Film | Nummer 274 - April 1997

“Kleine Rache an Collor”

“Doces poderes” ist für die Regisseurin

In ihrem Film setzt sich die Regisseurin Lúcia Murat mit der politischen und me­dia­len Wirklichkeit in ihrer Heimat auseinander. Viele eigene Erfahrungen – beruf­liche wie zwischenmenschliche – hat die engagierte Filmemacherin in diesem Film ver­ar­bei­tet. Damit setzt sie die Tradition ihres ersten Spielfilms “Que bom te ver viva” (“Wie schön, Dich lebend wiederzusehen”) fort, in dem sie sich mit Folter und Gewalt ge­gen Frauen auseinandersetzt. Dreieinhalb Jahre saß sie im Gefängnis, wurde ge­fol­tert und geschlagen, weil sie während der Militärdiktatur eine Guerilla-Gruppe ge­leitet und drei Jahre im Untergrund gelebt hatte. Nach ihrer Entlassung Ende 1974 arbeitete sie als Journalistin bei Zeitungen in Rio, lange Zeit schrieb sie unter Pseu­donym. Zwei Jahre später begann sie, Filme zu machen und für das Fernsehen zu arbeiten. 1978 drehte sie einen Film über die Somoza-Diktatur in Ni­caragua.

Jens Holst

Wie entstand die Idee, diesen Film zu machen?

Dieser Film ist aufgrund einer sehr persönlichen Erfahrung ent­stan­den. Die Idee ist eigentlich schon aus dem Jahr 1990, als die­ser Film sehr angebracht war. In jener Zeit fanden die ersten Prä­sidentschaftswahlen statt, und zwar zwischen Collor und Lula, wo ein richtig schmutziges Spiel ge­trieben wurde. Und es waren prak­tisch die ersten Wahlen in Bra­silien, die sich in eine Mar­ke­ting-Kampagne verwandelten. Als ich nach Brasilien zurück­kehrte, wa­ren alle meine Freunde in Wahl­kam­pagnen engagiert. Das war für mich ein regelrechter Schock, ei­ne totale Überraschung. Und schon da­mals habe ich diesen Film erlebt und hatte ihn im we­sent­lichen auch schon entworfen und struk­turiert.

In welchen politischen Kam­pag­nen steckten denn die mei­sten Ihrer Freunde?

Als ich zurückkehrte, war die Prä­sidentschaftswahl zwischen Col­lor und Lula schon gelaufen, mei­ne Journalistenfreunde mach­ten Wahlkampf für ver­schiedene Gou­verneurskandida­ten. Ich glau­be, damals war in Brasilien das allgemein vorherr­schende Ge­fühl, daß die Utopien vorbei und jegliche revolutio­nären Per­spek­tiven verloren ge­gangen wa­ren. Hinzu kamen die Wirt­schafts­krise und natürlich auch die Wirklichkeit unter der Prä­si­dent­schaft von Collor. All das brachte die Leute zu der Über­zeu­gung, daß es sich ja doch nicht mehr lohne. Sie fin­gen an, ihre eigenen Grenzen zu über­schrei­ten und Dinge zu tun, für die sie sich früher nie herge­ge­ben hätten.

Dieser Film enthält also si­cher­lich auch viele autobiogra­phi­sche Elemente. Wieviel da­von steckt hinter der Hauptper­son, der Fernsehjournalistin Bia, die zur Programmdirekto­rin aufsteigt?

Es ist immer sehr angenehm, in dem Bereich zu arbeiten, wo man sich auskennt, den man im wahr­sten Sinne des Wortes be­herrscht. Und ich kenne die Dia­loge, die Welt der Schau­spieler, die technischen und pro­fes­sio­nel­len Details beim Fernsehen. Da­durch hatte ich die Situation voll unter Kontrolle. Aber der Film selber ist eine reine Fiktion. Ich erzähle Ihnen das als je­mand, die selber Chefredakteurin bei einer Zei­tung war und aus wirt­schaftli­chen, nicht so sehr aus wirklich politischen Gründen im An­schluß an einen Streik ent­las­sen wurde.

Sie haben an etlichen Stellen des Films eine typische Fernseh­äs­thetik eingesetzt in Form der Video-Clips und vor al­lem der typischen Wahl­kampf­spots von politischen Kan­didaten.

Wir haben eine Mischung zwi­schen dokumentarischen und fik­tiven Anteilen versucht, denn das ist manchmal besser als ein rein fiktiver Film. Für mich war das vor allem in der Endphase aus­gesprochen interessant. Erst woll­ten wir ein Komödie drehen, dann wurde es mehr ein Thriller, dann kommt ein neues Thema hin­zu und man fängt an, mit den ver­schiedenen Stilen zu spielen.

Wie haben das Publikum und die PolitikerInnen in Brasilien auf den Film rea­giert?

In den Universitäten gab es etli­che Diskussions­veranstal­tun­gen da­rü­ber. Die Polit-Szene rea­gier­te eher besorgt auf den Film. Aber es gab auch sehr positives Echo, zum Beispiel bei den Jour­na­listen in Brasília. Im­mer gab es im Anschluß an den Film Dis­kus­sionen. Viele Leute sind von dem Film wirklich be­eindruckt, weil er sehr wahr­heitsgetreu ist. Das darf aber nicht darüber hin­weg­täuschen, daß es im­mer ein schwieriger Film ge­blie­ben ist. Denn viele Men­schen in Brasi­lien wollen sich einfach nicht mehr mit politi­schen Fra­gen auseinandersetzen. Und der Film wendet sich gegen diese Ent­politisierungstendenz.

Kann dieser Film zu Verän­de­run­gen in Brasilien beitra­gen?

Nein, ich glaube nicht, daß er die Kraft dazu hat. Wir haben uns zum Schluß überstürzt, um den Film noch vor den Wahlen her­auszubringen, wir waren be­sorgt über die Reaktion der Me­dien. Der Film wurde zwar recht gut aufgenommen, an den Wah­len hat er aber nichts geändert, die Dinge gehen so weiter wie vor­her. Und das hat sich gerade wie­der in Sao Paulo gezeigt, wo ein Bürgermeisterkandidat auf­ge­baut wurde, der de facto ein Rech­ter war. Er war eine großar­ti­ge Schöpfung der paulistischen Rech­ten und siegte allein dank ei­nes absurden, aufgebauschten Mar­ketings.

Wie teuer war der Film und wie ist er finanziert worden?

Er war sehr preiswert, er ko­ste­te nur 15.000 Dollar, sogar ein biß­chen weniger. Im Unterschied zu vielen anderen Filmen haben wir nicht alles importiert, so daß die Filmarbeit in Brasilien ziem­lich billig war. Und praktisch alle Schauspieler haben für einen sym­bolischen Betrag mitge­macht.

Kann der Film das Geld in Bra­silien wieder einspielen?

Nein. Denn das ist sehr schwie­rig in Brasilien, der Markt ist klein, und die Leute haben grö­ßere Sorgen als den Inhalt die­ses Films. Wir müssen unse­ren Markt erst wieder erobern.

Welchen Marktanteil kann ein derartiger Film überhaupt be­setzen?

Einen sehr kleinen, der sich auf die großen Städte beschränkt, wo es für ein bestimmtes, euro­pä­ischeres Publikum zwei oder drei Kinos gibt, wo solche Filme lau­fen. Er ist in Rio und in Sao Pau­lo jeweils nur in einem Kino ge­laufen. Es wurde zwar lange da­für Werbung gemacht, aber er lief nur in einem einzigen Kino ei­ner alternativen Gruppe, die ei­ne sehr gute Arbeit machen. Für zwei Wochen wurde er in Rio noch in einem anderen Kino ge­zeigt, aber ansonsten ist das ein Prob­lem der Zeit. In den an­deren Städ­ten des Landes läuft er mal für ein oder zwei Tage, und in die abgelegeneren Gebiete kommt er nie. Zumindest nicht in die Kinos, nur als Video. Es wur­de viel über unseren Film ge­spro­chen, und wir glauben, daß er gut als Videoversion ge­eignet ist. Wir haben die Hoff­nung, da­rü­ber an mehr heranzu­kommen, und zwar nicht so sehr an Geld wie an ein größeres Pu­blikum.

Wie schät­zen Sie die Lage des brasiliani­schen Kinos derzeit ein?

Es war niemand anderes als Fer­nando Collor, an dem sich mein Film ja auch ein bißchen rächt, der in seiner vierjährigen Amts­zeit mit dem brasiliani­schen Kino aufgeräumt hat. Denn bis dahin lebten die brasi­lia­nischen FilmemacherInnen von der Finanzierung durch die öf­fentliche Filmgesellschaft Em­bra­film, die alle Produktionen ver­trieb. Erst nach langen Aus­ein­andersetzungen konnten wir an­dere Finanzierungsmöglich­kei­ten auftun. Trotz aller Schwie­rigkeiten haben wir wie­der angefangen, Filme zu ma­chen. Aber wir hängen nach der neuen Gesetzgebung von der Pri­vat­wirtschaft ab. Letzt­lich glaube ich nicht, daß das brasilianische Kino ohne Un­ter­stützung des Staates überleben kann.

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