Bolivien | Nummer 360 - Juni 2004

„Koka als normales Handelsgut“

Interview mit dem bolivianischen Ex-Gesundheitsminister und Kokaexperten Mario Argandoña

An kaum einer der Konfliktlinien in Bolivien stehen sich die Fronten so unvereinbar gegenüber wie im Falle des Koka-Problems: Auf der einen Seite die USA, die mit ihrer harten „Null Koka“-Linie und der Militarisierung des Landes einen Krieg niederer Intensität vorantreiben, auf der anderen Seite die sozialen Bewegungen, von denen zumindest ein Teil auch den sofortigen Stopp der brutalen Vernichtung der Kokaplantagen fordern. Die Lateinamerika Nachrichten befragten Mario Argandoña, der als Experte an der mesa coca, dem runden Tisch zur Lösung des Koka Konflikts unter der Regierung Sánchez de Lozada beteiligt war, zur Kokaproblematik in Bolivien und den nationalen und internationalen Perspektiven.

Simón Ramírez Voltaire

Warum ist der Anbau der Koka, einer traditionell genutzten Pflanze in Bolivien, zu einem Problem für das Land geworden?

Mit dem Scheitern der Prohibition in den USA in den 1920er Jahren hat der puritanische Fundamentalismus einen riesigen bürokratischen Polizei-Apparat aufgebaut, um verschiedene Substanzen zu bekämpfen, die Menschen teilweise schon seit mehr als tausend Jahren konsumiert haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg leiteten die USA den globalen Anti-Drogen-Kampf ein und propagierten die Rettung der Menschheit durch Strenge und Enthaltsamkeit.
1961 wurde die Einheitliche Konvention über Betäubungsmittel der UNO verabschiedet, die später von den Regierungen nahezu aller Mitgliedstaaten, auch der bolivianischen, ratifiziert und bestätigt wurde. Diese Konvention enthielt auch das absolute Verbot des Anbaus und der Nutzung der Koka-Pflanze. Zusätzlich wurde festgelegt, dass das „Kauen des Koka-Blattes 25 Jahre lang verboten bleibt“. Die Tradition des Kokakauens sowie die Verwendung der Kokablätter in sakralen Bräuchen ist jedoch fester Bestandteil der andinen Kultur, und das seit etwa 5000 Jahren. Die nationalen Gesetzgebungen Boliviens und Perus akzeptieren den traditionellen Gebrauch der Koka und fordern die Revision der entsprechenden Konventionen, was regelmäßig Gegenstand großer Polemiken innerhalb der UNO ist.
Mittlerweile jedoch führen die USA und die Regierungen der Andenstaaten einen regelrechten „Krieg gegen die Drogen“, in dem sie Menschenrechte ignorieren mit der Begründung, die Welt von der „Geißel der Drogenabhängigkeit“ zu befreien. Das heißt konkret: mit dieser Politik trachtet man danach, die staatliche Gewalt gegen die sozialen Bewegungen der indígenas und der Kleinbauern zu legitimieren. Mit der „Null Koka“-Doktrin, die von den USA befohlen und von der bolivianischen Armee umgesetzt wird, hat sich die Gewalt weiter verschärft, was bisher mehr als hundert Kokaproduzenten das Leben gekostet hat.

Wie sieht die derzeitige rechtliche Regelung in Bolivien aus?

Das Gesetz zur „Regelung der Koka und anderer kontrollierter Substanzen“ aus dem Jahre 1988 erlaubt den traditionellen Gebrauch der Koka-Blätter und sieht Gebiete in den Yungas von La Paz vor, in denen auf 12.000 Hektar der Anbau völlig legal ist. Eine zweite Zone um Cochabamba, wird als „überflüssig“ bezeichnet. Das heißt, hier soll der Koka-Anbau nach und nach durch alternative Produkte ersetzt werden, ohne Gewaltanwendung und mit tels internationaler finanzieller Unterstützung. Dadurch soll das Überleben der Kleinbauern gesichert werden, deren Haupteinnahmequelle bisher der traditionelle Koka-Anbau ist. Der Anbau von Koka im übrigen nationalen Territorium ist illegal und soll durch Anwendung von Gewalt unterbunden werden.

Welche Folgen hat die Militarisierung und der Gebrauch von Herbiziden zur Vernichtung der Plantagen?

Die Anwendung von militärischer Gewalt zwecks Auslöschung der Kokaplantagen tötet die Kleinbauern, verhindert ihre tägliche Arbeit und verbreitet Angst und Terror unter den Landwirten. Die minimalen finanziellen und menschlichen Ressourcen Boliviens werden verschwendet: Im Anbaugebiet Cochabambas sind zur „Drogenbekämpfung“ circa 1.500 Polizisten und circa 4.000 Soldaten im ständigen Einsatz gegen die Kleinbauern, die bei der Verteidigung ihrer Pflanzungen verhaftet oder auch erschossen werden.
In Kolumbien hat das Versprühen des Pflanzengifts „Glifosato“ genetische Veränderungen bei Menschen und Tieren, sowie Haut-, Verdauungs- und Blutkrankheiten verursacht. Es tötet die Haustiere, vernichtet die Lebensmittelkulturen wie Yucca, Mais, Bananen, zerstört das Waldgebiet und vergiftet Boden und Wasser. Damit wird die Artenvielfalt und das ökologische Gleichgewicht einer der größten ökologischen Reserven der Erde gefährdet. Besonders paradox ist, dass die von der internationalen Hilfe finanzierten alternativen Kulturen ebenfalls zerstört werden.

Welche Forderungen stellen die Kokabauern, um diese Probleme zu lösen?

Vor allem ein Ende der Zwangsvernichtung der Kokaplantagen und der Militärpräsenz. Des Weiteren eine neutrale Marktforschung über die tatsächlich existierende Nachfrage nach Kokablättern sowohl für den traditionellen Gebrauch als auch für den Export der Pflanzen für die Naturmedizin. Wir müssen eine Übereinkunft erzielen, um die Legalisierung der Produktion auf 800 bis 1.600 Quadratmeter pro Familie zur Sicherung des Lebensunterhalts und der Ausbildung der Kinder zu ermöglichen. Mit einer Fläche von 1.600 Quadratmetern lassen sich jährlich zwischen 1.000 und 2.000 Bolivianos, also 170 bis 340 US-Dollar, erwirtschaften. Als Gegenleistung würden die Bauern sich verpflichten, durch strikte Kontrollen die Einfuhr der chemischen Zusatzstoffe, die zur Herstellung von Kokain benötigt würden, zu unterbinden. Außerdem wollen sie darüber wachen, dass keine Familie mehr als die vereinbarte Fläche bebauen kann.

Nach dem “Gas-Krieg” haben bolivianische Intellektuelle eine Unterschriftenaktion zur Lösung des Kokaproblems durchgeführt. Welche Perspektiven wurden dadurch international eröffnet ?

Zur Verteidigung der Menschenrechte in Bolivien und um die verstärkte Aufmerksamkeit auf internationaler Ebene zu mobilisieren, ist das Engagement der Intellektuellen aus Europa und den USA unerlässlich. Dabei geht es um die geforderte Revision der UN-Konvention, besonders um die des Jahres 1961. Ein weiterer Aspekt, der auch in Deutschland stärkere Beachtung finden sollte, ist die Tatsache, dass die Industrieländer des Nordens eine Kontrolle der Zusatzstoffe, ohne die eine Herstellung von Kokain gar nicht möglich ist, verweigern. Diese Zusatzstoffe werden in den USA, Europa und Japan hergestellt und sorgen für gute Profite beim Verkauf an Bolivien.

Welche Vorschläge haben Sie zur Lösung der Probleme sowohl auf nationalem als auch auf internationalem Niveau? Wie sollte der Antidrogen-Kampf weitergeführt werden?

Die Bewegung der Kokabauern braucht die weltweite Entkriminalisierung des Anbaus und Handels von Kokablättern. Ziel ist es, die Kokablätter als normales Handelsgut, in Form von Tee, Kaugummi, Zahnpasta und so weiter, exportieren zu können. Das Wichtigste wäre, sofort die Konfrontation zwischen Regierung und Kleinbauern zu beenden, um einen friedlichen Dialog zu ermöglichen. Nur so kann etwas gegen die Morde und nicht zuletzt gegen die rassistische Verfolgung der Quechuas und Aymaras getan werden. Der Antidrogen-Kampf ist kein spezifisches Bolivien-Thema, sondern wurde vor allem von den USA etabliert. Trotzdem sollte man die Initiative zur Kontrolle des Handels von Zusatzstoffen unterstützen und die Geldwäsche und andere Aspekte der Drogenindustrie bekämpfen.
Simón Ramírez Voltaire

Übersetzung: Nobert Ahrens und Elfriede Boirel

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