Bolivien | Nummer 443 - Mai 2011

Klassenkampf mit dem Genossen

Nach langen Kämpfen zwischen Gewerkschaften und Regierung nähern sich die beiden Lager wieder an – vorerst

In den letzten Monaten kam es in Bolivien zu zahlreichen, teils auch gewalttätigen Demonstrationen, die von der traditionellen Basis der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus MAS ausgingen. Inzwischen wurde ein Kompromiss gefunden, doch niemand weiß, wie lange der Frieden hält. Durch die Rücknahme des „verfluchten Dekrets“ 21060 aus dem Jahr 1985 versucht die Regierung, verspielte Sympathien zurückzuerlangen.

Thilo F. Papacek

Es war eine historische Forderung des Gewerkschaftsdachverbandes COB, die Präsident Evo Morales an diesem Ersten Mai erfüllte. „Ich bin gekommen, um mit euch, meinen Bergarbeiter-Brüdern, das Dekret 21060 endgültig zu beerdigen!“
Damit bedient Morales eine alte Forderung des von Minenarbeitern dominierten COB: Die von den Arbeitern oft einfach nur „das verfluchte Dekret“ genannte präsidiale Anweisung zurückzunehmen.
Das Dekret wurde am 29. August 1985 vom damaligen Präsidenten Víctor Paz Estenssoro erlassen als eine extrem harte Reaktion auf die damalige Hyperinflation und Staatskrise. Es stellte den Anfang der neoliberalen Wirtschaftspolitik Boliviens dar und begründete die Privatisierung der staatlichen Zinnminen, wodurch zehntausende Bergarbeiter ihre Jobs verloren. Mehr noch: Das gesamte Wirtschaftsmodell des Landes wurde umgekrempelt. War zuvor starke staatliche Intervention das Prinzip bolivianischer Wirtschaftspolitik, begann mit dem Dekret 21060 die Wende zum Neoliberalismus. Letztlich beerdigte Paz Estenssoro damit auch sein eigenes Lebensprojekt: Jahrzehnte vorher war er es selbst, der als Präsident nach der Revolution im Jahr 1952 die Zinnminen verstaatlicht und die staats-interventionistische Politik des Landes etabliert hatte.
Das nun von Morales zurückgenommene Dekret hatte also auch einen hohen symbolischen Wert: Kaum etwas steht für das Scheitern der nationalen Revolution von 1952 und der Bewegung der Nationalen Revolution (MNR – die Partei Paz Estenssoros) wie das Dekret. Mit der Rücknahme will Evo einen historischen Faden aufnehmen. Er demonstriert die Abkehr vom Neoliberalismus und bekennt sich zu den Zielen der Revolution von 1952, die für die Bergarbeiter Boliviens immer noch ein wichtiger historischer Bezugspunkt ist.
Mit dem Dekret 871, das Evo Morales am 1. Mai unterzeichnet hat, wird nun eine Kommission aus RegierungsvertreterInnen und FunktionärInnen des COB das „verfluchte Dekret“ abschaffen. Im Detail heißt das, dass diese Kommission Gesetze revidieren soll, „die den Konzepten und dem Geist des Dekrets 21060 entsprechen“, wie es im Artikel 2 des Dekrets 871 steht. Vor allem wird es bei dieser Revision wohl um das „Gesetz über Investitionen“, das „Gesetz über Ausfuhren“, das „Gesetz über Forstbetriebe“, den „Minen-Code“ und das „Gesetz über Banken und andere Finanzinstitutionen“ gehen.
Gegenüber der Zeitung El Deber aus der Oppositionshochburg Santa Cruz de la Sierra , äußerte der Ökonom José Luis Parada aber Zweifel, ob sich das Dekret so leicht aus der Welt schaffen lasse. Der Ökonom und Forscher José Luis Helva sagte dagegen derselben Zeitung, dass die Abschaffung des Dekrets 21060 eher ein symbolischer Akt sei, da die Gesetze des Marktes kaum tangiert würden.
Die Annäherung an die COB, die die am symbolträchtigen Tag der ArbeiterInnen getroffene Entscheidung bedeutet, kommt nicht von ungefähr. Die letzten Monate waren von regierungskritischen Demonstrationen geprägt.
Evo Morales die Methoden zu spüren, die er als Gewerkschaftsführer noch selbst angwandt hatte. Seit Februar gab es in allen Städten des Landes zahlreiche Proteste. Mancherorts wurden sogar die staatlichen Versorgungszentren geplündert und Straßen blockiert. Für über eine Woche lag der gesamte Verkehr zwischen den östlichen Departements Santa Cruz und Beni komplett danieder. Auf einigen Demonstrationen, insbesondere in La Paz am 14. April, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen DemonstrantInnen und Sicherheitskräften.
Ein großer Teil der Proteste wurde von den ArbeiterInnen des COB initiiert. Aber auch die SammeltaxifahrerInnen streikten bisweilen. Studierende schlossen sich den Demonstrationen ebenfalls an – auch wegen einer Gesetzesnovelle, welche die Autonomie der Universitäten einschränken soll. Das Böllergeknalle, das zu jeder normalen bolivianischen Demonstration gehört, war in den letzten Monaten in den größeren Städten allgegenwärtig.
Zentraler Streitpunkt waren die Löhne: Die Regierung wollte den Angestellten des Staates nur zehn Prozent Lohnerhöhung zugestehen, die COB verlangte 15 Prozent. Ende April endeten die Mobilisierungen der COB vorerst, als sich die Regierung auf mindestens elf Prozent Lohnerhöhung einließ.
Ein Grund für die Härte, mit der der Arbeitskampf geführt wurde, liegt in der Inflation, die Bolivien im Moment durchlebt. Für den gesamten Warenkorb liegt sie bei circa neun Prozent, weshalb die Regierung zehn Prozent Lohnerhöhung für angemessen betrachtete. Allerdings liegt sie bei bestimmten Produkten wesentlich höher. Insbesondere der Preis von Zucker ist um mehrere hundert Prozent angestiegen.
Diese hohe Inflation, gerade für Güter des alltäglichen Konsums, ist Folge des „gasolinazo“, des kurzzeitigen Preisanstiegs für Treibstoffe im Dezember 2010. Damals beendete Präsident Evo Morales auf einen Schlag alle Subventionen auf Treibstoffe, was die Preise explodieren ließ (siehe LN 440). Auch wenn Morales das Dekret nach einer Woche massiver Proteste wieder zurücknahm, stiegen die Lebensmittelpreise. ÖkonomInnen führen das auf die Unsicherheit zurück: Über kurz oder lang werden die Treibstoffsubventionen zurückgenommen, allerdings ist unklar wann und in welcher Form.
All diese Erfahrungen der letzten Monate ließ den Rückhalt der Regierung bei der traditionellen Basis stark schwinden. Auch andere Entscheidungen, etwa die Amtsenthebung von Mario Cossio, früher Gouverneur des Departments Tarija und potenzieller Präsidentschaftskandidat der Opposition, haben viel Befremden hervorgerufen. Cossio, mittlerweile im paraguayischen Exil, wurde Korruption vorgeworfen. Doch viele BolivianerInnen, auch solche, die der Regierung eher positiv eingestellt sind, sahen in der Amtsenthebung den Versuch, einen Konkurrenten auszuschalten. Selbst wenn sich die Korruptionsvorwürfe erhärten sollten, war das Vorgehen gegen Cossio kein geschickter Akt.
Angesichts all dieser Probleme kann die Regierung etwas Zuspruch von der COB gut gebrauchen. Die Abschaffung des „verfluchten Dekrets“ bietet die Gelegenheit, sich ein paar Streicheleinheiten bei der Basis abzuholen.

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