aus der Rechten. Die mit knapp über 20 Prozent der Kongreßsitze größte Partei der Liberalen Front PFL ist aus der ARENA hervorgegangen und hat ihre stärkste Basis in den ärmeren Gebieten des Nordostens. Ihre Sitze im Kongreß geben ihr viel Einfluß auf die Regierung. Seit ihrer Gründung ist die PFL in allen Regierungen vertreten gewesen, hat es aber dennoch geschafft, ihren internen Zusammenhalt und ihr klares, rechtsliberales Profil zu erhalten.
Noch stärker als die PFL wird die PPB, Partei des Bürgermeisters von São Paulo, Paulo Maluf, mit dem Autoritarismus der Mili–tärdikatatur verknüpft, da sie am Ende der Diktatur für deren Kandidaten stimmte. Programmatisch ist auch sie eine Partei der oberen Klassen, die jedoch auch gerade Geringverdiener in São Paulo anspricht.

Die traditionelle Politik

Ausländischen Beobachtern fällt es meist schwer zu begreifen, warum es so viele verschiedene, programmatisch kaum voneinander abgegrenzte Parteien gibt und warum Cardoso mit einer rechnerischen Mehrheit von mehr als drei Vierteln des Kongresses solche Schwierigkeiten hat, seine geplanten Verfassungsreformen durch das Parlament zu bringen. Die Abgeordneten und Bürgermeister des Cardoso-Bündnisses sehen die Politik im wesentlichen als eine Fortsetzung ihrer Geschäftsaktivitäten an – und die Wahlkampagne nur als die in diesem Zusammenhang unumgängliche Investition. Aus dieser Perspektive dienen Parteien bei Parlamentswahlen nur als Sprungbrett, das jedoch geschickt ausgewählt sein will, denn die Sitze werden proportional pro Partei an deren meistgewählten Kandidaten übergeben. Um einen Sitz zu erlangen, ist somit die Partei ideal, die zwar viele Stimmen als ganzes bekommt, ohne aber viele bekannte überregionale Kandidaten zu haben. Die Folge ist, daß sich die Abgeordneten nach der Wahl an keine Parteientscheidungen gebunden zu fühlen brauchen. Abgeordnete, die fünfmal in einer Legislaturperiode die Partei wechseln, sind keine Seltenheit.
Meist verschweigen Kandidaten sogar ihre Partei und sagen nicht einmal, welche Regierung sie im Falle ihrer Wahl unterstützen würden.
Für die meisten Wähler ist kaum durchschaubar, was die einzelnen Kandidaten programmatisch vertreten. Über 50 Prozent haben höchstens vier Jahre Schulausbildung, mehr als 20 Prozent sind Analphabeten. Eine Umfrage hat gezeigt, daß schon eine Woche nach der Wahl die überwältigende Mehrheit vergessen hat, wem sie ihre Stimme gab. Auch über die Funktion der Abgeordneten besteht große Unklarheit bei der Wählerschaft.
Dies entspricht durchaus der Haltung, die die meisten Abgeordneten gegenüber den Aufgaben ihres Amtes einnehmen: Sie interessieren sich wenig für Gesetzesvorlagen und betrachten Abstimmungen eher als Gelegenheit, Gelder für ihre Regionen loszueisen.
Cardosos Wirtschaftsreformen hängen im wesentlichen von Verfassungs- und Gesetzesänderungen ab, deren Procedere in der Verfassung minutiös geregelt ist. Jede Abstimmung ist somit ein kostspieliges Vorhaben, für das Unmengen an Steuermitteln freigemacht werden müssen.

Lulas Bündnis

Die PT ist nicht nur Brasiliens größte Oppositionspartei, sondern angesichts der Zwergenhaftigkeit und Konturenlosigkeit der anderen eigentlich auch Brasiliens einzig wirkliche. Innerparteiliche Diskussionen scheinen in der PT im Moment etwas abgeflaut. Es herrscht so etwas wie ein sozialdemokratischer Konsens, nicht zuletzt aufgrund fehlender „revolutionärer“ Alternativen. Auch wenn einige der parteiinternen „Tendenzen“ eine radikalmarxistische Rhetorik pflegen, sind sich in der Praxis doch alle der eingeschränkten Realisierungsmöglichkeiten bewußt.
Eine gewisse Mutlosigkeit hat sich in der PT breitgemacht. Die Gewerkschaftsbewegung hat mit den Folgen neoliberaler Strukturanpassungen und steigender Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Nur der Kampf der Landarbeiter schafft noch Furore.
Das noch in der Diskussion befindliche Wirtschaftsprogramm der PT sucht vor allem Lösungen, um aus der derzeitigen Zwickmühle von geringem Wirtschaftswachstum und den Risiken der Globalisierung herauszukommen. Exporte sollen stimuliert, die heimische Sparquote gesteigert und der überhöhte Wechselkurs schrittweise abgewertet werden. Die Privatisierung des Telefon-, Öl- und Elektrosektors soll gestoppt, bisherige Privatisierungen jedoch nicht rückgängig gemacht werden. Die PT ist sich der veränderten Rolle des Staates bewußt. Sie steht aber der übereilten Verscherbelung staatlicher Betriebe durch die Cardoso-Regierung kritisch gegenüber.
Der Rest des linken Parteienspektrums verharrt in einer wenig attraktiven Mischung aus Etatismus und traditionellem Politikverständnis. Die ehemals China- und Albanientreue Kommunistische Partei von Brasilien (PC do B), ein alter Rivale der PT in der Gewerkschafts- und Studentenbewegung, ist klein und vom Ende des albanischen Regimes geschüttelt, in der Praxis jedoch sehr gemäßigt. Dort, wo sie an der Regierung waren, haben sich diese Parteien nicht durch eine neue Artbleibt, Politik zu machen ausgezeichnet, welche sie vom üblichen konservativen Einerlei abheben würde.
Ob sich im Laufe der bevorstehenden Wahlkampfmonate aussichtsreiche Alternativen zur Cardoso-oder-Lula-Wahl auftun, bleibt abzuwarten. Ansonsten wird sich das Duell von vor vier Jahren wiederholen. Der Überraschungseffekt, der Cardoso damals in letzter Minute gegen den Favoriten Lula zu Hilfe kam, wird ihm 1998 nicht wieder zur Verfügung stehen.

KASTEN

In eigener Sache

Auf dieser Seite ist uns in der letzten Ausgabe ein heftiger Schnitzer unterlaufen. Im Vorspann zum Artikel über die Dominikanische Republik war zu lesen, daß Leonel Fernández „am Freitag sein Amt antritt“. Mag sein, daß das einst ein Freitag war, jedenfalls steht fest, daß Fernández schon anderthalb Jahre im Amt ist.
Eine Peinlichkeit, die nur mit einer müden Endkontrolle zu erklären ist, der nicht auffiel, daß in letzter Minute eine alte Datei statt der neuen eingelesen wurde. Wir bitten um Nachsicht.
Und noch etwas: Seit einem knappen halben Jahr ist das Layout der LN verändert – was uns eigentlich ganz gut gefällt. Daß die Schrifttypen bei den Artikelüberschriften in der vorigen Ausgabe anders waren, lag nicht an einem neuerlichen Reformvorstoß aus der Helvetica-Fraktion, sondern an einem elektronischen Übertragungsproblem zwischen Diskette und Drucker, das auch unter heftigsten Bemühungen nicht mehr zu beheben war. Genauso unerklärlich wie die Tatsache, daß es letztens bei einem Probeausdruck wieder gestimmt hat. Das Malheur hatte jedoch sein Gutes: Wir wissen jetzt, daß uns die „richtige“ Schrift wirklich besser gefällt.


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