Guyana | Nummer 392 - Februar 2007

Krallen zeigen oder auswandern

Viele BewohnerInnen Guyanas suchen immer wieder Wege aus der Armut in den Norden

Fast ein Drittel aller GuyanerInnen lebt im Ausland. Das sind diejenigen, die es geschafft haben. Viele jedoch werden abgeschoben und erleben bei der Rückkehr in die Heimat einen drastischen sozialen Abstieg. Eine Begegnung.

Ingolf Bruckner

In der Pfanne brutzelt die Leber. Es ist kurz nach Mitternacht. Draußen vor dem Schuppen und dem Stelzenhaus, im blauen Garten, steigen Leuchtkäfer auf. Überall raschelt und wispert es – das sind die Ratten, die Ochsenfrösche, die Geister der Toten, die aus ihren Sumpfverstecken heraus kriechen.
Saymore Ramrattan steckt sich eine in Zeitungsschnipsel gedrehte Zigarette an, atmet tief: Es war gar nicht einfach, das große gefrorene Stück Leber durchzuhacken. Es ging nicht mit dem Messer, es ging auch nicht mit dem Hammer – sondern erst mit der achtzehn Zoll langen Machete, die der 32-jährige Guyaner unter seiner Matratze gegen Einbrecher aufbewahrt.
Wir befinden uns zwei Meter unter dem Meeresspiegel: im Zentrum von Georgetown, der Hauptstadt des südamerikanischen Staates Guyana, nahe der Mündung des milchkaffeebraunen Demerara-Flusses in dem milchkaffeebraunen Atlantischen Ozean. Wo heute schiefgewitterte Wracks ehemals schneeweißer viktorianischer Edelholzhäuser aus dem Schwemmland ragen, strich der Passat vor zweihundert Jahren noch über schier endlose Zuckerrohrfelder, auf denen afrikanische SklavInnen erst für HolländerInnen, dann für EngländerInnen rackerten.

Koloniale Geister

Die holländischen KolonialistInnen galten als besonders grausam. Darum verwundert es wenig zu hören, dass manche von ihnen an den von knorrigen Saman-Bäumen gesäumten, dickflüssigen Kanälen, die einst Teil des ausgeklügelten Entwässerungssystems bildeten, oder in den Obst- und Gemüsegärten der StädterInnen, noch immer ihren Spuk treiben: „Meiner ist lang und dünn; er kommt im Hinterhof zwischen den Kokospalmen und Feigenbananen hervor und geht ruhelos auf und ab. Er trägt einen Zylinder, aber das Schockierendste kommt jetzt: Sein Gesicht ist weiß wie Kreide!“, erzählt Rasa Singh. Irgendwann reichte es ihr. Sie ging zum Obeahman, dem Geisterbeschwörer und folgte seinem Rat: Jährlich sprenkelte sie den Inhalt einer Flasche El Dorado-Rum an die vier Pfosten ihres Hauses und verbrannte einige Zigarren. Der Geist verschwand.
Mittlerweile ist auch Rasa Singh weg – bei ihrer Tochter, in New York. Und alles, was die ältere, in Kochkünsten sehr bewanderte Dame ihrem Hausmeister Saymore zurückgelassen hat, ist neben einem Fass Reis der Klumpen gefrorene Leber, der ihn nun schon eine Woche ernährt. Frau Singh ist bei weitem nicht die einzige Guyanerin, die emigriert ist. Mindestens 300.000 ihrer Landsleute leben in den USA, in Kanada, Großbritannien oder in der Karibik. Nur 750.000 sind in ihrer Heimat verblieben – viele, weil sie keine andere Wahl haben. Denn die Konsulate der potenziellen Einwanderungsländer tun sich selbst bei der Vergabe von Touristenvisa sehr schwer. Das schreckt die GuyanerInnen nicht: Sie finden immer neue Schleichwege, die aus dem Elend nach Norden in die Wohlstandsgesellschaft führen.
Und dann gibt es die, die es schon mal geschafft hatten. Georgetown ist voll von ihnen: den Abgeschobenen. Man trifft sie an jeder Ecke, und man sieht ihnen die Bitterkeit von weitem an. Da ist der Ingenieur in abgerissenen Kleidern mit kalifornischer Fahrerlaubnis, der ziellos auf dem Deich umherläuft und Hindus wie Muslime zu Jesus führen möchte. Da ist der schweigsame einstige Chicagoer Krankenhausmanager, der nur noch selten seine verrottende Holzbude verlässt – um die monatliche Geldsendung seiner Verwandten abzuholen. Und da ist Saymore.
Saymore hat schon ein Leben hinter sich, und was heute von ihm übrig ist, erscheint manchmal wie das Leben eines Phantoms. Er wohnt in einem verwinkelten Schuppen an der Seite des Mietshauses, das nach wie vor der Geschäftsfrau Rasa Singh gehört, die mittlerweile eine Kammer in der Bronx bezogen hat und bei reichen US-AmerikanerInnen die Fußböden wischt – gegen vergleichbar gute Bezahlung. Frau Singh war es, die Saymore vor der Obdachlosigkeit bewahrte.

Früher in Miami

„Ich weiß nicht, wie man Leber zubereitet“, sagt er, „ich weiß überhaupt nicht, wie man kocht.“ Aber es zeigt sich: Wer Hunger hat, lernt schnell. Die Leber schmeckt jedenfalls. Und weil Mitternacht vorüber ist, zeigt Saymore Fotos von früher und erzählt aus Miami, Florida, wo seine Mutter wohnt, wo er drei niedliche Kinder hat und früher einen Chevrolet Century besaß – nebst einem guten Job in einer Autowerkstatt, einer hübschen Frau, einigen lässigen Sommeranzügen, Sonnenbrillen und dickem Goldschmuck. „Die Diskos in Miami waren edel“, erinnert sich Saymore mit glänzenden Augen, „nur einmal sprang eine Kugel von der Wand ab und erwischte mich am Ohr.“ Er zeigt mir die Narbe. „Die Latin Kings wollten, dass ich bei ihnen mitmache, die Latin Scorpions wollten, dass ich bei ihnen mitmache, aber weißt du, diese Bandengeschichten waren nie mein Ding.“
Warum Saymore vor vier Jahren abgeschoben wurde, darüber will er nicht reden. Zurück in Guyana verdiente er in einer Sicherheitsfirma als Wachmann hundert Dollar im Monat – soviel, wie er in Miami in einer einzigen Diskonacht auszugeben pflegte. „Wachschutz ist die einzige Branche, die hier boomt“, meint er resigniert, „wegen der hohen Kriminalität“. Nach einem Streit kündigte man ihm. Rasa Singh nahm ihn auf, damit er nach dem Rechten in ihrem Mietshaus sähe. So bleibt Saymore viel Zeit zum Träumen und zum Planen.
Einen Strich durch den letzten seiner Pläne machte ihm niemand anderes als Katrina. Saymores Mutter hatte schon alles vorbereitet: Sie hatte ihm Geld geschickt und ein Flugticket via Barbados nach Jamaica. Doch als er in Barbados zwischenlandete, ging keine Maschine mehr raus: Hurrikanwarnung! Nach zwei Tagen erst gelangte er nach Kingston. Von hier sollte ein Boot gehen – „backtrack, hinten rum“ – in die USA, das gelobte Land. Aber das Boot konnte nicht fahren, wegen Katrina. Der Sturm ließ sich so lange Zeit, bis Saymore all sein Geld aufgezehrt hatte und gezwungen war, den ungeliebten Rückflug anzutreten – wieder nach Guyana.

„Wer kein Geld hat muss cool sein“

Wieder nach Guyana – in jenes wirtschaftlich wenig entwickelte, äußerst spärlich besiedelte Dschungelgebiet von der Größe der Insel Großbritannien. Zurück in den Staat, der seit Überwindung der englischen Kolonialzeit um seine nationale Identität ringt und in den achtziger Jahren unter dem Autokraten Forbes Burnham international völlig isoliert in tiefer Armut versank. Nach Guyana, mit seinen alltäglichen Spannungen zwischen den beiden großen Volksgruppen: den Afro-GuyanerInnen, NachfahrInnen ehemaliger SklavInnen, und den Indo-GuyanerInnen, deren AhnInnen von den BritInnen nach der SklavInnenbefreiung als KontraktarbeiterInnen aus Indien geholt worden waren, um Plantagenarbeit zu verrichten.
In Georgetown herrscht ein rauher Ton. „Nur die Ratten sind fett bei uns. Wer kein Geld hat, muss wenigstens cool sein. Ja, cool sein ist alles“, meint Taxifahrer Ray Shakespeare, „wer nicht cool ist, überlebt nicht lange. Das Geschäft ist hart, die Jungs, die die Geschäfte machen, sind hart. Wer nicht ab und zu seine Krallen zeigt, wandert besser aus.“
Doch wer nur Schatten sieht im sonst so sonnigen, tropischen Guyana, das letztes Jahr seinen 40. Unabhängigkeitstag feierte, der tut dem Land unrecht. Hier lagern reiche Schätze: Erdöl, Bauxit, Gold, Diamanten, Edelholzreserven, Wasserkraft. Trotz hoher Arbeitslosigkeit, fortwährender Rückschläge und zeitweilig bürgerkriegsähnlicher Zustände hat sich in den letzten zehn Jahren die Situation deutlich gebessert und der grundlegend positive Trend hält an: Es wird investiert und gebaut, wenn auch mit Geld aus Übersee. Schon nennen manche das Land „Klein-Amerika“. Wo Mitte der neunziger Jahre noch Pferdefuhrwerke dominierten, stehen heute Geländewagen, Taxis und Minibusse im Stau. Neue Wohngebiete werden aus dem Boden gestampft, ebenso wie ein großes Stadion für die anstehende Cricket-Weltmeisterschaft.
Jetzt ist das letzte Stück Leber dieser Nacht verzehrt, und Saymore ist zufrieden. Er rollt sich noch eine Zigarette, schlägt sich auf die Brust und ruft: „Me is de Baby, ich bin das Baby, das Große Baby!“ Mit Baby meint er soviel wie „Boss“. „Weißt du, was das Wichtigste ist im Leben? Dass du dich selbst liebst. Und ich liebe mich am meisten! Ich bin das Baby! Ich!“. Er schreit und freut sich; einer der Mieter im Stelzenhaus klopft gegen die Diele und schimpft über die Ruhestörung. Die Ratten im blauen Garten sind still.

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