Film | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

Kleine Geschichten vom Glück

Der Film Historias Mínimas erzählt von der „Unsicherheit unserer Träume“

Irgendwo in Patagonien liegt der Ort namens Fitz Roy. Von dort aus brechen Don Carlos, Roberto und Maria auf. Jeder für sich, obwohl alle drei das gleiche Ziel haben: das 300 Kilometer entfernte San Julián.

Judith Oberschäfer

Don Justo ist 80 Jahre alt. Einst war er Inhaber des kleinen Geschäftes an der Fernstraße in Fitz Roy. Mittlerweile führt es sein Sohn und dessen Frau. Don Justo wird von ihnen als alter Mann geduldet und abgestempelt. Tag für Tag sitzt er Mate schlürfend auf einer Bank vor dem Haus und begrüßt die alt bekannten und seltenen Kunden. Hin und wieder bringt er Kinder zum Lachen, indem er gewaltig mit seinen großen grauen Ohren wackelt. Unerwartet wird die stoische Ruhe des alten Mannes gestört, als ihm ein Altbekannter erzählt, er habe bei seiner Fahrt durch San Julián Don Justos entlaufenen Hund Malacara gesehen. Obwohl sein Sohn der Meinung ist, Don Justo könne nicht mal mehr alleine zur Toilette gehen, sieht er das selbst völlig anders und beschließt, sich auf den Weg zu machen. In der Nacht stielt er sich klammheimlich aus dem Haus und vergißt dabei nicht, für alle Fälle noch einen Reservepeso zu stibitzen.
Roberto, vierzigjährig und dynamisch, ist ein Handelsreisender. Er vertritt enthusiastisch seit noch nicht allzu langer Zeit ein Produkt, mit dem man je nach Kaufbereitschaft entweder fünf Kilo in zwei Wochen, oder sieben Kilo in einer Woche abnehmen kann. Kennzeichnend sind führ Roberto Flexibilität und Improvisationstalent in jeder Lebenssituation. In San Julián lebt eine charmante junge Witwe, die er um alles in der Welt für sich gewinnen will. Um sie zu beeindrucken hat er sich unerwartet das Geburtsdatum ihres Sohnes René gemerkt und extra für ihn eine Geburtstagstorte in Form eines Fußballs anfertigen lassen. Unterwegs in den endlosen Weiten Patagoniens überkommen Roberto plötzlich weltbewegende Zweifel. Handelt es sich bei dem Kind seiner Erträumten wirklich um einen Sohn, oder könnte René vielleicht auch ein Mädchen sein?
Maria ist Mitte zwanzig, schüchtern und lebt mit ihrem Baby in sehr bescheidenen Verhältnissen. Begeistert nimmt sie an verschiedenen TV-Gewinnspielen teil. So passiert es, dass ihre Freundin vor der Tür steht und ihr aufgeregt mitteilt, dass Maria für die Teilnahme an einer Quizshow ausgelost wurde. Der Hauptgewinn ist eine multifunktionale Küchenmaschine. Maria weiß nicht genau was das ist, aber sie will es haben. Obwohl sie mit ihrem Baby zu Hause auf ihren Mann warten muss, beschließt Maria dennoch, wenigstens für einen Tag nach San Julián zu reisen und an der Show teilzunehmen. Ihre Vorstellungen sind ungerichtet aber vielversprechend.

Goldene Gräser

Der Film ist voll von warmem Fingerspitzengefühl und Liebe zum Detail. Neben den Hauptpersonen kommen den anderen Schauspielern ganz eigene, runde Rollen zu. So zum Beispiel der Molekularbiologin, die Don Justo auf seiner ersten Etappe nach dem ersehnten San Julián begleitet und der endlos gutherzige Don Fermin, dem das Glück des alten Mannes beinahe 50 Peso wert gewesen wäre. Oder die Serie von verschiedensten mehr oder weniger künstlerisch begabten Bäckern, denen Roberto auf seiner Reise begegnet. Die Geschwindigkeit des Films entspricht etwa der Geschwindigkeit des patagonischen Windes, der über die goldenen Gräser streicht und hier oder da in gewissen Abständen regelmäßig Staub aufwirbelt.
Der Film ist zeitlos, weil er an kein spezielles Ereignis anknüpft. Allerdings spielt die Zeit im Leben der einzelnen Darsteller eine wesentliche Rolle. Maria steht unter Druck, sie muss pünktlich zurück, der alte Mann hat nicht mehr viel Zeit in seinem Leben und für Roberto verlängert sich die Zeit, weil er weiterhin auf seine Traumfrau wartet.

Maßgefertigte Rollen für viel Authentizität

Roberto und Carlos, der Sohn von Don Justo sind die einzigen professionellen Schauspieler in diesem Film. Alle anderen wurden von Carlos Sorin nur und extra für diesen Film vor die Kamera geführt. „Es ist völlig egal, ob Marlon Brando oder irgend ein Typ von der Straße in einem Film mitspielt, genauso wenig ist die Arbeitsmethode entscheidend; worum es geht, ist diesen winzigen Moment von Authentizität einzufangen. Und, ehrlich gesagt, glaube ich, dieses Mal ist mir das gelungen.“
Carlos Sorin ist als Filmemacher in der Werbebranche groß geworden. Leider erscheinen aus diesem Bereich in Historias Mínimas einige Elemente in Form blinkender Markensymbole. Regisseur Carlos Sorin und Drehbuchautor Pablo Solarz zeigten, ähnlich wie die DarstellerInnen, bei den Dreharbeiten Spontanität und Improvisationstalent. Nach den Castings der LaiendarstellerInnen schnitten beide zusammen das Drehbuch speziell auf die vermeintlichen Spieler zu, bis Charakter und Rolle möglichst eins wurden.

Drei Charaktere – ein Ziel

Carlos Sorin und Pablo Solarz erzählen in Historias Mínimas von der „Unsicherheit unserer Träume“. Maria, Roberto und Don Justo schießen allesamt an ihren visierten Zielen vorbei. Allerdings sind die Unterschiede zwischen Vorstellungen und Erreichtem feine, und sogar positiver Art. Schließlich ist es zu einem großen Teil, mal mehr, mal weniger, der Weg, auf dem sich das Leben abspielt, und was letztendlich zum Glück führt. An dieser Stelle fügen sich die Rollen der verschiedenen und bis hierher unabhängigen Charaktere zusammen. Getrieben von ihren Illusionen und Träumen folgt jeder seinem Stern, dieses Mal leuchten sie zufällig alle über San Julián in Patagonien. Der Schein ist jedoch in keiner Weise auf San Julián beschränkt, ja noch nicht einmal auf Patagonien. Das Glück lebt in der Illusion und dem Glauben daran. Immer und überall.

Historias Mínimas; Regie: Carlos Sorin, Drehbuch: Pablo Solarz; Argentinien 2002, Farbe, 94 Minuten.

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