El Salvador | Nummer 234 - Dezember 1993

Kommerzialisierung ohne Ausverkauf?

Ehemalige Guerilla-Radios setzen deutliche Zeichen

Reimar Paul

Die Maler sind da. Das ganze Erdgeschoß des Hauses im Stadtteil San Miguelito riecht nach Farbe. Tische, Stühle, das muffige Sofa, Computer und sonstiges Bürozubehör sind in der Mitte des größten Raumes zusammengestellt und notdürftig mit einer Plane abgedeckt worden. Die frisch geweißten Wände reflektieren das grelle Licht der Neonröhre, die Decke bekommt gerade ihren ersten Anstrich: Runderneuerung bei `Radio Farabundo Martí’.
Oscar Pérez, der neue Direktor, wirkt etwas nervös. Natürlich, auch der äußerliche Eindruck des Gebäudes sei wichtig, für das Personal wie für die Besucher. Doch allzu lange, sagt er, sollten die Handwerker möglichst nicht bleiben. Die anderen Tätigkeiten würden blockiert, zu tun gebe es schließlich mehr als genug. Nur zwei Wochen fehlen noch bis zum 12. November, “dann soll unser neues Programm starten”. Bis dahin jagen sich jede Menge Konferenzen und Treffen. Und der laufende Radio-Betrieb müsse schließlich auch weitergehen.
Plötzlich kommt Camilo aus der Sprecherkabine gestürzt. Wo der Beitrag mit der Stellungnahme von Shafik Handal bleibe, brüllt er nach oben zur Nachrichtenredaktion hinauf. “Der kommt live als Telefonbericht”, schreit jemand zurück. Am Vortag ist der ehemalige FMLN-Comandante Francisco Velis von Unbekannten auf offener Straße erschossen worden. Heute hat sich die Comisión Política, das höchste Gremium der früheren Guerilla, zu einer Krisensitzung getroffen. Es ist zehn nach zwölf, das mittägliche Nachrichtenmagazin “Frente al Momento” läuft längst. Der Mord ist das zentrale Thema, Staatspräsident Alfredo Cristiani hat sich ebenso zu Wort gemeldet wie die US-Botschaft und ein Sprecher von ONUSAL, der UN-Beobachtergruppe in El Salvador. “Wir hätten mit Shafik anfangen müssen”, brummt Camilo und rennt dann zurück in die Kabine, weil der Tontechniker mit dem roten Telefonhörer winkt.

Radikalreform zur Krisenbeseitigung

Radio Farabundo Martí ist im Umbruch. Gut ein Jahr nach seiner Legalisierung im Frühjahr 1992 war der Sender in eine Krise geschlittert. Als deren Ursache hat Oscar Pérez eine “Mischung aus schlechter Verwaltung, persönlichen Animositäten und Konzeptlosigkeit” ausgemacht. Der damaligen Leitung habe es an Vertrauen und Autorität bei der Belegschaft gemangelt, auch Geld sei weggekommen. Ein weiterer Grund, den Oscar allerdings nicht nennt: In den alle zwei Monate durchgeführten HörerInnenumfragen über die Beliebtheit der salvadorianischen Hörfunk-Stationen rangierte Radio Farabundo Martí stets auf den hintersten Plätzen der Skala. Nicht gerade eine Ermunterung für kleine und mittlere Unternehmen zum Schalten von Werbespots. Und auf kommerzielle Anzeigen ist das Radio angewiesen. Ende 1995 läuft ein umfangreiches Projekt der bundesdeutschen, den Grünen nahestehenden Stiftung Buntstift zum Auf- und Ausbau von Radio Farabundo Martí und Radio Venceremos aus – dann muß sich der Sender selbst finanzieren. Oder dichtmachen.
Ende Juni intervenierte die Polizei. Die Fuerzas Populares de Liberación (FPL), offiziell gar nicht mehr Besitzer des Radios, verordneten dem Sender eine Radikalreform von oben: Eine neue Leitung, klare Verhältnisse bei der Rechtsform und den Besitzverhältnissen – 40 Prozent der Aktien behalten die FPL, 40 Prozent gehen an NGO’s und politische Initiativen, die verbleibenden 20 Prozent hält die Belegschaft des Radios – sowie eine neue Programm-Struktur. Letztere beinhaltet im Kern eine Straffung und Abspeckung der Wortsendungen und ein deutlicheres Profil bei der Musikpräsentation. “Vorher”, sagt Oscar, “war es oft so, daß jeder seine eigenen Schallplatten mit zur Sendung gebracht hat.”

Eine neue Konzeption für ein neues Publikum

Künftig sollen verstärkt eigene Beiträge zu Themen wie Frauenbenachteiligung, Kinderprostitution und Ökologie produziert werden. Mitverantwortlich für die Konzeption dieser neuen Sendungen und damit die Entwicklung erster Ansätze eines investigativen Journalismus im Land ist die Mexikanerin María. Sie stieß 1986 zur salvadorianischen Guerilla und zum Radio, das damals aus den Bergen von Chalatenango sendete. “Der Wechsel, den wir seit dem Umzug in die Hauptstadt erleben, ist gewaltig.” Habe Radio Farabundo Martí früher – unter extremen äußeren Bedingungen – mit seinem Agitations- und Propagandaprogramm eine klar definierte HörerInnenschaft bedient, die Basis und SympathisantInnen der FPL in Chalatenango nämlich, gelte es nun, auch andere Schichten und Gruppen der Bevölkerung anzusprechen. Die dafür notwendigen Kompromisse, findet María, seien bisweilen schmerzhaft: “Viele Campesinos in Chalatenango können mit Jazz- und Rockmusik eben nichts anfangen, aber wir können und wollen nicht den ganzen Tag Rancheros abspielen.” Für die Landbevölkerung ist vor kurzem ein eigenes Programm entwickelt worden, das um vier Uhr morgens startet und zwei Stunden dauert.

Wider das Vergessen der Geschichte

Trotz aller Veränderungen will das Radio seine Geschichte und Herkunft nicht verleugnen. Daniel und Juán haben den Auftrag, das historische Archiv von Radio Farabundo Martí zu retten, zu katalogisieren und Vorschläge für seine mögliche Integration ins aktuelle Programm auszuarbeiten. Mehrere hundert alte Kassetten, die Live-Reportagen von Gefechten oder Interviews mit längst gefallenen Comandantes enthalten, sind bereits von Chalatenango nach San Salvador geschafft worden. Vor drei Monaten, berichtet Juán, sei ein alter Mann aus Arcatao nahe der Grenze zu Honduras in die Stadt gekommen, mit einer Plastiktüte voller verdreckter Bänder, die er auf einem Acker gefunden habe. Wieviele Kassetten noch in irgendwelchen Erdlöchern in den Bergen vermodern, weiß Juan nicht. Das Gros des alten Ton-Archivs jedenfalls lagert noch in Managua, wohin es während des Krieges aus Sicherheitsgründen gebracht worden war. Noch in diesem Jahr soll der Rücktransport nach El Salvador klargemacht werden.
Damit die Erinnerungen an die früheren, harten Zeiten des Radio-Machens nicht verloren gehen, hat María auch die Veröffentlichung eines Buches über die Geschichte von “Radio Farabundo Martí” angeregt. Sie selbst hat für ein Seminar an der Uni bereits ein Referat dazu verfaßt. “Das ist so etwas wie ein Rahmen, der mit Interviews und Dokumenten gefüllt werden müßte.” Noch leben viele der alten Radio-Gründer und Gründerinnen, die gesprochene und geschriebene Beiträge zur Geschichte von Radio Farabundo Martí liefern könnten.

Radio Venceremos hat schneller mit der Vergangenheit gebrochen

Die Geschichte von Radio Venceremos ist dagegen schon geschrieben. Zwei Bücher sind seit dem letzten Jahr erschienen. Sowohl die “Tausend und eine Geschichten von Radio Venceremos”, die der spanische Medienwissenschaftler Ignacio López Vigil gesammelt hat, als auch das Tagebuch des legendären Radio-Sprechers Santiago – Titel: “Die Sturheit des Izote” – sind gleichermaßen spannend wie unterhaltsam. Beide Bände beschäftigen sich allerdings vorwiegend mit den ersten Kriegs- und Sendejahren in den Bergen von Morazán und klammern die Zeit nach 1986 aus, als Radio Venceremos unter dem Druck der militärischen Verhältnisse vorübergehend nach Nicaragua ausweichen mußte.
Heute residiert Radio Venceremos in der Nähe der Nationaluniversität. Hier haben die meisten Einrichtungen, Stiftungen und NGO’s des “Erneuerten Ausdrucks des Volkes” – so der neue Name der ERP; früher: “Revolutionäres Volksheer” – ihre Büros. In der Sprecherkabine des Senders blinkt und blitzt modernste Technik – CD-Player, Kassettendecks, mehrspurige Bandmaschinen, ein nagelneues Mischpult. Ähnliches Equipment steht auch im Produktionsstudio bereit.
Für Santiago ist es “ein Wunder, wie das alles in weniger als zwei Jahren entstanden ist”. Wenige Tage nach Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens im Januar 1992 war er mit 200 Dollars in der Tasche von Perquín in Morazán nach San Salvador gereist, um die Möglichkeiten für den Umzug des Radios zu sondieren. “Es gab damals nichts”, erinnert er sich. “Kein Haus, keine Sendeanlagen und keine Ausrüstung. Ich wußte nicht einmal, wo ich übernachten sollte.”
Inzwischen ist Radio Venceremos nicht nur gut installiert. Auch der Bruch mit der Vergangenheit ist radikaler und krasser vollzogen worden als bei der nie geliebten Konkurrenz vom Farabundo Martí. Durchaus als Spiegelbild der neuen ERP-Politik, mit einer moderaten Programmatik weite Teile der Gesellschaft anzusprechen, orientiert sich auch das Radio auf neue Mehrheiten. “Wir wollen alle Salvadorianer mit unserem Programm erreichen”, sagt der Geschäftsführer Carlos Latino. “Sociedad Civil”, Zivilgesellschaft, so heißt das neue Zauberwort.
Der Umwandlungsprozeß verlief zunächst brutal. Ein nach dem Umzug in die Hauptstadt zunächst aufrechterhaltenes Regionalstudio in Perquín, in dem ein Teil der alten Radio-Belegschaft zwei Stunden täglich ein Programm für die historische Klientel zusammenbastelten, wurde gegen den Protest der dort Beschäftigten dichtgemacht. Und auch in der Zentrale gab es Krach. Zwei rebellierende Frauen, die den abrupten Wechsel in Frage stellten, flogen fristlos aus dem Betrieb, drei weitere MitarbeiterInnen kündigten von sich aus.

Nachrichten haben Vorrang

Inzwischen ist wieder Frieden eingekehrt. Er wird von einem fünfköpfigem Leitungsgremium überwacht, in dem ausschließlich “historische” Mitglieder des damaligen Radio-Kollektivs Sitz und Stimme haben. Die journalistische Arbeit erledigen vor allem neue, junge Leute, die aus den Publizistik-Seminaren der beiden großen Universitäten rekrutiert worden sind. Und sie erledigen diese Arbeit gut. Das Nachrichtenmagazin “Punto y Seguido” und auch die allmorgendliche “Conección Directa”, in der es jeweils zwei Stunden und unter reger HörerInnenbeteiligung um aktuelle soziale und politische Themen geht, sind professionell gemacht und gehören zum Besten, was salvadorianische Hörfunksender derzeit in ihren Wortprogrammen bieten.
“Die Nachrichten haben absoluten Vorrang”, sagt auch Carlos, der sich als Geschäftsführer ansonsten vor allem um das wirtschaftliche Wohlergehen des Radios kümmert. Tatsächlich wird aus aktuellem Anlaß, wie etwa der Ermordung der ehemaligen FMLN-Comandantes Eleno Castro und Francisco Velis Ende Oktober, das laufende Programm zu jeder Tages- und Nachtzeit mit aktuellen Reportagen und Hintergrundberichten unterbrochen. Bei der Auswahl und Präsentation der Nachrichten gebe es auch “keine Kompromisse mit eventuellen Anzeigenkunden”, betont Carlos. Mit einer Ausnahme: seinen täglichen Kommentar hat Radio Venceremos vor kurzem eingestellt.
Stattdessen hat sich der Sender durch kontroverse Streitgespräche mit politischen GegnerInnen aus dem Regierungslager wie auch ehemaligen Guerilla-Oberen einen Namen gemacht. Der Journalist Walter Raudales provozierte durch seine Interviews mit hochrangigen FMLN-Comandantes mehrfach helle Aufregung in den Führungszirkeln der Organisation. Auch mit Diskussionssendungen über gesellschaftliche Tabu-Themen wie Homosexualität oder Geschlechtsverkehr ist Radio Venceremos schon kräftig angeeckt – nicht zuletzt bei seiner historischen Klientel.

Gratwanderung zwischen Kommerz und Verkauf

Für die Zukunft hat das Radio große Pläne. Unter die ersten fünf, wenn nicht unter die ersten drei Sendeanstalten im Land wolle man aufrücken, nennt Carlos das Ziel. Sendeanstalten mit Vollprogramm, “denn nur populäre Musik spielen will hier keiner, obwohl damit die meisten HörerInnen zu gewinnen wären.” Mit dem Anstieg der HörerInnenzahlen erhofft sich Radio Venceremos auch finanzielle Verbesserungen, denn trotz langsam steigender Werbeeinnahmen hängt der Sender noch am Tropf der Buntstift-Überweisungen: “Wenn wir noch weiter nach oben klettern, dann kommen auch die zahlungskräftigen Unternehmen nicht mehr darum herum, bei uns zu werben.”
Daß es zwischen der Notwendigkeit, sich mittelfristig selbst finanzieren zu müssen – und das ist, wenn keine zahlungskräftige Organisation oder Institution im Hintergrund agiert, eben ausschließlich über Werbeeinnahmen möglich – und der Gefahr, dabei entscheidende programmatische Abstriche machen zu müssen, nur einen relativ schmalen Weg gibt, wissen die MacherInnen von Radio Venceremos. “Wir müssen uns kommerzialisieren”, sagt Carlos Argueta vom Leitungsgremium, “aber wir dürfen uns dabei nicht verkaufen.”

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