Ecuador | Nummer 249 - März 1995

“Kopfjäger” in kopflosen Zeiten

Das Volk der Shuar im ecuatorianisch-peruanischen Grenzgebiet

Die Shuar leben im undurchdringlichen, kaum erschlossenen Amazonastiefland, im ecuatorianisch-peruanischen Grenzgebiet und befinden sich nicht nur geographisch am Rand der ecuatorianischen Gesellschaft. Durch den Krieg mit Peru um die Sierra del Condor gerieten sie von einem Tag auf den anderen ins nationale Rampenlicht. Mit dem Eintritt der Shuar in den Krieg auf der Seite des ecuatorianischen Militärs schien eine Niederlage und erneute Beschneidung des eigenen Territoriums zunächst abge­wandt. Der Mythos vom unerbittlichen Krieger, an dessen Gurt die Schrumpfköpfe be­zwungener Feinde baumeln, des geschickten Fallenstellers und seiner polygamen Le­bensform hat in Quito Hochkonjunktur.

Elisabeth Schumann

“Ecuador, das sind wir alle.” Solche und ähnliche Parolen ließen während der Auseinandersetzungen im ecuatorianisch-peruanischen Grenzgebiet an der Sierra del Condor für kurze Zeit alle sozialen und vor allem rassistische Vorurteile ver­gessen. Der multi-ethnische Staat sorgte wie nie zuvor für Diskussionsstoff in der ecuatorianischen Öffentlichkeit. Im Zen­trum des neu erwachten Nationalbewußt­seins als Inkarnation des Widerstands ste­hen die Shuar. Zwar zahlenmäßig und waffentechnisch weit unterlegen, aber durch Geschick und zähes Beharren in der Lage, dem großen Nachbarn Paroli zu bieten. Kurz: eine Wohltat für das zerrüt­tete ecuatorianische Nationalbewußtsein und Anlaß zur Wiederbelebung eines Mythos’ mit Tradition.
Die Shuar gehören wie auch die Achuar und die auf peruanischer Seite lebenden Awajun (oder Aguaruna) und die Wampis zu der Sprachfamilie der Jivaros. Sie le­ben im Südosten des Oriente, der ecuato­rianischen Amazonasregion zwischen dem Rio Pastaza und der Andenkordillere. Trotz jahrhunderterlanger hartnäckiger “Zivilisierungsbemühungen” halten die Shuar heute noch immer an ihren ur­sprünglichen Traditionen fest. Durch das Protokoll von Rio de Janeiro wurden sie 1942 in zwei Teile gespalten.
Im nationalen Bewußtsein Ecuadors sind die Shuar eine Art Legende, die zwi­schen Bewunderung und Abscheu pendelt und die nicht zuletzt durch den Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Roman “Cumandá” des erklärten Natio­nal­schriftstellers Juan León Mera am Le­ben gehalten wird. In dieser Pflichtlektüre für alle Schulkinder werden die Jivaros als unerbittliche und grausame Krieger darge­stellt, für die nur Rache und Ehre von Be­deutung sind. Der weise aber letztendlich “wilde” und ungläubige Häuptling Ya­huarmaqui (zu deutsch: Bluthand) soll mit der schönen und erstaunlich zivili­sierten Cumandá verheiratet werden. Sie ist die Tochter des Kaziken eines verfein­deten Stammes und wäre somit ein Frie­denspfand. Cumandá möchte aber viel lie­ber den streng gläubigen und verträumten Carlos heiraten, den Sohn des katholi­schen Missionars. Die Sympathien werden also klar vorgegeben, und nach einer lan­gen Odyssee durch den Oriente und vieler Dialoge zwischen Herzschmerz und Tra­gik wird deutlich, daß die Weißen die Guten sind und die “Wilden” die Bösen.
“Shuar” bedeutet “Menschen”
Die 1964 ins Leben gerufene Interes­senvertretung der Shuar ist der CONAIE, der Konföderation der indige­nen Nationa­litäten Ecuadors, ange­schlos­sen. Sie ging offensiv gegen die Bezeich­nung “Jivaro” an, die im ecua­to­rianischen Sprach­gebrauch eine ein­deu­tig abwer­tende Kon­notation hat. Sie selbst be­zeich­nen sich als “Shuar”, was in ihrer Spra­che “Menschen” bedeutet.
Die CONAIE schätzt die Zahl der Shuar auf etwa 40.000 und die der Achuar auf rund 2400. Sie fordert seit Jahren, die Region um die Sierra del Condor einer Selbstver­waltung der Shuar zu unter­stel­len und zu entmilitarisieren.
Seit den 40er Jahren verfolgt die Regie­rung eine aggressive Kolonisierungspoli­tik im Gebiet entlang des Rio Zamora. Sie vergibt Kredite und verkauft abschnitt­weise Land für die Viehzucht, ohne sich um Gewohnheiten und Ansprüche der dort le­benden Shuar zu kümmern. Zwar wer­den in dieser Region reiche Gold- und Öl­vorkommen vermutet, aber in erster Linie soll eine Infrastruktur für Siedler und Mi­li­tärposten geschaffen werden.
Die Shuar leben traditionell in einem erweiterten Familienverband, in dem die Ehe­frauen meist Schwestern sind. Sie zo­gen in einem etwa 10-jährigen Zyklus zu verschiedenen Gebieten im Regenwald, wo sie sich für einige Zeit niederließen, ohne anderen Familienverbänden ins Ge­hege zu kommen. Durch diese ursprüng­lich nomadische Lebensform hatten die Shuar der gezielten Invasion seitens der Re­gierung nichts entgegenzusetzen und lange Zeit auch auf gesetzlicher Ebene nicht die geringste Möglichkeit, ihre ter­ritorialen Ansprüche geltend zu machen.
Die sagenumwobenen Schrumpfköpfe werden heute nur noch aus bestimmten Affenschädeln hergestellt, die kultische Bedeutung der Tsantsa, wie das Ritual der Herstellung der Köpfe genannt wird, ist je­doch nach wie vor sehr groß. Als exo­tisch-makabere Mitbringsel grinsen Schrumpf­kopfimitate in Quito von den Regalen jedes zweiten Souvenirladens.
Mittlerweile nimmt die Viehzucht ne­ben der traditionellen Jagd und dem Fisch­fang bei den Shuar eine wichtige Rolle ein. Viele von ihnen leben heute in Sied­lungen und kooperieren mit den dortigen SiedlerInnen vor allem bei der Goldsuche. Die vermuteten Goldvorkommen werden bislang ausschließlich von ecuatoriani­scher Seite erschlossen, allerdings nur in sehr geringem Maße.
Im Brennpunkt
Der inzwischen wieder aufgeflammte Konflikt um die Sierra del Condor zwi­schen Ecuador und Peru hat die Shuar und die BewohnerInnen der vereinzelten Siedlungen zwar schlagartig in die Mitte des nationalen Interesses katapultiert, aber Solidaritätsbekundungen aus der weit ent­fernten Hauptstadt nützen wenig, wenn die eigene Haut und eventuell auch noch ein wenig Hab’ und Gut in Sicherheit ge­bracht werden sollen. Die meisten Frauen und Kinder flüchteten aus dem Kriegsge­biet in größere Dörfer am Rande der Kor­dillere. Die nicht an den Scharmützel be­teiligten Shuar zogen sich tiefer in den Regenwald zurück. Langsam kehren die BewohnerInnen. Sie sind die eigentlichen Leidtra­genden dieses Krieges. Die Interessenver­tretung der Shuar wandte sich mittels der CONAIE mit einem Pro­testschreiben und gleichzeitigem Spen­denaufruf an die Weltöffentlichkeit, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Einige der ecuatorianischen Shuar mel­deten sich freiwillig zur Unterstützung des Militärs. Ihre genaue Kenntnis der Region war von entscheidendem Vorteil für die EcuatorianerInnen gegenüber dem schwe­ren, aber in diesem Gelände unbrauch­barem Militärgerät der Peruaner. Der As­similierungsprozeß scheint Früchte zu tra­gen, stolz verkündete ein Shuar, bis ans Ende für sein Vaterland zu kämpfen. Zu den jenseits der Grenze lebenden peruani­schen Shuar besteht nur noch wenig Kon­takt. Hin und wieder mal ein Besuch, aber die politische Narbe hat auch in den Köp­fen des früher zusammengehörigen Volks eine Bresche geschlagen. Die weitver­breitete Ansicht, die peruanischen Shuar seien zwangsrekrutiert worden und dien­ten nur als Kanonenfutter, paßt in das von der ecuatorianischen Presse verbrei­tete Feindbild.
Die ecuatorianische Bevölkerung beju­belte die Unterstützung durch die Shuar als Wendepunkt und neue Hoffnung. Die Presse berichtete vom Stützpunkt D561 am Rio Santiago, in dem sich neben Sol­daten von der Küste, dem Hochland und der hauptsächlich von Farbigen bewohn­ten nördlichen Provinz Esmeraldas nun auch Shuar in ecuatorianischer Uniform tummelten, um in Eintracht und voller Begeisterung dem Feind standzuhalten.
Remigio Cayap, ein 19-jähriger Shuar, wird in seinem – gebrochenem – Spanisch zitiert: “Ich bin in einem Gefecht noch nie zurückgewichen, ich gehe nur vorwärts. Ich kenne den Krieg, und werde an der Seite meiner Brüder kämpfen.”
In der zweiten Woche nach offiziellem Ausbruch des Krieges durch den Abschuß eines peruanischen Hubschraubers, be­suchte die Präsidentengattin Josefina die abgelegenen Stützpunkte, um den Solda­ten Mut zuzusprechen und um die in allen Regionen des Landes als Solidaritätsbe­kundungen gesammelten Medikamente, Le­bens­mittel und Decken zu verteilen. Das Fernsehen übertrug Bilder von verlas­senen Dörfern, von armseligen Behausun­gen und spartanisch eingerichteten Klas­senzimmern, woraufhin die Regierung Verbesserungen der sanitären Einrichtun­gen, Krankenhäuser sowie Gelder für Schulen und bessere Straßen versprach. Doch jetzt, nachdem die Inszenierung ei­ner nationalen Bedrohung durch die am 17. Februar in Brasilia unterzeichnete Friedenserklärung, in der die Schaffung einer entmilitarisierten Zone vorgesehen ist, erst einmal von der Tagesordnung zu sein scheint, und Quito in seine Normali­tät zwischen Parteiintrigen und Korruption zurückkehrt, sind auch die akuten Gründe für bessere Infrastruktur in der Amazonas­region erst einmal wieder vom Tisch.
Elisabeth Schumann

“Digo que estoy “integrado”
porque en este momento
no estoy hablando en lengua shuar,
mi lengua,
sino en la de ustedes que es
el castellano.
los pueblos indios estan integrados
por medio de la lengua.
Nos preguntamos
ソCuando se integran los
hispanohablantes
a la realidad nacional,
hablando nuestras lenguas?”

Ampam Karakras, Shuar, 1984

Ich sage, daß ich “integriert”bin,
weil ich jetzt gerade
nicht in der Sprache der Shuar spreche,
meine Sprache,
sondern in Eurer Sprache,
dem Spanischen.
Die indianischen Völker sind integriert
durch die Sprache.
Wir fragen uns,
wann werden die Spanischsprachigen
sich integrieren
in die nationale Realität,
in dem sie unsere Sprachen sprechen.

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