Argentinien | Nummer 433/434 - Juli/August 2010

Kollektive Ignoranz

Tendenziöse Geschichtsschreibung zur Argentinischen 200-Jahrfeier

Im Mai dieses Jahres feierte Argentinien den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Der Bicentenario bot reichlich Anlass für kollektive Erinnerungsarbeit: Das Land wurde von Kulturangeboten mit historischem Schwerpunkt überschwemmt. Am 25. und 26. Mai gab es sogar zwei neue Feiertage sowie einen großen Festakt auf Buenos Aires‘ zentraler Straße des 9. Juli. In dem extra eingerichteten Museum Casa del Bicentenario werden 200 Jahre argentinische Geschichte in einem 20-minütigen Videoclip erzählt. Die verkürzte Erzählung der kollektiven Vergangenheit verstört bisweilen. Dass die indigenen BewohnerInnen, die das Land bereits vor der Kolonisierung bewohnten, überhaupt nicht vorkommen, ist hingegen bezeichnend für die offizielle nationale Identitätsbildung Argentiniens.

Friederike Rüll

Die Farben des Regenbogens tauchten den zentralen Platz vor dem Kongress in Buenos Aires in buntes Licht. Indigene Organisationen hatten ihn am vergangenen 25. Mai mit ihren wiphalas, den traditionellen siebenfarbigen Fahnen, in Beschlag genommen, um mit ihrer Veranstaltungsreihe El otro Bicentenario (Die andere Zweihunterjahrfeier) daran zu erinnern, dass Argentinien nicht nur ein Einwandererland ist.
Un país con espacio para todos (Ein Land mit Platz für alle) war hingegen das Motto der ofiziellen Feiern zum argentinischen Bicentenario, bei dem mit großem Aufwand an den 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Argentiniens von Spanien gedacht werden sollte. Die Geschichte der Indigenen, von denen es heute in Argentinien nur noch wenige gibt, hatte darin keinen Platz.
Die fast komplette Auslöschung der indigenen Bevölkerung wird im öffentlichen Geschichtsdiskurs Argentiniens kaum erwähnt. Stattdessen werden „Helden”, wie der ehemalige Kriegsminister Julio Argentino Roca gefeiert. Unter dessen Führung waren in einem Vernichtungskrieg gegen die argentinische Urbevölkerung, der sogenannten Wüstenkampagne, tausende Indigene ermordet worden. Aufgrund seiner „militärischen Erfolge” wurde Roca 1880 Präsident Argentiniens.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten in den riesigen Gebieten Patagoniens und der Pampa, die von den weißen SiedlerInnen kurz nach der Unabhängigkeit Argentiniens noch kaum erschlossen waren, zahlreiche indigene Gruppen. Doch der damalige Präsident Juan Martín de Pueyrredón hatte beschlossen, die Wirtschaft Argentiniens durch intensive Fleisch- und Agrarproduktion für den Export voranzubringen. Und dafür brauchte er Land.
Pueyrredón sah die Indigenen als „Besetzer” von nationalem Boden, den es „zurück” zu erobern galt. So schickte er hunderte Soldaten gegen die Indigenen ins Feld. Auch 1.000 Indigene, die vorher gefangen genommen worden waren, wurden zu der Teilnahme an dem Feldzug gezwungen. Zusätzlich warb Pueyrredón Söldner aus Europa an. Unter ihnen war auch der junge Leutnant Friedrich Rauch aus Baden, der 1818 nach Argentinien kam und dort schnell Karriere machte. Bereits drei Jahre später war er um drei Ränge zum Major aufgestiegen, und nach einem aus Sicht der Eroberer glorreichen Sieg gegen die Indigenen 1827 wurde der „Schrecken der Wüste” als Held gefeiert. Dass er zwei Jahre darauf bei einem Scharmützel von dem Mapuche Arbolito („Kleiner Baum”) getötet wurde, vergrößerte nur den Mythos um ihn.
Der Historiker Jorge Charata schrieb damals, die Indigenen seien Räuber des Landes gewesen, das sie bewohnten. Zu ihrer Auslöschung gebe es keine Alternative, da sie nur nach einer sehr langen Evolution produktiv sein könnten. Das könne die Regierung nicht abwarten ohne Gefahr zu laufen, ökonomisch zu verarmen, so Charata weiter. Die Wissenschaftskommission Argentiniens erklärte 1881, bei den Indigenen handele es sich um eine „junge, (…) sterile Rasse”, die die fruchtbare Erde nicht angemessen nutzen könne, dafür sei eine „intellektuelle Überlegenheit” nötig. Sie müsse deshalb um jeden Preis und restlos ausgelöscht werden.
Allein in den Feldzügen zwischen Juli 1878 und Januar 1879 gab es insgesamt 26 Militäroperationen gegen Indigene, die von 6.000 modern bewaffneten Soldaten durchgeführt wurden. Die dort ansässigen indigenen Gruppen verloren 550.000 Quadratkilometer Land; 1.314 ihrer Krieger und sechs ihrer Anführer starben. Zudem wurden rund 11.000 Männer und Frauen gefangen genommen und nach Geschlecht getrennt. Die Männer wurden auf die Insel Choele Choel gebracht, wo sie später starben. Die Frauen mussten in Buenos Aires als Hausangestellte arbeiten. Viele Angehörige der Ethnie der Mapuche flüchteten über die Grenze nach Chile. Nur wenige Gruppen, angesiedelt in abgelegenen Regionen Patagoniens oder der nördlichen Berge, überlebten den Vernichtungsfeldzug. Im Kompendium Die Geschichte Argentiniens heißt es dazu: „Sie hatten nur drei Alternativen: Sich zu ergeben, zu fliehen oder zu sterben.”
Eines der wichtigsten Ziele der Feldzüge gegen die Indigenen wurde schnell erreicht: Noch in Julio Rocas erster Amtsperiode als Präsident wuchs der Außenhandel Argentiniens in nie gekanntem Ausmaß. Der Wohlstand im Land stieg an, zahlreiche Projekte zur Erweiterung der Infrastruktur wurden umgesetzt. Argentinien zählte zeitweise zu einem der reichsten Länder der Erde, Buenos Aires wurde zu einer modernen Weltmetropole. Außerdem wurde durch die Vertreibung der indigenen Bevölkerung Land für neue EinwanderInnen frei gesetzt. Allein zwischen 1880 und 1886 immigrierten fast eine halbe Million Menschen nach Argentinien. Juan José Cresto, der frühere Direktor des Nationalen Historischen Museums und Präsident der Academia Argentina schrieb dazu, dass das gesamte Gebiet der Pampa schon vor den Feldzügen in Parzellen zu 10.000 Hektar aufgeteilt worden war, die für 400 Silberpesos pro Landtitel verkauft wurden. Damit wurde das Fundament für den Großgrundbesitz im Land gelegt, auf dem viele Familien bis heute ihren Wohlstand aufbauen. Es war Platz für alle, die das nötige Kleingeld mitbrachten.
Heute hat Argentinien mit unter zwei Prozent den zweitniedrigsten Anteil an indigener Bevölkerung in Südamerika, nur Uruguay hat weniger. Nach den Gründen dafür fragen die NachfahrInnen der damaligen ImmigrantInnen heute kaum. Das wiederum liegt unter anderem an der Art und Weise, wie nationale Geschichte in Argentinien überliefert wird. Im Eingangsbereich des Historischen Museums in Buenos Aires hängen drei riesige Bilder, die die Schlachten während der Wüstenkampagne illustrieren – aus Sicht der Sieger, versteht sich. Ein Wand füllendes Gemälde mit dem Titel Militärische Besetzung der Provinz Río Negro – 1879 von Juan Manuel Blanes zeigt eine Gruppe von Feldherren auf Pferden, mit Roca im Zentrum. Rechts von ihm ist, ebenfalls zu Pferd, eine Gruppe von Wissenschaftlern zu sehen. Die meisten von ihnen sind Deutsche. Die Forscher begleiteten das Heer, um die von Weißen noch unerschlossenen Gebiete zu dokumentieren. Links neben den Reitern zeigt das Gemälde eine Gruppe von Indigenen zu Fuß. Die Informationstafel des Bildes nennt „die Eroberung des Río Negro, die zugleich die Eroberung von leerem Raum war” ein „historisches Paradigma”. Sie habe den „Triumph der Zivilisation über die Barbarei” erreicht, welche auf dem Bild „durch die Indios repräsentiert” sei. Das Gemälde sei zur Erinnerung an Rocas Sieg von ihm selbst in Auftrag gegeben und in das Historische Museum gebracht worden, an dessen Gründung er als Präsident beteiligt war. Die Namen der Dargestellten sind auf einer Tafel gewissenhaft dokumentiert – außer die der Indigenen.
Auf die Frage, warum man für die Eroberung von „leerem Raum” ein Heer braucht, lieferte Museumsdirektor Cresto eigenwillige Antworten. In seiner Logik war die Wüste tatsächlich menschenleer – jedenfalls zum Zeitpunkt der Ankunft Kolumbus’ in Südamerika. Erst im 18. Jahrhundert seien Indigene in die Gebiete eingezogen, die Roca kurz darauf eroberte. „El desierto”, ein Begriff, der auch „menschenleere Wüste” heißt, sei vollständig leer und unbewohnt gewesen, so Cresto. Zudem hätten die Eroberer den Indigenen ihre Kultur zugänglich gemacht und ihnen folglich langfristig einen Gefallen getan. „Für den Neanderthaler sind die modernen Menschen ja auch keine gewaltsamen Eroberer” schrieb Cresto in einem Artikel in der Tageszeitung La Nación vom November 2004 – und meint das noch nicht einmal polemisch.
Der Artikel löste unter HistorikerInnen und Indigenenverbänden eine hitzige Debatte aus. Linke HistorikerInnen kritisierten, die „Wüste” sei keineswegs unbewohnt gewesen – warum hätten die Indigenen auch unter Einsatz ihres Lebens Gebiete verteidigen sollen, die sie weder bewohnten noch wirtschaftlich nutzten? Zudem wurde Cresto dafür kritisiert, dass er die Existenz von Indigenen in Argentinien leugnete: „Sie sind keine Indigenen, sondern Argentinier wie alle anderen auch, ohne besondere Rechte.”
Der große Kontrahent Crestos in diesem Geschichtsstreit ist der Historiker und Journalist Osvaldo Bayer. In seiner Lesart der Geschichte hat Julio Roca einen Genozid begangen. Das Weltbild von HistorikerInnen wie Crespo, die Roca blind verteidigen, ist für ihn geprägt von maßloser kultureller Arroganz. Sein öffentlich vorgetragener Vorschlag, die nach Leutnant Friedrich Rauch benannte Stadt Rauch in der Provinz Buenos Aires in „Arbolito“ umzubenennen und damit den Kaziken zu würdigen, der den badischen General damals tötete, brachte Bayer 1963 für zwei Monate ins Gefängnis. Nach dem Militärputsch 1976 musste er wegen seines 1972 publizierten Buches Patagonia Rebelde (Aufständisches Patagonien) ins deutsche Exil fliehen.
Bis heute sind die Sieger der Vernichtungskriege gegen die indigene Bevölkerung weiter in der Geografie des Landes präsent – in unzähligen Straßenamen und historischen Denkmälern. Rocas Statue oder die nach ihm benannten Straßen und Plätze, sind in jeder argentinischen Stadt mehrfach zu finden. Eine kritische Einordnung seiner Person von offizieller Seite sucht man hingegen vergeblich.
Osvaldo Bayer weist darauf hin, dass es in der Hauptstadt keine Straße gibt, die an die Indigenen des Landes erinnert, hingegen viele, die Eroberern Ehre erweisen. Für ihn ist all das Teil eines großen Geschichtsrevisionismus, der dazu dient, die Schattenseiten des Nationalisierungsprozesses Argentiniens zu verschleiern. Gemeinsam mit Indigenenverbänden hat er Initiativen zur Umbenennung der Straßen und Plätze ins Leben gerufen. Roca-Statuen werden von kritischen AkteurInnen immer wieder mit Graffitis und Sprüchen in roter Farbe versehen, die eine andere Geschichtsschreibung im Stadtbild sichtbar machen sollen.
Im August 2008 wurde im Nationalkongress ein Thema verhandelt, das Bayer schon seit Jahren beschäftigt: das Portrait Julio Rocas, das den 100-Peso-Schein ziert, durch das Bild der Unabhängigkeitskämpferin Juana Azurduy zu ersetzen. Es sei nicht gut, auf dieser wichtigen Banknote „einen Mann abzubilden, der tausende Indigene ermordet hat, um ihnen Patagonien zu rauben” so die Abgeordnete Cecilia Merchán, die den Vorschlag einbrachte. Der Vorschlag wurde als Polemik diskreditiert und abgelehnt.
Bayer wird indessen von jungen ArgentinierInnen als Landesverräter beschimpft. Für eine/n Teilnehmer/in eines historischen Diskussionsblogs mit dem Nickname „M Paris” waren Feldzüge gegen die Indigenen in der Geschichte Argentiniens beispielsweise eine historische Notwendigkeit. M Paris bedankt sich inständig bei „all den Männern und Frauen, die so viel für ihr Vaterland opferten“. So sehen viele Nachkommen der EinwanderInnen ihre Vergangenheit: Als Errungenschaft ihrer Vorfahren.


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